Dänemark

Ich spüre den Rückweg, seit ich kein Meer mehr zwischen mir und dem Kontinent habe. Obwohl ich nach Norden fahre, gelingt es mir, mich im Zick-Zack-Kurs bis nach Deutschland zu denken. Die „ehemalige“ Heimat nimmt langsam Kontur an. Ein seltsames Gefühl, bin ich doch, wenn ich die deutsche Grenze bei Tölling erreiche, noch längst nicht daheim. In den Läden spreche ich die Menschen vermehrt auf Deutsch an. Seltsame Sache, dass man immer erst versucht, auf Englisch durchzukommen.

Wohlfühlradeln pur! Das Land ist wunderschön. Morgens nach Hadsund, nur vier Kilometer von meinem Wildzeltplatz, wird mir bewusst, wie reich diese ganze Tour ist. Ich singe eine Lobeshymne auf Dänemark und seine Radelwege, die zweispurig mit Mittelstreifen, wie eine Ministraße neben den Landstraßen führen. Fast immer gibt es solche Radwege, wenn die Straße auch nur andeutungsweise stärker befahren ist. Insgeheim meißele ich an einem Monument aus purem Granit für den imaginären dänischen Verkehrsminister Bjarne K. Well done, Brother.

Hum, Granit? Gibts hier nicht. Nur Sand. Ich baue ihm eine Sandburg. Am Morgen nach dem Abbau finde ich ihn überall auf den Packtaschen, dabei habe ich im Wald gezeltet. Die Zeltheringe kann man hierzulande mit dem Daumen reindrücken. Durch Kiefernwäldchen, kleine Dörfchen, Windräder am Horizont, irgendwo sogar für sechhundett Meter eine Steigung, die mich in den ersten Gang zwingt, ansonsten flaches Land zwischen den Wassern der Nord- und der Ostsee.

Alle Länder waren schön, aber Dänemark kommt dem Idyll des Wohlfühlradellandes am nächsten. Welcome to the Pleasuredome, schießt es mir in den Sinn auf einem alten Bahntrassenradweg, der Richtung Aalborg führt. Frankie goes to Hollywood, damals, Achtziger, Dunkf, Dunkf, Dunkf, stampft die Band ihren Superhit „Relax„.

Dass mir immer Lieder nachlaufen! Am Ende des Bahntrassenradwegs, hinter Baelum, habe ich mich doch glatt verirrt. Zu weit ins Landesinnere geraten, auf schnurgerader, topfebener Strecke durch ein ehemaliges Moor. Pechschwarze Erde. Psychoradeln.

1984, der Roman, kommt mir in den Sinn, den wir im Schulunterricht im Jahr 1984 lasen. Darin gibt es einen Satz, der ungefähr sagt, dass jeder Mensch vor irgendwas Angst hat, dass man jeden brechen kann. Lapidar, ich weiß, aber für mich sind große, weite Flächen der absolute Horror. Zudem die schnurgerade Straße, zwei Kilometer weit, rechts und links Grün, Wind zaust in den wenigen Bäumen, und verflixt, er drückt meine Geschwindigkeit unter fünfzehn Stundenkilometer. Ein „hier kommst du nie wieder raus“-Gefühl stellt sich ein. Mein uraltes Ebenenproblem, das ich schon seit der Durchquerung des Ebrodeltas kenne. Blick nach unten, Füße im ewigen Rund des Kettenblatts, Sonne wirft fahlen Schatten, gib mir ne Düne, nen Leuchtturm, ne Stadt, ach gib mir wenigstens einen Maulwurfshaufen, nur zwanzig Zentimeter hoch, einen Weidezaun, drei Bäume und ne Parkbank, mach das Gras weg, biege die Straße. Auf dem Jakobsweg gab es, jenseits der Meseta, auch so eine schnurgerade Straße, in die die Erbauer jedoch eine Schikane eingebaut hatten, damit man nicht mit hundertachtzig Sachen dahin rasen kann. Hier in Dänemark ist das nicht nötig. Zivilisiert und rücksichtsvoll fährt man. Endlich eine Abzweigung, Egerse nur noch neun Kilometer. Geradeaus. Ich begegne nach und nach je zwei Langstreckenradlern, die aber keine Anstalten machen, anzuhalten für ein Schwätzchen. Was erwartet einen bei solchen Gesprächen auch anderes, als das Woher, Wohin, Wetter könnte besser sein? Die „Guten“ werden einander finden, durch geheime Mechanismen, die das Universum vorsieht und von denen wir Menschen keine Ahung haben. Bestimmung.

Frau Himmelblås Café in Egense etwa. Instinktiv biege ich in den Kiesweg ein und nehme bei – ja, vermutlich heißt sie Bettina – Bettina in der Gartenlaube Platz. Vier ältere Leutchen am Tisch, ich bestelle Sandwich und Kaffee, liege in einem Ohrensessel, döse in der, durch die Sonne erwärmten Gartenlaube, lausche dem dänischen Schnack, entschleunige. Gegen Nichtvorankommen, hilft nur weiterfahren, habe ich einst gesagt. Gegen Nichtvorankommen auf weiter Ebene, die dein Hirn zermürbt, hilft nur, anzuhalten, den Geist zu massieren, die Welt mit anderen, flachländischen Augen zu erfassen, ein bisschen zu ruhen und dann weiter zu radeln.

Frau Himmelblå fühlt sich, nuja, ein bisschen esoterisch an, sehr symphatisch. Stille, untermalt von Softpoprockmusik, nur zwei Lieder eine ganze Stunde lang, die sich, weil die CD offenbar kaputt ist, gegenseitig unterbrechen und wiederholen, manchmal für zig Sekunden gar nicht dudeln. Oder ist das etwa Absicht? Niemand kümmerts. An der Wand hängen Bilder mit Sprüchen von Buddha: You are what you think. Somit kann man sich die Welt zurechtdenken, und sie wird schon gut werden. Wenn man sich Horror vorstellt, kriegt man Horror, wenn man sich Glückseligkeit erdenkt, erhält man auch Glückseligkeit. Ich denke über einen Lottogewinn nach und begreife, dass ich nach meinen Gedanken auch handeln muss, dass ich die Richtung einschlagen muss, in die sie mich führen, sprich, Lotto spielen.

Besser bleibste auf dem Teppich. Stell dir eine Fähre vor, vier Kilometer entfernt, die rüber führt nach Hals! Schwupp. Als ich auf den Fähranleger zusteuere, legt das Schiff gerade an. Ich laviere mich vorbei an einer Schlange von zehn zwanzig Autos, die nicht alle draufpassen werden auf das winzige Ding, quetsche mich irgendwo dazwischen, der schelmische Kassier winkt noch einen Motorradfahrer vorbei an den nicht drauf passenden Autos, dann schaukeln wir nach Norden.

Hals. Touristen. Deutsche. Fahrradmuseum und Touristeninformation geschlossen, Walrippenbogen, ein Stück Wirbelsäule vom Hval, wie es auf Dänisch heißt, als Skulpturen in Gärten.

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Dänemark ist das Land der gemähten Straßenränder und Wiesen. Ob der Däne einen Rasenmähtrieb hat? Ob es Gesetze gibt, dass man selbst außerorts an den unwahrscheinlichsten Stellen sauber gemähte Pfade, Wiesen, Lichtungen findet?

Teils auf Kiespisten drifte ich Richtung Asaa und baue vier Kilometer hinter der Stadt mein Zelt auf einem Picknickplatz auf. Fast zweihundert Kilometer Easy-Radling. Ob es so weiter geht?

Nachts habe ich Sorge, dass der Wind mein Zelt zerdrückt. Ich habe zwar einen gut geschützten Platz in einer Bucht aus Hecken, aber für Sturm bin ich nicht gerüstet. Starkregen. Vorsorglich alles wasserdicht verpacken nur für den Fall, dass ich ins Klohäuschen umsiedeln muss …

(sanft redigiert, mit Bild und Link bestückt und gepostet von Sofasophia)

Das Leben ist ein Ponyhof

Genug geweint! Stenungsund ist eine Chemiestadt. Mein schwedischer Campingnachbar erzählt, dass es gar nicht übel ist, auf Tollenäs, weil der Wind meist aus Südwest kommt, und man kriegt von dem Molloch, eine Firma, die mit dem Namen Nobel endet, überhaupt nichts mit. Ich muss an Mainz Mombach denken, den Geruch von verbranntem Kaffee, den die nahe Fabrik bei bestimmten Windverhältnissen in die 1990er Jahre-WGs wehte und meist wohnten wir unterm Dach in kleinen, überhitzten Kammern, schliefen bei offenem Fenster.

Es gibt Radwege in Schweden! Schon seit Stenungsund führt eine breite, fein geteerte Extratrasse an der E6 entlang. Und Schilder gibt es auch. Bei Jörlanda kommt man auf kaum befahrene Landstraßen. Plötzlich sind zig RadlerInnen auf dem Weg, so dass ich an einer Kreuzung, an der in Warnwesten gekleidete Frauen, eine Herde radelnder Kinder über die Straße leitet, anhalte und frage, ob etwas besonderes sei. Schulaus, sagt die Frau. Hum? Aber die anderen, die „Großen“? Keine Ahnung.

Kurze Zeit später überholt mich Helmar. Im nebeneinander Radeln erzählt er mir von der Global Biking Initiative (www.gbi-ev.org), die alljährlich unterwegs ist quer durch Europa und Geld sammelt für einen guten Zweck. Über hundert Radlerinnen und Radler nehmen daran teil. Jeder hat es sich zur Aufgabe gemacht, unterwegs 500 € zu sammeln. Das sind die Voraussetzungen, um an der organisierten Tour teilnehmen zu dürfen. Wie das Geld zusammen kommt, ist einem selbst überlassen.

Die diesjährige Tour führt von Oslo nach Düsseldorf. Helmar beschleunigt mein Vorankommen und vermutlich verlangsame ich seins. Er fährt ohne Gepäck. Die Strecke ist flach. So merke ich kaum, wie wir voran treiben, immer wieder andere aus dem GBI-Team treffen. Ich könne ja in Göteborg am Hafen vorbei schauen, sie haben auch ein Presseauto im Tross, das am Hafen wartet. Schon leuchtet die rote Studiolampe im Innern von Hobbymedienstar Irgendlink. Wir reden Radlergeschichten. Es läuft fast immer nach ähnlichen Prinzipien ab, so ein Radreisendengespräch: über die Wohers und Wohins hangelt ein jeder sich zur eigenen Radlerhistorie durch, und so bilden wir auf wenigen Kilometern skizzenhaft zwei halbe Menschenreiseleben ab, um irgendwann wieder Tschüss zu sagen. Bei uns Kunststraßenbauern ist es meist das nächste 10 km-Foto, das den zarten Strom der Begegnung unterbricht, und den nächsten, in diesem Fall Helmar, in die „Freiheit“ entlässt. Helmar macht noch ein Foto von mir, dann klinkt er sich seinen KollegInnen ein. Multiple Hallos sausen in Rennradgeschwindigkeit an mir vorbei.

Paar Kilometer später taucht unerwartet ein Stützpunkt auf: Pavillonzelt mit Verpflegung, Pressebus, Warnwesten, Rotes Kreuz, knapp fünfzig RadlerInnen schwätzen, lachen, gehen zum Pinkeln hinter die Bäume, eine kleine, feine internationale Familie. Beklommen stoppe ich und laufe Ulrich in die Arme. Er führt mich ein, gibt tiefgreifende Infos über das Projekt. Schon zum fünften Mal findet die Tour statt. TeilnehmerInnen von überall, Neuseeland sogar, Ägypten, Südafrika, um nur ein paar „Exoten“ zu nennen.

Die Sache ist gesponsert von verschiedenen Firmen, unter anderem dem Telekommunikationsanbieter mit dem halben Ying-Yang-Logo. Ulrich erzählt mir ein bisschen über die „Einzelschicksale“, so dass ich fasziniert zuhöre und mir wieder einmal klar wird, mit wie wenig Infos man Menschen skizzieren kann, so rein erzählerisch, oder liveliterarisch, sogar winzige Hinweise genügen heutzutage, um eine Person, deren Namen man vielleicht gar nicht kennt, im Internet ausfindig zu machen, die Spur weiter zu verfolgen, ein größeres Bild zu erlangen. Die rumänische Radlerin etwa spricht fließend alle romanischen Sprachen, Englisch und Deutsch. Fast alle im Team verstehen Deutsch. Wie schwierig es ist, internationale Gepflogenheiten zu berücksichtigen, etwa bei der Unterbringung muslimischer oder katholischer Frauen, die auf keinen Fall mit Männern zusammen in einem Zimmer schlafen dürfen.

Ulrich macht mir Lust auf Menschen. Lust, dazu zu gehören. Auch wenn die Radeltour mit etwa hundert Kilometer pro Tag leichten Wettkampf-Charakter hat, könnte ich mir vorstellen, da mal mitzufahren. Für jede Teilnahme gibt es einen Stern am Trikot. Ulrich hat schon fünf. Ein Effekt des gemeinsamen Radelns, stelle ich fest, ist, dass die Gruppe Tiefen auffängt und Höhen verstärkt. Im Sog der gemeinsamen Straße fällt weder der Verkehrslärm auf, noch spüre ich meine müden Oberschenkel.

Wie im Rausch treibe ich, nun wieder alleine, Richtung Göteborg. Bei einem 10er-Foto kommt mir ein Mann mit unendlich quietschender Kette entgegen, grüßt auf schwedisch, saust vorbei, „You need Oil“, rufe ich ihm nassforsch hinterher, und er kehrt um, bereit zu einem Schwätzchen. Sogar auf Deutsch. Auch hier ein Fetzen Menschenleben, schnell erzählt. Nach und nach beiße ich mich an einem Flickenteppich von Menschenleben fest, winzige Informationen, oft nur ein Blick, die Art, wie jemand Hallo sagt, genügen schon, für einen Pinselstrich in meinem Skizzenbuch der menschlichen Gesellschaft des frühen 21sten Jahrhunderts. Hach. Wenn ich auf tollkühn göttliche Weise die Punkte nur eines einzigen Tages miteinander verbinden würde, könnte ich eine Chronik der Menschheit schreiben, geifere ich in Kungälv, vorbei an einem Schloss, während mich vier Iren überholen, einen Hügel hinauf keuchen, dort warten an einer Bushaltestelle auf einen fünften und einen sechsten Iren und ich frage sie, woher kommt Ihr, near Dublin – aha – sie essen Bananen und der freundliche Ägypter flitzt vorbei, allesamt auf den Hafen Göteborg zudriftend, wo um 16 Uhr die Fähre nach Kiel fährt.

Mittlerweile blinkt Mili, mein Zwischenakku wieder und signalisiert, dass er während der Fahrt sich auflädt. Was mich zu dem einzig logischen Schluss bringt, das Ding hatte zu viel Wasser. Habe ich die Kilometer wenigstens nicht umsonst geradelt, schmunzele ich in mich hinein. Brave Mili, lädt wieder solange sich das Vorderrad mit dem Dynamo dreht.

Neben stark frequentierten Straßen, der E6 und anderen, durch nicht sehr reizvolle Landschaft nach Göteborg. Gewerbegebiet, Supermarkmonster, ein Elektromarkt, ein schwedisches Möbelhaus, die Frühschicht auf dem Heimweg radelt vor mir her, eine rothaarige Frau, noch in der Arbeitskleidung. Der Apfel, in dem wir leben, arbeiten, leiden und lieben drückt uns unweigerlich seinen Geschmack auf, seine Firmenkluft, Brandmarke der Dazugehörigkeit.

Im Elektromonstermarkt, der so groß ist, dass man den Campingplatz in Tollenäs darin unterbringen könnte, frage ich nach Kontaktspray für die Elektroden meines Pufferakkus, für die gesamte Fahrradelektronik. Aber sie haben keinen hausinternen Reparaturservice, verschicken die abgegebenen Geräte schwedenweit, somit keine Werkstatt und auch keinen Monteur/Monteurin, der oder die mir mit ein paar Tropfen die Leitfähigkeit verbessern könnte. Ich kaufe einen weiteren Zwischenakku und überlege, dass ich den längst gärenden Artikel zum Thema Mangel und Überfluss und deren pulsierend Wechselwirkung endlich mal schreiben sollte – seit ich Pfingsten total ausgehungert in Norwegens Fjorden keuchte, habe ich ungewöhnlich viel Lebensmittel dabei, sorge immer dafür, dass es mir auch ja an nichts mangelt und das Akkuproblem hat nun dazu geführt, dass ich einen zweiten besitze, den ich nicht unbedingt brauche, der mir aber die Angst, den Schmerz, die Tränen und das Gejammer nimmt, das ich erleide nur dadurch, dass es die letzten beiden Tage so eine Art Schmalhans-Küchenmeister-energetischen Privatkollaps gegeben hat.

Verstehs, wer will, aber ich vermute, so ticken wir Menschen: Mangel ruft Überfluss hervor und der Überfluss führt zu einer degenerativen Wegwerfmentalität, die uns letztlich wieder in die Krise und somit zurück zum Mangel führt.

Göteborg taufe ich um in SoSoborg. Die Stadt hat sich lange genug mit dem, naja, weit hergeholt, Namen eines deutschen Dichters geschmückt, soll sie nun den Namen einer Schweizer Schriftstellerin tragen. Ha. Die Stadt ist schön. Ich mache kurzes Programm, Fahrrad schiebend. Sonne lacht, bastele insgeheim an einer Bildcollage zu Ehren von SoSo.

Mein Plan, von hier direkt nach Fredrikshafen in Dänemark überzusetzen verflüchtigt sich dank besserer Radwege und dank der Sonne. Der prophezeihte Sommer. SoSoborg verlasse ich dem Meer folgend auf gut beschilderten Radwegen, frage mich bei Fußgängern und Radlern nach den nächsten Ortschaften durch: Särö und von dort über den alten Bahntrassenradweg nach Kungsbacka. Alles prima anhand der Schilder zu finden. Schon meißele ich rein gedanklich an einem Monument aus purem Granit für den schwedischen Verkehrsmninister Björn K.

Gegen Abend wird es schwer, einen Wildzeltplatz zu finden. Dicht besiedelte Gegend. Wiesen noch nicht gemäht, alle Plätze, die mir gefallen, gut einsehbar, privat besessen. Bei einer Kirche wäre der Friedhof schön, aber so pietätslos will ich nicht sein, weiter, weiter weiter, bis zu jenem Reiterhof, den SoSo schon gebookmarkt hat (alleine auf Basis meiner Koordinaten, die ich ihr gemailt hatte und des Vornamens der Besitzerin, hat sie die Website ausfindig gemacht). Ha.

Ich frage eine Frau, die vor der Pferdekoppel ihrer Tochter beim Reiten zuschaut, ob ich das Zelt auf der Wiese hinterm Hof aufschlagen kann – die Frau entpuppt sich als Deutsche, Hamburgerin, seit Jahren hier lebend und sie vermittelt an Nathalie, welche mir anbietet, in dem Container zu wohnen, in dem die Gäste während Reitturnieren und anderen Veranstaltungen auf dem Hof wohnen. Islandpferde haben sie. Ponys, denke ich. Soll nochmal jemand sagen, mein Leben sei kein Ponyhof.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Liveschreiben # 10 – lass nichts „auflaufen“

Oder: Treiben im Erlebnisstrom

Beim Liveschreiben ist der Autor/die Autorin konsequent in den Erlebnisstrom eingebunden, ist sogar ein Teil davon. ProtagonistIn. Da der Erlebnisstrom nie abebbt, auch dann nicht, wenn sich der Protagonist/die Protagonistin nicht vom Fleck bewegt, muss der Autor/die Autorin ständige am Ball bleiben. Wie kann ich als live schreibender Autor, der, wie im vorliegenden Fall, eine Reise dokumentiert, den Erlebnisfluss bändigen in den Phasen, in denen es mir nicht möglich ist zu schreiben, oder ich es aus Faulheit für ein paar Tage nicht tue?

Kurz vor der schwedischen Grenze beschäftigt mich dieser Gedanke: „Eigentlich ist dir doch danach, jetzt direkt über dieses norwegische Radwegverbrechen zu schreiben, nicht?“ Ich stehe an einem Zubringer zur E6 in der Nähe von Halden, schon seit Minuten. Die Radwegeschilder haben mich hier her geführt. Zweispurige Straße, permanenter Verkehr, keine Lücke im steten Autostrom in Sicht. Fast ist es wie der Erlebnisstrom, in dem ich mich befinde. Das gegenwärtige Erlebnis, Protagonist will E6-Zubringer überqueren und ärgert sich über die katastrophale, lebensgefährliche Radwegeauszeichnung, drängt geradezu, direkt geschrieben zu werden, ohne auch nur im leistesten die letzten beiden Tage zu erwähnen.

Jenen friedlichen Morgen in Borre auf dem Zeltplatz – Kenneth, der Owner, hatte über Nacht meinen Zusatzakku in der Rezeption gelanden und während wir zum Abschied über den Fjord und die großen Pötte reden, die darauf fahren, Wunder aus Stahl, erwacht rings um uns der Platz. Gerne könnte er belebter sein, sagt Kenneth. Er ist winters über Sozialarbeiter in Fredrikstad. Im Sommer hier in Borre auf dem saubersten, hochtechnisiertesten Platz, den ich bisher je in meiner Camperkarriere gesehen habe.

Solche Erlebnisse, die schon Tage zurück wie Treibgut im Erlebnisstrom schwimmen, könnte man als live Schreibender theoretisch und unter Auferbietung allen Fleißes chronologisch runternudeln und einen ellenlangen Text basteln – wäre da nicht die goldwerte Homebase, die im Prinzip das Skelett der Tour allabendlich Wirbel für Wirbel zusammensetzt, die Strecke skizziert und aus den Telefonaten, die sie mit dir, dem Liveschreibenden, führt sämtliche Infos extrahiert und an deiner Statt bloggt.

Dieser verflixte E6-Zubringer! LKW sind zum Glück rar, aber eine beidseits wie eine Schere auf Dich zurollende Kette von Autos, lässt verflixt nicht zu, dass Du diese Straße überqueren kannst. Ich verfluche den norwegischen Verkehrsminister. Der ist doch persönlich dafür haftbar, dass hier womöglich in Kürze größere Zeltlager beidseits der Straße entstehen, von verzweifelten, ungepflegten Radlern, die allesamt hier hängen geblieben sind, weil die Verkehrsplaner im Ministerium den Radweg auf die dicht befahrenste Straße Norwegens leiteten ohne eine Ampel oder einen Zebrastreifen einzuplanen. Stattdessen schieben sie den Leuten bei Larvik, diesem Lustvolk der modernen E 18-Mobilität, kilometerweise Wurst in den Hals. Wie viele Zebrastreifen kann man malen für einen Kilometer Bockwurst?

8. Juni 1974. Hantelsskole Sarpsborg, dritte Klasse. Der Bub steht an der Tafel und weint und weint. „Sieh genau hin, was haben wir denn letzte Stunde gelernt?,“ sagt der Lehrer. Mit Daumen und Zeigefinger knetet er das Ohrläppchen des Buben, so dass es knallrot wird, zieht seinen Kopf ganz nah an die Tafel, auf der eine Straße in Fluchtpunktperspektive gemalt ist mit einem Radweg nebendran. „Der Radweg soll nach links abzweigen, Bub! Nach Links! Du bist der Radler. Du weißt nicht, wo er weitergeht. Also? An welcher Stelle stellst du das Hinweisschild auf?“ Unsicher deutet der Junge auf einen hingekritzelten Baum links der Straße. „Neeiiin“, schreit der Lehrer, „Nein, nein und nochmals nein! Was haben wir denn gelernt? Hmm? Der Blick des Suchenden, Orientierungslosen führt stets nach rechts. So schreibt auch schon Ibsen. Rechts, rechts, rechts vom Radweg müssen die Schilder angebracht werden, sonst sieht sie keiner!“ Der Junge, Sverre K., soll nicht ahnen, dass er kaum dreißig Jahre später zum norwegischen Verkehrsminister ernannt wird.

Ich muss an all die Stories denken, die kleinen und die größeren, die ich seit drei Tagen im Kopf mit mir rumschleppe, unaufgeschrieben – Horten. Ich warte auf die Fähre, besuche ein Einkaufszentrum und finde in einem Gartencenter im zweiten Stock doch tatsächlich die nötigen Schlauchbinder, um meinen Gepäckträger zu flicken. Der Verkäufer hadert ewig mit dem Computer, um den Preis rauszufinden, nennt schließlich unglaubliche 130 Kronen, fast 20 Euro für zwei kleine Metallstücke. Insgeheim setze ich mir bei jeder Transaktion eine Schmerzgrenze von Preis, die ich bereit bin zu zahlen. Es soll mir nicht so gehen wie mit dem Öl, das fast 12 Euro gekostet hat und dass ich willig wie ein Schaf einfach bezahlt habe. 130 Kronen sind 65 über der Schmerzgrenze. In einer Mischung aus Trotz und Stolz sage ich nein. Später kann ich die Dinger in einer Autowerkstatt direkt beim Mechaniker für 30 Kronen kaufen.

„Stuck at the E6 – beautiful end of the Tour“, titele ich scherzhaft – dieser unüberquerbare Zubringer bei Halden ist geradezu prädestiniert, ihn als Aufhänger für einen Artikel zu benutzen, in dem ich die Situation schildere wie ich dort so vor mich hin stehe und versuche die Straße auf dem offiziellen Radweg nach Schweden zu überqueren. Kann ich mirnichtsdirnichts ganz salopp all das bisher nicht nieder geschriebene aus dem Erlebnisstrom reinpacken, boa eh, genial. Dem Norwegischen Verkehrsminister, den ich vor ein paar Minuten erfunden habe, kann ich eigentlich nur dankbar sein. Danke, Sverre K., jede Ähnlichkeit mit echten norwegischen Verkehrsministern ist rein zufällig.

Ein rotes Auto gefolgt von einem silbernen Auto und zwei Lastern macht den Anschein, für mich zu bremsen, mich hinüber zu winken, überlegt es sich aber anders, weil die Gegenspur ungerührt weiter dahin treibt. Wie so ein Radler wohl aussieht, von der Straße aus, die unüberquerbar ist?

Der Nummer 1-Radweg ist ab Moss vermutlich nur noch eine Theorie. Ab und zu ein Hinweisschild, das ins Nichts führt. Ich verirre mich bis Fredrikstad, wann war das? Mittwoch? Nehme zum Schluss einfach die stark befahrene 118, von der ich wenigstens weiß, wohin.

Tone, Jostein und Jon-Olaf, die Freunde von Hanne, erwarten mich schon. Herzlich der Empfang. Es ist wie heimkommen. Tusen Takk, Ihr Lieben! So genieße ich zwei Tage Ruhe ganz in der Nähe von Gamlebyen, der alten Festung von Fredrikstad.

Tone macht Sightseeing mit mir. Sie übernimmt die Organisation eines Pressetermins – zwei Journalisten interviewen und fotografieren uns. Die schlechten Radwege mit lebensgefährlichen Schlaglöchern sind ein heißes Thema dieser Tage. Tone hilft auch beim Handeln mit dem Fahrradhändler. Das Tretlager gibt seinen Geist auf. Da ist nichts mehr zu machen. Die modernen gekapselten Dinger kannst Du nur austauschen. Nix Fett rein und Kugeln tauschen. Wenn ich hochrechne, dass die Schlauchbinder das zehnfache kosteten, müsste das Tretlager auf ungefähr 400 Euro kommen. Ich fühle mich wie ein kleiner Bub, den man am Ohrläppchen zur Tafel zerrt. Die Schmerzgrenze für die Reparatur bei Gaarder Sykkelsport lege ich auf 800 Kronen, wenn teurer, lasse ich es darauf ankommen und radele das Lager vollends zu Schanden.

Herr Gaarder guckt grummelnd das Rad und zeigt mir ein federleichtes neues Lager für 450 Kronen, plus Einbau würde es 1000 kosten. Tone insistiert auf norwegisch, erklärt meine Kunstmission und erwähnt auch noch den Zeitungsartikel, der bald erscheinen wird. Gaarder grummelt und reibt sich das Kinn. Okay: 600. Ich bin baff und schlage ein. Ein beinahe mitteleuropäischer Spottpreis. Im Überschwang setze ich Gaarders Sykkelladen auf die Sponsoren der Herzen-Liste und verspreche, ihm ein Kunstposter zukommen zu lassen.

Abends gibts Pizza, eingeladen by Tone, Jostein und Jon-Olaf im ältesten Pizzarestaurant der Stadt, dem Pizzanini. Auch hier ein schmerztreibender Preis, so dass es mir schon fast unanständig vorkommt, eingeladen zu sein. Ich beschließe, mein Konzept der großen Geben- und Nehmenspirale auszubauen und in ähnlichen Fällen zu Hause, noch größeres Augenmerk darauf zu legen, zu geben, einzuladen, zu helfen, denn ist es nicht so, dass sich der Kreis aus Geben und Nehmen in der Regel schließt, irgendwo und irgendwann und dass es kontraproduktiv ist, alles was an guten Taten in dieser Welt fließt, direkt und 1:1 auszugleichen zu versuchen. Wir müssen die Kreise größer machen, wir müssen uns erlauben, uns selbst zu verlieren.

8. Juni 1974, 14:35. Seit Minuten steht Sverre K. an der Landstraße direkt gegenüber dem Haus seiner Familie. Der Verkehr ist so dicht, dass es keine Möglichkeit gibt, hinüber zu kommen. Der Schultag war schlimm. Sein Ohr ist noch immer knallrot. Schon überlegt der Bub, einfach drauflos zu laufen, die werden schon bremsen. Erstmal bis in die Mitte, dann weiter sehen, da kommt ihm die Idee: Im Verkehrserziehungsunterricht haben sie doch gelernt, dass man an Zebrastreifen einfach die Hand nach vorne hält, um den Wunsch zu signalisieren, dass die Autos endlich anhalten.

Mein Blick schweift über den E6-Zubringer. Die schwedische Grenze ist nur zwei Kilometer entfernt. Und hier nun soll es enden? Wegen zu vielen Autos auf mies ausgewiesenem Radweg! Ha! Beherzt tue ich das, was ich im Verkehrserziehungsunterricht gelernt habe, damals in der vierten Klasse. Halte die Hand nach Vorne, warte. Und tatsächlich, nach wenigen Sekunden stoppen beide Verkehrsströme, um mich hinüber zu lassen auf die andere Seite des Radwegs. So muss sich Moses gefühlt haben, als er einst das Rote Meer teilte, um die Kinder Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft zu führen.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Zack und weg

Erweiterte Version (neueingefügt: Abschnitt vor Hauge, in grün geschrieben)

Jøssefjord, 27. Mai 1918. Zwei Ingenieure aus Haugesund reißen mich jäh aus dem Schlaf. Höhnisch begrüßen sie mich mit: „Na, Junge, unter welchem Stein hast du dich denn verkrochen?!“

Was ist das für eine intolerante Welt, in der man nicht sein darf, wie man will. Vor dem großen Krieg habe ich mich hierher zurückgezogen. Der Felsen, der vielleicht einmal hoch oben auf dem Helleren gelegen hat, ist so glücklich gefallen, dass er eine kleine Höhle bildet, direkt am Bach. Den Fjord erreicht man nur über das Meer, oder über einen waghalsigen steilen Pfad, den man mit Maultieren gerade so begehen kann. Die Suche nach Ruhe hat mich hierher getrieben. Das Geknatter der neuartigen Dieselmaschinen in Oslo und den großen Städten war nicht mehr auszuhalten. Die Kriegshetze in der ganzen Welt, die Zeitungen voller schlechter Nachrichten, Revolution in Russland. Die Aristokratie steht kopf. Entweder geht die Welt bald unter, oder sie wird sich grundlegend erneuern. Durch radikale Maßnahmen.

Ich habe meine kleine Höhle mit Stroh gepolstert, lebe von Fischen aus dem Meer und pflücke oben in den Bergen Blaubeeren. Die Fischersleute in den beiden Hütten unter dem Helleren geben mir manchmal etwas ab. Einfache Leute, die weder lesen, noch schreiben können, aber sie haben das Herz am rechten Fleck. In der Enge ihrer Welt sind sie dennoch tolerant. Und nun diese beiden Fatzkes von Ingenieur. Ha! Eine Straße wollen sie bauen. Mit Tunneln und Serpentinen, damit man mit den Dieselmaschinen die Küste erschließen kann. Wozu?

Schon in drei Jahren, sagen sie, soll das Jahrhundertprojekt fertig sein. Da interessiert es doch niemanden, ob du kleiner Mysil Bergsprekken dich zum Nachdenken unter diesem Stein verkriechst, höhnen sie, auf dem Felsen wird die Welt tanzen, wenn du längst vergessen bist.

Beauty, beauty, beauty! Die etwa sechs Kilometer lange Strecke des Vestlandske Hovedveien, an dem ich übernachtet habe, lässt sich wohl kaum toppen. Da rüttelt auch die schwere Beradelbarkeit mit vollbepacktzem Rad nichts dran. Steigungen von vielleicht dreißig Prozent, für ein-, zweihundert Meter, machen mich immer wieder absteigen und der lose Split, in den die Reifen einsinken, macht auch die Abfahrten zum Wagnis.

Nach einer halben Stunde erreiche ich bei Hegrestad das andere Ende dieses Wurmlochs der Pittoreskizität. Die Strecke ist als Wanderweg empfohlen, dauert zweieinhalb Stunden pro Richtung. Meine Empfehlung pur.

Das war noch nicht alles. Nach kurzer Passage auf der Küstenstraße 44 schwingt sich die Radroute auf der Trasse eines alten Bahndamms Richtung Egersund. Auch hier Steigungen von bis zu dreißig Prozent, da der Bahndamm nicht konsequent genutzt werden konnte und man eine Ersatzroute entlange von glasklaren Seen durch feine Birkenwäldchen bauen musste. Egersund.

In einem Café kaufe ich Softeis, lade iPhone und Akku. Vor der einzigen Steckdosengruppe sitzt ein Mann mit schwarzem T-Shirt und Computer. Auf dem Tisch liegt eine Baseballmütze mit der Aufschrift Jesus loves you. Er lächelt mich an und bedankt sich, als ich ihm mein iPhone reiche. „Das wäre doch nicht nötig“, grinst er. Aus der Tasche kramt er vier alte Handys, legt sie auf den Tisch, erzählt seine Lebensgeschichte, während er mich sogleich an meinem Akzent als Deutschen identifiziert, er spreche Französisch, Englisch, Deutsch, Mandarin und Japanisch und in der Schule habe seine Lehrerin ihn gerügt, weil er amerikanisches Englisch gesprochen hätte, woraufhin seine Mutter einen Brief geschrieben habe, in dem sie die Lehrerin aufgeklärt habe, dass sie ihn bitte nie wieder deswegen rügen solle, weil das ein gleichwertiges Englisch sei und er es bestimmt besser könne, als sie ihr mühsam auf der Unis zusammen gestoppeltes englische Englisch.

Ein fünftes Handy klingelt in seiner Brusttasche, er liest die SMS, da stünde nämlich der Preis drin für die Gitarre, die er kaufen wolle. Puuh. Trotz all dem Speed werde ich langsam müde, sinke ab, kaufe am Tresen Kaffee, das iPhone und der Zusantzakku hängen sicher hinterm Sitzplatz meines neuen Freunds. Wir schweigen.

Später erzählt er mir, dass er schon zwei Mal tot war. Herzinfarkt. Und als Folge kurze Zeit später ein Schlaganfall. Ich muss unwillkürlich an den amerikanischen GI denken, den ich in Wheems auf den Orkneys getroffen hatte. Tot, zurück im Leben, umso vitaler, umso genüsslicher, umso kostbarer wird alles um uns herum. Als ob ich das in gemilderter Form nicht auch schon erlebt hätte. Auf dem Klo sei es passiert, plötzlich konnte er seine linke Körperseite nicht mehr spüren, seine Beine nicht bewegen, der Arm hing schlaff. Er ganz alleine im Haus, das Handy nur wenige Meter entfernt im Flur. Mit der rechten Hand habe er sich festgehalten und erst einmal überlegt, wie er ans Handy komme. Er hatte nur eine Chance, musste sich den Weg, die wenigen Meter zur Rettung von dem, was vielleicht übrig bleiben würde von ihm, zurechtdenken. Schritt für Schritt einen gewagten präzisen Sturz durch die Klotür zum Handy vorausplanen, als wäre er Trapezkünstler. Der Dreifachsalto rückwärts des nackten Überlebens. Nach fünf Minuten war die Ambulanz da, nach 39 Minuten war er in der Stoke Unit des örtlichen Krankenhauses, die Polizei sei vor dem Krankenwagen hergejagt mit Blaulicht. Packend, das gebe ich zu. Seither glaube er an Gott. Seither hinke er, genau wie Jakob, der Vater Israels.

Nach einer Stunde verlasse ich das Café. Egersund ist ruhig geworden. Flaggen hängen vor den Häusern. Die Läden schließen. In einem Supermarkt kaufe ich das Nötigste. An der Kasse liegt eine Zeitung, auf deren Titelblatt von Herzkammerflimmern die Rede ist und den hohen Gefahren, die damit einhergehen. Diese seltsamen Fingerzeige wie aus dem Nichts machen mir Angst, der Mann im Café und nun das – will mir das etwas sagen?

Auf den nächsten Kilometern über die alte Küstenstraße 44 radele ich sehr bedacht, bloß nicht anstrengen, steige an starken Steigeungen vom Radel, atme tief und ruhig. Trotzdem nimmt der Handel mit Unwahrscheinlichkeiten einen gewissen Raum ein: was wäre, wenn mir unterwegs das Herz flimmern würde? Mutterseelenallein, zack, weg! Tut es aber nicht. Hat es noch nie getan, beruhige ich mich. Und wenn, vielleicht wäre es wie mit dem geplatzten Reifen. Er hätte können auch bei sechzig Sachen bergab platzen. Zack und weg. Viel Glück in wenig Unglück, das ist meine Welt.

Wenn man das weniger schöne Stück Radweg zwischen zehn Kilometer nördlich von Haugesund und zwanzig Kilometer südlich von Stavanger wegdenkt, hat man von Bergen bis hierher in den Jøssefjord ein Stück Allererste-Sahne-Radweg vor sich, die vielleicht beste Radelstrecke, die ich je geradelt bin.

Eigentlich ist es geradezu ein Muss, dass es um die Großstadt Stavanger mit ihren 120.000 Einwohnern nicht Eitelsonnenscheinlullifullieradeln sein kann.

In Hauge ist gegen achtzehn Uhr endgültig Feiertagsstimmung. Die Stadt ist beflaggt. Rummelplatzmusik. Ein hyperaktives Kind nervt auf dem im Abbau befindlichen stillen Flohmarkt mit einer Presslufthupe à la Fußballstadion. Auf dem Friedhof fülle ich meine Wasserflaschen, rede mit einem gebeugten, traurigen Alten, der nur norwegisch kann, verstehe ihn dennoch. Das Wasser sei gut, jung, komme aus den Bergen, zeigt er nach Süden. Stroke. Alle werden irgendwann gegangen sein und du weinst über ihren Gräbern an einem Pfingstwochenende in nicht ferner Zukunft, gewiss reichen die Finger deiner linken Hand, um die Jahre zu zählen, faltig, müde, die dir selbst noch bleiben.

Südlich von Hauge schufte ich mich etwa drei Kilometer bei einer gefühlten Zwölfprozentsteigung berghoch. Eines der stärksten Steigungsstücke auf der bisher etwa dreieinhalbtausend Kilometer langen Ums Meer-Runde. Der Reschenpass, den mir eine hysterische Münchnerin auf dem Campingplatz in Stavanger angekündigt hat, ist bisher ausgeblieben. Ich glaube, er wird auch nicht kommen. Die kleinen, fiesen Stücke der Küstenroute haben es dennoch in sich. Ich vergleiche sie gerne mit dem Kalköfer Weg, der aus dem Dörfchen Kirrberg hinauf führt auf die Sickinger Höhe. Ihn habe ich oft benutzt, um von der Arbeit nach Hause zu kommen. Etwa sechzig Höhenmeter sind auf einer steilen, ungeteerten Strecke in einem Hohlweg zu überwinden. Auch ohne Gepäck musste ich dort stets schieben. Wobei ich mir die etwa hundertfünfzig Doppelschritte lange Strecke in drei vier Stücke unterteilte, immer wieder stoppen und Atem holen.

Im Fjordland lege ich am Tag zig solcher Schiebeetappen zurück und bin erstaunt, dass ich ohne Pause meine Doppelschritte tun kann. Die Zwölfprozentsteigung zum Pass über dem Jøssefjord klappt fahrend im ersten Gang. Auf einem Parkplatz treffe ich drei Kölner, die seit Jahren ein Ferienhaus in der Gegend besitzen. Man klärt mich auf über die weltgrößte Titanmine im Felsmassiv gegenüber. Der Fels wird schneeweiß, wenn man ihn zermahlt und man benutzt ihn als Farbpigment.

Von Geisterstädten berichten sie, verlassenen Bergwerken, und direkt unter uns, paar zig Meter tiefer, seien die Fischerhütten von Helleren, gebaut im 19. Jahrhundert unter einem sechzig Meter langen und zehn Meter breiten Felsvorsprung. Dort könne ich sicher übernachten. Das Freilichtmuseum ohne jegliche Aufsicht und Eintritt sei immer offen. Oder aber, ich könne in der Höhle von diesem Freidenker, einem Schriftsteller, sagen sie, übernachten, der vor bald hundert Jahren eine Weile nachdenkend in dem idyllischen Fjord verbracht hat.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)

Von Stavanger zum Vestlands Hovedvei – Irgendlink findet seinen Wunsch-Ausstellungsort

Verdammt nah dran, den Flieger zu besteigen. Der Feind, der dich zersetzt, kommt von innen. Bei strahlendem Sonnenschein haben QQlka und ich auch 1995, nur 212 km vom Nordkap entfernt, unsere sechswöchige Radelreise beendet. In Alta sind wir in den Flieger gestiegen und landeten zwei Stunden später in Oslo. Die erste Kunststraße der Welt, die eigentlich von Mainz zum Nordkap führen sollte, endete jäh. Zuvor hatten wir einige Tage zermürbenden lappländischen Regen und Nachtfrost. Kautokeino-Matt. Es war nicht das Wetter, das uns umkehren machte, es war der völlige Zusammenbruch der Sinnkette, die einjeder Mensch sich selbst konstruieren muss, um weiter zu machen mit dem, was ihn beschäftigt im Leben, woran er sein Herzblut gibt. Im Grunde kann man das mit Hotelruinen an der Costa Blanca vergleichen, die auf den Träumen einzelner kleiner Menschen gewachsen sind und es bis ins Rohbaustadium geschafft haben. Da aber der Sinn – im Fall Hotel an der Costa Blanca der Geldstrom – versickert, bleiben oft nur Skelette von unseren einst fetten Träumen.

Die Kunststraße ums Meer, erkläre ich den Menschen, die sich dafür interessieren, ist ein Skelett, an dem sich Geschichten und schöne bunte Bilder ranken. Das war schon 1995 so. Die 360 Schwarz-Weiß-Straßenaufnahmen des Kapschnitt zeigen die bereiste Strecke in 10 km-Abschnitten. Stets der Straße nach fotografiert vom rechten Rand aus in Richtung Reiseziel. Es war unerheblich, ob es bei den 10 km-Bildern schön war oder nicht, ob es regnete, oder das Licht frontal in die Linse strahlte, ob 100 Meter zuvor das wahnsinnspittoreske Motiv war, oder querab die ultimative Landschaft lugte. Das Kunststraßendogma besagt, dass die Srecke Ausschlag gibt, wo fotografiert wird, und nicht das eigene Empfinden. Natürlich mache ich supplement noch die schönen, touristischen bis künstlerisch hoch veredelten Bilder.

Stavanger Camping gefällt mir nicht. Der Platz liegt direkt neben der E39, Garantie für Straßenlärm bis 12 Uhr abends und ab 5 Uhr morgens. Zudem scheint sich ein Kanaldecke gelöst zu haben, der immer dann klingt, wenn er von einem Auto überrollt wird. So muss es sein, wenn in deiner Bude ständig die Türklingel surrt. Der Platzwart ist kalt freundlich. Ich werde das Gefühl „Geschäftsmann“ nicht los, selbst wenn er traurig mit seinem Hund in den Morgen spaziert. Geld heißt das Diktat. Ein Fletcher in „fair“? Das Wifi kostet 30 Kronen, sodass ich die Münzen lieber meinem Telefonhai in den Rachen werfe und ein neues Datenpaket buche für eine Woche schnelles Mobilfunknetz.

Aus Stavanger raus merke ich mir die Orte „Sola Hinna Madla Kennelgarten“, murmele dies mantrisch im Straßenverkehr, wobei von Norden kommend zuerst Madla zu durchqueren ist, dann an Hinna vorbei bis zum Flughafen bei Sola. Schließlich liegt weit draußen Kleppe, das ich kurzerhand in Kennelgarten umtaufe, eine seltsame kalte Bahnstation südlich von Kaiserslautern. Ha. ich habe meinen Spaß trotz Baustellen und Radwegverirrungen. Erst etwa 20 km südlich Stavanger wird die Nordseeroute wieder zu einer Art befahrbarem Radweg. Die Beschilderung hängt richtig. Die Strecke führt teilweise direkt am Strand entlang über ungeteerte Feldwege, durch Viehgatter, vorbei an glücklichen Kühen. Zwei alte Damen schenken mir Schokolade. Wir reden deutsch. Die eine war in einer Schwesternschaft in Darmstadt zu Gast. Lange ist das her, ein Schüleraustausch. Sie dutzt mich, weil das in der norwegischen Sprache so üblich ist. Also dutze ich zurück. Herrlich.

Kurz vor Nærbø führt der Radweg über eine kleine Hängebrücke, die nach meiner Erinnerung auch auf der NSCR-Seite in den Bildgalerien zu finden ist. Schaukelndes Kleinod und nach zweihundert Metern mündet der Pfad in einen Gutshof, an dem ich beinahe vorbei geradelt wäre. Das Gamle Prestegard, das alte Priestergut, ist eine Kunstgalerie, wie man sie sonst nur in einer Großstadt vermutet. Vier Künstlerinnen und Künstler zeigen Skulpturen, Fotos und Objekte, Rauminstallation und ein poetisches Video. Die 55 Kornen Eintritt lohnen sich.

Insgeheim träume ich von einer riesigen Kunststraßenausstellung auf dem Gelände des Prestegard, in dem ich die Idee, sämtliche 600 Straßenfotos auf Stelen zu montieren und in einer der Nordseestreckenführung nachempfundenen Schleife orientiert, nachbauen könnte. Zukunftsmusik. Aber. Ich bin nun etwas zuversichtlicher, was eine mögliche Komplettausstellung dieses, meines digitalen Kunstprojekts angeht. Theoretisch, und mit 50.000 € im Seckel sogar praktisch, ist es möglich.

Auf dem Weg zum alten Leuchtturm, ganz in der Nähe des Prestegard, der von einer britischen Künstlerin namens Lucy (McLauchlan) 2011 im Rahmen des Stavanger Street & Urban Art Festivals bemalt wurde, komme ich ins Schwärmen und sehe meine 600 Stelen und die vielen bunten Bilder, die es in Bruchstücken in diesem Blog zu sehen gibt, rund ums Prestegard verteilt in den Dünen. Ein Kunstspaziergang. Lucy, deren Nachname schon verblasst ist, hat den Leuchtturm in ein wunderbares Gesamtkunstwerk verwandelt, das allerdings nicht unumstritten ist. Manche Anwohner hätten für derart kühne Experimente keinen Sinn, sagt die Kunsthistorikerin an der Rezeption des Museums. Da aber der Leuchtturm sowieso alle paar Jahre neu getüncht werden müsse, wegen des alle Farbe leckenden Wetters, werde er in Kürze wohl wieder weiß sein. Offenbar kann man als Künstler in dem Turm residieren. Hmmm …

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Bild des Leuchtturms

Bild des Leuchtturms

Über Küstenwege, ungeteert meist, weiter, vorbei an Varhaug, Nur selten läuft der Radweg direkt neben der Straße 44, die stark befahren ist. In Vigrestadt kaufe ich Lebensmittel und fülle an der Tankstelle meine Wasserflaschen. Laut Karte folgt bis Egersund keine größere Siedlung mehr und die Gegend mit den vielen kleinen Seen sieht verlockend aus zum Wildzelten.

Hinter dem Golfplatz von Ogna zweigt die Nordseeroute links ab und führt über den Vestlandske Hovedvei bis nach Heigrestad. Gut 6 km ungeteerte, alte Strecke, über die schon seit Jahrhunderten Kutschen, Pferde, später sogar knatternde erste Autos fuhren. Happige Steigungen. Von der Gärtnerei bei der Holland-Brücke, darf man sich nicht abschrecken lassen. Die Gatter quer über den Weg dienen dazu, das Vieh abzuhalten. Ich muss schieben. Abwärts sehr vorsichtig rollen, da der Schotter feinkörnig ist und die Reifen ausbrechen. Mitten auf der Strecke finde ich einen kleinen Platz, an dem das Zelt stehen kann. Im Gegensatz zur letzten Nacht in Stavanger ein exorbitanter Kontrast: Vöglein statt LKW, drei Mountainbiker passieren mich. Sonst nichts. Erstaunlich, dass das Telefonnetz funktioniert.

(sanft redigiert, mit Links bestückt und gepostet von Sofasophia)