Ich spüre den Rückweg, seit ich kein Meer mehr zwischen mir und dem Kontinent habe. Obwohl ich nach Norden fahre, gelingt es mir, mich im Zick-Zack-Kurs bis nach Deutschland zu denken. Die „ehemalige“ Heimat nimmt langsam Kontur an. Ein seltsames Gefühl, bin ich doch, wenn ich die deutsche Grenze bei Tölling erreiche, noch längst nicht daheim. In den Läden spreche ich die Menschen vermehrt auf Deutsch an. Seltsame Sache, dass man immer erst versucht, auf Englisch durchzukommen.
Wohlfühlradeln pur! Das Land ist wunderschön. Morgens nach Hadsund, nur vier Kilometer von meinem Wildzeltplatz, wird mir bewusst, wie reich diese ganze Tour ist. Ich singe eine Lobeshymne auf Dänemark und seine Radelwege, die zweispurig mit Mittelstreifen, wie eine Ministraße neben den Landstraßen führen. Fast immer gibt es solche Radwege, wenn die Straße auch nur andeutungsweise stärker befahren ist. Insgeheim meißele ich an einem Monument aus purem Granit für den imaginären dänischen Verkehrsminister Bjarne K. Well done, Brother.
Hum, Granit? Gibts hier nicht. Nur Sand. Ich baue ihm eine Sandburg. Am Morgen nach dem Abbau finde ich ihn überall auf den Packtaschen, dabei habe ich im Wald gezeltet. Die Zeltheringe kann man hierzulande mit dem Daumen reindrücken. Durch Kiefernwäldchen, kleine Dörfchen, Windräder am Horizont, irgendwo sogar für sechhundett Meter eine Steigung, die mich in den ersten Gang zwingt, ansonsten flaches Land zwischen den Wassern der Nord- und der Ostsee.
Alle Länder waren schön, aber Dänemark kommt dem Idyll des Wohlfühlradellandes am nächsten. Welcome to the Pleasuredome, schießt es mir in den Sinn auf einem alten Bahntrassenradweg, der Richtung Aalborg führt. Frankie goes to Hollywood, damals, Achtziger, Dunkf, Dunkf, Dunkf, stampft die Band ihren Superhit „Relax„.
Dass mir immer Lieder nachlaufen! Am Ende des Bahntrassenradwegs, hinter Baelum, habe ich mich doch glatt verirrt. Zu weit ins Landesinnere geraten, auf schnurgerader, topfebener Strecke durch ein ehemaliges Moor. Pechschwarze Erde. Psychoradeln.
1984, der Roman, kommt mir in den Sinn, den wir im Schulunterricht im Jahr 1984 lasen. Darin gibt es einen Satz, der ungefähr sagt, dass jeder Mensch vor irgendwas Angst hat, dass man jeden brechen kann. Lapidar, ich weiß, aber für mich sind große, weite Flächen der absolute Horror. Zudem die schnurgerade Straße, zwei Kilometer weit, rechts und links Grün, Wind zaust in den wenigen Bäumen, und verflixt, er drückt meine Geschwindigkeit unter fünfzehn Stundenkilometer. Ein „hier kommst du nie wieder raus“-Gefühl stellt sich ein. Mein uraltes Ebenenproblem, das ich schon seit der Durchquerung des Ebrodeltas kenne. Blick nach unten, Füße im ewigen Rund des Kettenblatts, Sonne wirft fahlen Schatten, gib mir ne Düne, nen Leuchtturm, ne Stadt, ach gib mir wenigstens einen Maulwurfshaufen, nur zwanzig Zentimeter hoch, einen Weidezaun, drei Bäume und ne Parkbank, mach das Gras weg, biege die Straße. Auf dem Jakobsweg gab es, jenseits der Meseta, auch so eine schnurgerade Straße, in die die Erbauer jedoch eine Schikane eingebaut hatten, damit man nicht mit hundertachtzig Sachen dahin rasen kann. Hier in Dänemark ist das nicht nötig. Zivilisiert und rücksichtsvoll fährt man. Endlich eine Abzweigung, Egerse nur noch neun Kilometer. Geradeaus. Ich begegne nach und nach je zwei Langstreckenradlern, die aber keine Anstalten machen, anzuhalten für ein Schwätzchen. Was erwartet einen bei solchen Gesprächen auch anderes, als das Woher, Wohin, Wetter könnte besser sein? Die „Guten“ werden einander finden, durch geheime Mechanismen, die das Universum vorsieht und von denen wir Menschen keine Ahung haben. Bestimmung.
Frau Himmelblås Café in Egense etwa. Instinktiv biege ich in den Kiesweg ein und nehme bei – ja, vermutlich heißt sie Bettina – Bettina in der Gartenlaube Platz. Vier ältere Leutchen am Tisch, ich bestelle Sandwich und Kaffee, liege in einem Ohrensessel, döse in der, durch die Sonne erwärmten Gartenlaube, lausche dem dänischen Schnack, entschleunige. Gegen Nichtvorankommen, hilft nur weiterfahren, habe ich einst gesagt. Gegen Nichtvorankommen auf weiter Ebene, die dein Hirn zermürbt, hilft nur, anzuhalten, den Geist zu massieren, die Welt mit anderen, flachländischen Augen zu erfassen, ein bisschen zu ruhen und dann weiter zu radeln.
Frau Himmelblå fühlt sich, nuja, ein bisschen esoterisch an, sehr symphatisch. Stille, untermalt von Softpoprockmusik, nur zwei Lieder eine ganze Stunde lang, die sich, weil die CD offenbar kaputt ist, gegenseitig unterbrechen und wiederholen, manchmal für zig Sekunden gar nicht dudeln. Oder ist das etwa Absicht? Niemand kümmerts. An der Wand hängen Bilder mit Sprüchen von Buddha: You are what you think. Somit kann man sich die Welt zurechtdenken, und sie wird schon gut werden. Wenn man sich Horror vorstellt, kriegt man Horror, wenn man sich Glückseligkeit erdenkt, erhält man auch Glückseligkeit. Ich denke über einen Lottogewinn nach und begreife, dass ich nach meinen Gedanken auch handeln muss, dass ich die Richtung einschlagen muss, in die sie mich führen, sprich, Lotto spielen.
Besser bleibste auf dem Teppich. Stell dir eine Fähre vor, vier Kilometer entfernt, die rüber führt nach Hals! Schwupp. Als ich auf den Fähranleger zusteuere, legt das Schiff gerade an. Ich laviere mich vorbei an einer Schlange von zehn zwanzig Autos, die nicht alle draufpassen werden auf das winzige Ding, quetsche mich irgendwo dazwischen, der schelmische Kassier winkt noch einen Motorradfahrer vorbei an den nicht drauf passenden Autos, dann schaukeln wir nach Norden.
Hals. Touristen. Deutsche. Fahrradmuseum und Touristeninformation geschlossen, Walrippenbogen, ein Stück Wirbelsäule vom Hval, wie es auf Dänisch heißt, als Skulpturen in Gärten.
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Dänemark ist das Land der gemähten Straßenränder und Wiesen. Ob der Däne einen Rasenmähtrieb hat? Ob es Gesetze gibt, dass man selbst außerorts an den unwahrscheinlichsten Stellen sauber gemähte Pfade, Wiesen, Lichtungen findet?
Teils auf Kiespisten drifte ich Richtung Asaa und baue vier Kilometer hinter der Stadt mein Zelt auf einem Picknickplatz auf. Fast zweihundert Kilometer Easy-Radling. Ob es so weiter geht?
Nachts habe ich Sorge, dass der Wind mein Zelt zerdrückt. Ich habe zwar einen gut geschützten Platz in einer Bucht aus Hecken, aber für Sturm bin ich nicht gerüstet. Starkregen. Vorsorglich alles wasserdicht verpacken nur für den Fall, dass ich ins Klohäuschen umsiedeln muss …
(sanft redigiert, mit Bild und Link bestückt und gepostet von Sofasophia)