Wie ein Quantencomputer unter den Fleischwesen

Ich leg mich fest: Ich leg mich nicht fest. Und genau das ist das Problem. schrieb ich gerade.

Nebenan steht der neue Laptop. Bin ich glücklich? Brauche ich den? Hab ihn vom Stick gebootet und auf den Installierenknopf gedrückt und mich zwei drei Schritte im Installationsprozess von Manjaro, das ist eine Linuxdistribution einer Berliner GmbH, vorangeklickt. Das war irgendwann gestern Nachmittag. Dann tauchten Fragen auf und mit ihnen die Unsicherheit. Dualboot mit dem evil Windows 11, das drauf ist steht zur Auswahl und Festplatte löschen, also Linux solo. Ich glaube es gab noch eine dritte Wahl und zu guter Letzt Freestyle, manuelle Partitionierung. Ziemlich sicher, dass ich den Festplatte-plattmachen-Knopf drücke, klar, aber es gibt noch weitere Entscheidungen, die ich treffen muss: Soll ich das System verschlüsseln? Braucht es eine Swap, eine Auslagerungspartition? Bei 32 GB Arbeitsspeicher?

Am alten PC, diesem hier, recherchiere ich. Der Abend kommt. Ich werde müde, mache Salat aus Gurke, Karotte, Zwiebel und Blattsalat. Wassen Tag ey! Viel PC, viel Zeit, die sich in Luft auflöst. Dazwischen Kettensägenkette geschärft für die Längsschnittsäge. Immer wieder Ansatz gemacht, was am PC zu schreiben. Nebenan am neuen PC ist das neue System immer noch im Status „installieren solo oder dual, mit Swap oder ohne, darf Windows 11 weiter leben?“.

Zwischen den Hins und Hers stecken geblieben. Keine klare Linie. Und über allem gaukelt die Bundestagswahl, die zum Glück nur aus zwei Informationskanälen auf mich eindrischt. In Form von Kurzbotschaften, Aufrufen, dies oder jenes zu wählen, Aufregern. Den Vogel schießt eine verlinkte Merz Wahlkampfabschlussrede ab, in der er hetzt hetzt hetzt, dieser garstige untaugliche Mensch. Das macht mich wütend. So wütend war ich seit Franz Josef Strauß nicht mehr. Insgeheim hoffe ich, es wird wie damals, 1988: Wir kommen aus dem Urlaub in Griechenland zurück. Vier Wochen ohne Zeitung, Radio, Informationen und das erste was wir im Autoradio hören, als wir wieder deutschen Funk haben, ist, Franz Josef Strauß ist tot. Freund A. jubelte laut, was mich erschreckte. Damals hatte ich Politik noch nicht so sehr auf dem Schirm. Und im Grunde war ich auch nie der Mitjubler oder derjenige, der aus freiem Herzen von selbst jubelte. Zu viele Unklarheiten, zu viele Möglichkeiten an Stimmung, die parallel in mir existieren, als dass ich von ganzem Herzen in eine einzige totale Stimmung geraten könnte.

Somit tauge ich auch nicht für einen totalen Krieg. Vielleicht tauge ich für die Türkismühle-Totale, die Infinit, die Acht :-)

Morgens radelte ich runter zu Detlev, zum Radhändler in der Birkensiedlung, um mir aus dem Müll zwei Rennradschläuche zu fischen, denn ich hatte mir überlegt, einen Brustgurt für Actioncams selbst zu bauen. Als Gurte würde ich Fahrradschläuche verwenden und Mastodonfreund DerEmil ermunterte mich, den Rest der Materialien doch auch aus Fahrradmüll zu machen. Hier seine Geschichte, zu der mein Projekt ihn inspierierte.

Den Samstagnachmittag verbrachte ich also damit, aus alten Reifen und Gummi und einem übrig gebliebenen Actionkamera-Clip einen Brustgurt zu bauen. Ist echt schick geworden. Dazwischen wohlgemerkt die Kettensäge und ich weiß nicht, vielleicht ist diese Zersiedelung zwischen den Dingen ja gar nicht so übel, vielleicht ist nur meine Einstellung dazu übel: Diese innere latente Gegenwehr, erst das Eine, statt das Andere zu erledigen und nicht zulassen zu wollen, dass gleichzeitig oder nahezu gleichzitig in mir ein ganz anderer Ablauf aktiv ist. Vielleicht funktioniere ich ja eher wie ein Quantencomputer unter den Fleischwesen, denn wie ein moderner 64 Bit Linearrechner und die Dinge laufen in mir nunmal alle nebeneinander und abgelenkt sein gehört bei mir eben zum Leben wie für andere die Konzentration auf etwas. Ich meine, mit dem Hirn ansich und dem Körper ansich läuft das ja auch oft ganz prima. Ich kann wunderbar an einem Text denken oder eine Idee ausformulieren, während ich mit dem Rechen Sägespäne auf Haufen reche und ich kann sogar wunderbar diesen Text hier schreiben, während nebenbei Kalkbrenner in Istanbul jaddelt.

Die Sehnsucht nach Ordnung steht meinem natürlichen Ich im Weg. Postuliere ich. Dadurch, dass ich mich mir selbst widersetze und diesen über die Jahrzehnte eingetrichterten Unsinn lebe, linear vorzugehen, statt Quantischkeit zuzulassen, bremst mich aus. Der Wille, an einem Punkt anzulangen und zu sagen, so isses gut, genau so soll es, bremst mich, stört die Abläufe, die auch gaaanz anders könnten, wenn ich nur nicht anders gelernt hätte, soundso ist es richtig.

Daran musste arbeiten, Herr Irgendlink. Das ist ne Waffe, diese Erkenntnis, dass es bei dir nunmal nicht so ist wie allgemein wohl üblich. Vermutlich? Oder etwa nicht? Im quantischen Dasein ist es auch so, dass der Widerspruch ansich gleichzeitig mehrere Zustände zulässt. Das das Eine, was dem Anderen eigentlich widerspricht, nicht das Schlechtere sein muss, sondern dass es auf einer hauchdünnen Scheibe obendrüber eine genau gleich tickende Version gibt, die nicht besser und nicht schlechter ist und untendrunter eine weitere Schicht mit einer weiteren Version ebendiesen ach und das führt jetzt doch etwas ins Hirnzerbrecherische.

Das die Dinge aus dem Nichts entstehen. Das sie im Entzweien erst Gestalt annehmen. Davon bin ich überzeugt. Ach gäbs kein Du noch Ich, es gäb nur Mensch.

Nungut. Der Prozess ist zu Ende gelaufen in meinem Hirn. Keine Ahnung, ob das jemand versteht. Ich schreibs ja auch nur, weil ich es schreibe. Lesen müssen es die Anderen, weil sie es lesen. Die Anderen können es auch genausogut nichtlesen … achja und ich hätte es auch nichtschreiben können, fällt mir gerade ein.

Aber dazu ist es jetzt zu spät.

Herzerhellend: Die vier jungen Menschen, die vorm Radelhändler standen voller Gepäck und sich Reifen und Felgen reparieren ließen. Auf dem Weg von Heidelberg seit anderthalb Tagen, wollen sie nach Brüssel radeln.

 

Verdruss

Jaja, „Verdruss“ soll er heißen, der heutige Blogartikel, obschon ich guter Laune bin, obschon ich gestern Abend schlechter Laune war, weil ich mich den lieben langen gestrigen Tag in zwei Betriebssystemen auf zwei Rechnern herumgetrieben hatte, versucht hatte, Probleme zu lösen, scheiterte und im galoppierenden Scheitern gegen Abend mehr und mehr verdraß.

Die Nacht wusch den Verdruss zum Glück dahin. Mit den ersten Morgenstrahlen in eiskalter Bude erwacht, mich aus dem Bett geschält. Das Thermometer zeigte sechs Grad und am Arbeitsplatz waren es immerhin zwölf Grad in direkter Nachbarschaft zu den frischen Pepperonisämlingen. Die können so nie und nimmer etwas werden. Draußen vor der Tür zeigte das Thermometer minus zwei, was bedeutet, dass es im raureifigen Garten mindestens minus vier oder noch kälter ist, schnell wieder rein, Kaffee kochen, Feuer im Ofen schüren, da weiter machen wo gestern aufgehört mit dem einen der beiden verdrießlichen Rechner und naja, das Ding läuft doch, lässt sich nutzen, darfst es nur nicht runterfahren, Herr Irgendlink, sonst dauert es wieder eine halbe Stunde und drei brachiale Neustarts, bis es wieder da ist. Okay. Das Ding ist auch zehn Jahre alt. Es ist alles was ich habe …

… alles was ich habe klingt doof nach Mangel, was es, gemessen an „normalen“ Umständen sicher ist. Ich meine, die blöde Künstlerbude, in der ich existiere – oder „hause“, wie einst die Presse schrieb, ist ja auch nicht so wie sie normale Menschen als gut ansehen würden. Die letzten Winter denke ich immer öfter, ich halte das nicht mehr aus, dieses Jahr ist schluss und die Leute, die mich sommers besuchen können das dann gar nicht verstehen, sagen, „ach was für ein Paradies, ach wie schön …“ Doch davon soll gar nicht die Rede sein.

Dass es weiter geht und der Verdruss verflogen ist, davon wollte ich schreiben. Dass ich den Frühling spüre. Schräg steht die Sonne aus südost. Am Rechner kann ich zu dieser Stunde schon im T-Shirt arbeiten. Verwaltungszeug. Heute keine Probleme lösen, sondern netzwerken und kreatives Zeug; eine T-Shirt-Idee; bloß nicht versuchen, die maroden Betriebssysteme zu reparieren.

Im Kopf sehe ich die Analogien zum großen Ganzen. Wir sind falsch abgebogen und können nicht so einfach zurück oder können gar nicht zurück und müssen den Weg zu Ende gehen. Den Weg, von dem wir jahrelang glaubten, er wird immer weiter führen, von dem manche immer noch glauben, er wird immer weiter führen, von dem manch andere wissen, dass er endet, von dem es vielen egal ist, ob er weiterführt oder nicht, weil es vermeintlich der einzige ist. Und Umkehr ist keine Option.

Es ist zum Verdrießen.

Zehn Jahre her, dass ich mal überlegte, könntest dir ja beibringen, mit zehn Fingern zu schreiben, geht schneller und ich installierte Tipp10 auf dem Rechner und übte fleißig, obschon ich ja mit nur zwei Fingern, so wie jetzt in diesem Artikel auch, recht gut zurecht komme. Zudem ist das gesund für die Schultern, das Zweifingerschreiben, weil man ja die Arme immer heben muss und nicht so verkrampft. Wie so ein wirrhaariger beethoviger Dirigent. So rede ich mich gerne raus und vor zehn Jahren hackte ich eine ganze Weile mit den zehn und machte Fortschritte. Es war ein harter Weg zurück. An konstruktive, schnell gedachte Texte wie diesen hier, war nicht zu denken und ich verfing mich in einer Art lästiger Übungsschleife aus „asdf lol öl las“ usw. Beim Tastaturschreiben war ich ähnlich fatal abgebogen wie der moderne Kapitalismus beim Umweltschutz, gehe ich hart mit mir selbst ins Gericht … jaja, das ist doch die Analogie zum großen Ganzen: Herrn Irgendlinks kläglich gescheiterter Versuch, sich das Zehnfingerschreiben beizubringen ist der petrolköpfige innere Friedrich Merz, der auf sich festklebende Leute und andere, vermeintlich schwache Krakeelende hassredet.

Nungut. Die große gemeine, vermuskte Weltenlage ist nicht gleichzusetzen mit Zehnfingerschreiben. Und überhaupt ist Zweifingerschreiben doch nur das Falschabbiegen des kleinen Mannes.

Ich komme doch zu recht.

Hätte ich bloß nicht fürs mal wieder unterwegs Bloggen diese schicke, klappbare Bluetoothtastatur gekauft und ohnein, wäre die bloß nicht so elend zwei geteilt, dass man mit dem Zweifingerschreiben eigentlich damit nix anfangen kann. Herrjeh.

Ich schreibe ja zum Glück wenig die letzten Tage, was soll ich sagen, das Ding, also die Tastatur, fühlt sich eigentlich gut an, entfaltet ihre ganze Kraft aber erst, wenn man das Zehnfingersystem beherrscht.

Nun stehe ich hier also am Ende einer Sackgasse der literarisch produzierenden Evolution mit meinen zwei emsigen Fingerlein und weiß, wie falsch Abbiegen geht. Wie natürlich es ist. Wie fatal. Wie fatalistisch man sein muss, das zu akzeptieren. Ja. Tue ich. Oder ne, vielleicht gibt es in diesem speziellen Fall ja doch einen Weg zurück?

Hab Tipp10 wieder installiert und es fällt mir leicht, die Übungen durchzuführen. Erinnere mich an die Aktion vor zehn Jahren … Disziplin, Junge, Disziplin brauchts, um dich da reinzufuchsen.

Äh, warte mal, wo wollte ich eigentlich hin mit dem Artikel? Verdruss. Achja. das war das Thema, aber das ist vom Tisch für die nächsten Stunden.

Hacke dies mit zwei Fingern auf der Tastatur des uralten angezählten Laptops und lege erst einmal Yeah Yeah Yeahs „Don’t Dispair‘ auf (was ungefähr heißt Verdrieße nicht oder verzweifle nicht).

Narr und Närrin

Druckmotiv einer Karnevallskappe in umgekehrter Schiffform mit dem Schriftzug Närrin mit drei R geschrieben. Sehr bunte Mosaik-Struktur in Farben Blau, gelb, grün und rot.

Im Seedshirtshop hab ich Faschingsbedarf

Mit der unkaputtbaren, gegen jegliche Art Alkohol resistenten Närrinnentasse gelang unseren Stardesignerinnen und -designern ein kleiner Coup. Selbst Pferdehufe oder die Reifen tonnenschwerer Fasnachtsumzugstraktoren können diesem robusten Trinkgefäß kaum etwas anhaben. Ideal für den Sekt davor und das Bier danach. Sowie den erlösenden Kaffee an einem Aschermittwoch deiner Wahl.

 

Ran ans „Länd“ | #UmsLand Bawü | Prolog

Hochkantbild einer Bärenskulptur aus Polyester. Der weiße Bär steht auf zwei Beinen und Hält die Ortsschilder von Berlin und das Ortsausgangsschild von Berlin, durchgestrichen mit Hinweis auf Gaggenau in 700 km nach oben. Er ist beklebt mit zahlreichen bunten Stickern von Unimog-Fahrzeugen. Der Hintergrund aus Pflastersteinen, einer Sitzbank und einem Spielplatz und Gemäuer lässt eine innerstädtische Position vermuten vorm Protal des Unimogmuseums ind Gaggenau.

Doch zurück in die Gegenwart. Wörth. Rheinradweg. Eurovelo. Praktisch die A7 unter den Fernradwegen. Somit sollte sie eigentlich für den internationalen Radverkehr immer befahrbar sein oder wenigstens gut umgeleitet. Genau so wie die A7 für Autofahrerinnen und -fahrer ständig offen gehalten wird. Frei sein. Ungebremstes Vorankommen Richtung Süden oder Norden.

Unter der Rheinbrücke eine Blockade. Achtung Hochwasser. Lieblos barrikadiert eine rotweiße Bake. Keine Umleitung beschildert. Die Bake steht nur bis zur Hälfte des Wegs; jemand hat sie weggezogen und der Weg, unter der Brücke hindurch, ist nicht überschwemmt. Aber das Wasser steht hoch. The Tide is High singend wage ich mich voran. Dort vorne läuft ein Mensch, den frage ich mal und ja, sagt der, man kommt da weiter. Ist kein Hochwasser. Zumindest nicht soweit die Füße tragen.

Ich folge den Schildern, überquere den Rheindeich, passiere eine Kindergartengruppe, hier ein Ebiker, dort eine Hundegassigängerin. Die Sonne lacht. Ich bummele. Stoppe ständig das Rad, um zu fotografieren oder zu filmen. Vielleicht, mit etwas Glück und Besinnung, finde ich zu meiner alten Balance zurück, mutiere zur „Kunstmaschine“, finde den richtigen Reisetakt. Die letzten Jahre unterwegs im Schnellschnell waren nicht gut für die Kunst. Zwar hatte ich die Gopro immer im Anschlag, filmte was mir auffiel, filmte was geht, aber mit Etappen bis 160 Tageskilometern, das weiß ich, bin ich viel zu schnell, um Kunst zu schaffen und das Radreise-Kunst-Konglomerat in eine für beide Seiten angenehme Form zu gießen. Beide Seiten? Meine zwei Ichs. Der voranstrebende Naseweiß, der weiter weiter weiter will, steht im ewigen Clinch gegen den blümchenträumenden Kunstbub, der hier mal steht, dort mal nascht und sich Zeit, unendlich viel Zeit für den Moment nimmt. Die letzte gelungene Langstrecke, an die ich mich erinnere, waren die Flussnoten, 2016 den Rhein abwärts. Darauf folgte eigentlich nur noch Huschhusch, Hektik, Schadensbegrenzung und eine Pandemie und Müdigkeit und Frust und Selbstaufgabe.

Dieses Jahr wird besser. Das verspreche ich mir eigentlich jedes Jahr. Dieses Jahr machste wieder mal etwas, was dir selbst entspricht. Koste es was es wolle.

Bald bin ich in Frankreich. Ohne es zu bemerken habe ich die Grenze bei Neuburg überquert. Fahre durch Rheinauen, stapfe hie und da durch schlammige Felder Richtung Horizont, weil dort etwas ist, das ich fotografieren möchte. Ein Hochsitz. Eine Baumzeile, ein Industriegebäude oder tatsächlich auch einfach nur Horizont, der näher in die Kamera kommen soll als von radwegischer Perspektive erkennbar.

Schlammige Füße. Langsam summieren sich die Kilometer auf dem Tacho. Ich schaue nicht so genau hin. Eigentlich führt meine Route doch direkt zur nächsten Brücke, denke ich, bei Beinheim im Elsass, kann doch nicht so weit sein. Und doch, es ist so weit. Bald dreißig Kilometer muss ich kurbeln. Das hatte ich zuvor gar nicht auf dem Schirm. Südlich von Lauterbourg durchquere ich ein „Wenns-rappelt-dann-renn-Gebiet“. Am Radweg steht ein Schild auf Französisch, dass es eine Gefahrenzone ist und falls ein Alarm losgeht, soll man die Zone schnell verlassen. Etwas weiter westlich nahe Haguenau ist auch solch eine unheimliche „Wenns-rappelt-dann-renn-Zone“. Ich glaube dort ist es ein Munitionslager. Die Schilder bei Haguenau legen einem obendrein nahe, dass man zügig durchfahren soll und nicht pausieren. Das ist hier anders. Ich tippe auf Chemie.

Die Auengebiete jenseits der Siedlungen sind unheimlich schön. Winterverschlafen. Abgestorbene Bäume im Sumpf, große weite Teiche, Schilf, Wiesen, kleine intakte Boote, kaputte halb abgesoffene kleine Boote und in Munchhausen gibt es ein feines touristisches Areal mit im Sommer wohl offener Tourimus-Infrastruktur.

Die schräg stehende Sonne im Süden, auf die ich zu fahre, macht Lust, einfach weiter zu radeln. In zwei Tagen könnte ich am Jura sein, könnte westwärts queren zwischen Vogesen und Jura. Es wäre wie früher vor dreißig vierzig Jahren, als ich oft nach Süden radelte, mich an dem hellen Streifen Sonne im Süden orientierte, dem Winter davon radelte, versuchte, per Radel nach Gibraltar zu radeln und wie oft bin ich gescheitert!

Meine heutige Mission lautet, den Rhein zu überqueren und ins Murgtal zu radeln. Es ist Donnerstag. Freitag gegen Mittag bin ich mit Frau Laut am Bahnhof in Freudenstadt verabredet. Gemeinsam wollen wir Freitag-Samstag nach Pforzheim weiter radeln. Freudenstadt liegt am oberen Ende des Murgtals. Wahrscheinlich ist die Murgquelle ganz in der Nähe. Eine S-Bahn von Karlsruhe führt hinauf. Jedes Dorf hat einen Bahnhof. Das sind super günstige Bedingungen, falls es mit der Zeit knapp werden sollte.

Selz. Ich kann die Brücke sehen. Zwei Kilometer flussaufwärts. Aber da ist auch ein Hinweisschild zur Fähre. Im Rhein sehe ich ein Ponton, auf dem schon ein Radler rastet. Wer weiß, vielleicht fährt die Fähre ja. Obschon ich kein Schiff sehe. Hundert Meter weit führt der Steg hinaus zu einem runden Ding mit einem Häuschen darauf. Verflixt! Das ist die Fähre. Jaja, sagt der andere Radler, du bist schon auf dem Schiff. Die Überfahrt ist kostenlos und die Fähre funktioniert ohne Motor. Mittels Seilzügen, die an einem über den Fluss gespannten Tau hängen, wird der Schiffskörper schräg in die Strömung gestellt und das Wasser treibt ihn an. Geht ganz schön schnell. Die Überfahrt ist gratis. Einen Motor gibts auch, erklärt mir der andere Radler. Falls die Seile reißen. Es kam wohl mal vor, dass man die Fähre flussabwärts wieder einsammeln musste nach einer Seil-Havarie. Da isser wieder, mein Möglichkeitsbaum. Fünfundzwanzig Kilometer bin ich geradelt in der sicheren Gewissheit, dass ich über die Brücke fahre und nun, zack, Abzweig, Fähre, andere Route als geplant.

Baden-Württemberg. Endlich. BaWü. Hallo neues Kunstprojekt, hallo neues Bundesland, hallo „The Länd“. Hier bin ich. Ich will über Dich schreiben. Dich erforschen. Fotografieren und filmen. Lang hab ich mich geziert. Seit Jahren liegt mein Reiseplan bereit. Jaja, ich gebe zu, ich habe Respekt vor Dir. Neben Sachsen bist Du für mich das zweitunheimlichste Bundesland Deutschlands. Ich weiß nicht woran das liegt. Doch ich weiß es: Kehrwoche. Kehrwoche und Wohlgeordnetheit Flusenaufklauben (danke, Frau Hauptstadtethnologin für die Geschichte vom Flusen aufklauben). Wohlgeordnetheit, Flusen aufklaubende Kinder und Kehrwoche und mein Dünkel, dass vermeintlich alle Menschen super sauber, super ordentlich sind und dass ich als lapidarer Europenner anecken könnte … nennen wir es beim Namen: Vorurteile.

Nieselregen treibt mich nach Rastatt. Ich folge einem Ebiker, der einige hundert Meter vor mir fährt. Der Radweg folgt der Landstraße, quert verschiedene Straßen. Dann erreiche ich die Murg. Ihr muss ich folgen. Der Fluss ist vielleicht 15, 20 Meter breit und in Rastatt kanalisiert. Feierabendverkehr. Blank liegen die Nerven. Ein Männlein mit röhrendem Motor macht seinem Frust Luft, im Stau zu stehen. Ich schlängele mich vorbei. Verliere die Murg. Verliere die Radwegeschilder, frage mich zum Radweg durch, stehe im Stau, finde Radwegschilder, erinnere mich an 2018, als ich im Paminablog Rastatt durchquerte, erinnere mich, dass ich auch damals umher irrte.

Nichts hat sich getan für die Radwegeinfrastruktur in fast sieben Jahren. Null, nada, niente! Die gleiche nicht vorhandene oder miese Beschilderung. Die selbe schäbige Betonbrücke, die man auf einer 15 Prozent-Rampe unterquert, drüben wieder hoch muss, auf unbefestigten Pfaden landet, aber dann, so sagt es mir ein junger Mann, folge dem Gewässer und das ist nicht die Murg. Das Gewässer heißt Gewerbekanal. Ich folge ihm bis Kuppenheim und ab dort läufts mit der Tour de Murg.

Hochkanbild einer Bärenskulptur aus Polyester. Der weiße Bär steht auf zwei Beinen und Hält die Ortsschilder von Berlin und das Ortsausgangsschild von Gaggenau, durchgestrichen mit Hinweis auf Berlin nach oben. Er ist beklebt mit zahlreichen bunten Stickern von Unimog-Fahrzeugen. Der Hintergrund aus Pflastersteinen, einer Sitzbank und einem Spielplatz und Gemäuer lässt eine innerstädtische Position vermuten vorm Protal des Unimogmuseums ind Gaggenau.
Bärenskulptur vorm Unimogmuseum in Gaggenau.

In Gaggenau schaue ich mir das Unimogmuseum an. Nur von Außen. Luge durch die großen Fenster, fotografiere, mache ein Quatschvideo wie ich mit dem Reiserad über eine Schau-Rampe schiebe, auf der normalerweise Unimogs aufgestellt werden oder die darüber fahren, zur Schau eben. Es dunkelt. Ein paar Leute räumen Kuchen und Geschenke aus ihren Autos, tragen sie hinein. Offenbar kann man in dem Museum seinen Geburtstag feiern. Ich muss an Freund Journalist F. denken. Der hätte Spaß gehabt an dem Museum. 2018 als ich vorbei radelte und es dem Journalisten noch gut ging, er noch lebte, hatte ich überlegt, dass man mal einen Ausflug in das Museum machen könnte.

Weiter auf der Tour de Murg, die links des Flusses auf der ruhigeren Talseite aufwärts führt. Die andere Seite gehört der Bundesstraße. Und die Bahn wechselt je nach Lust und Laune. Fast dunkel ists als ich Gernsbach durchquere und der Regen stärker wird. Ein Junge folgt mir und will und will nicht überholen. Als ich am Ortsausgang stehen bleibe, um nachzudenken, bleibt er auch stehen und als ich keine Anstalten mache, wieder loszuradeln, fährt er weiter. Kein Licht hinten. Okay. Aber wir sind auf der kaum befahrenen Radroute. Da oben eine Kirche. Ich muss mich mit mir selbst beraten, könnte dort im Vorbau etwas kochen und dann in die Nacht weiter radeln. Sitze eine Weile auf kaltem Stein. Es regnet sich ein. Das wird kein Spaß bei Dunkelheit im Regen flussaufwärts zu radeln, denke ich. Finde eine Schutzhütte hinter der Kirche. Nur 160 Meter entfernt. Ein Grillplatz. Der Weg ist durch eine Schranke abgesperrt. So will es das Schicksal, denke ich. Die Hütte ist gerade groß genug, um das Zelt darin aufzubauen. Ich koche Nudeln, trinke Wasser, richte das Lager ein. Am Ortsrand gehen Flutlichter an. Fußballtraining.

Es regnet die ganze Nacht.


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Wie ich vor dem Lidl stand in Wörth und zwei Tage später in Wildbad – Wurmloch zur Hölle | #UmsLand BaWü

Hellblau blassrotes Schriftmotiv, trikolorisch geteilt von zwei schrägen Linien. Schrift "Unter den Heilpflanzen ist das Fahrrad eine der wirksamsten".

Die Jonglierbälle sind mittlerweile alle in der Luft. Ich bin allein im uralten Fahrradabteil des uralten Zugs mit den drei Stufen hoch hinaus. Das Radel schaukelt. Winden, Kandel, Wörth, runter auf den Bahnsteig, Fahrstuhl kaputt, zig Stufen abwärts in die Unterführung und drüben, Blog seis gelobt, der Aufzug funktioniert! Endlich im Sattel. Baden-Württemberg ist nicht mehr weit. Nur noch Agglomerationsgewusel, Beton, Monstermärkte, Brücken, das Geschrei von Schienen unter Radreifen, das Zischen von Autoreifen auf Teer und der Rhein. Wörth ist nicht charmant. Viel Industrie. Große böse Straße. Daneben der Radweg, der aber irgendwo die Straße kreuzt. Ich hasse das. Einkaufen. Ein Lidl.

Ich weiß zu diesem Zeitpunkt nicht, dass es in Lidlfilialen in der Eingangsschleuse Kaffeeautomaten gibt, die den „besten Kaffee der Welt“ ausschenken. „Und supergünstig,“ sagt Frau Laut zwei Tage später „und deine eigene Tasse kannst du auch mitbringen.“ Wir sind in Bad Wildbad an der Enz. Ein feines Kurstädtchen. Der Eingang des Lidlmarkts zeigt fast exakt nach Süden. Samstagsgeschäftige Welt. Sonne pur und unglaublich blauer Himmel, eiskalt zwar, aber die Sonne ist schon stark. Ich packe das Zelt aus, das noch voller Eis und Schnee ist von der letzten Nacht, schüttele den Schnee raus, hänge es am Ende der Einkaufswagengasse auf. Frau Laut ist im Laden, hat meine Tasse mit und wird uns ein kleines Frühstück on the Road zaubern. Mit dem weltbesten Kaffee, den es in der Eingangsschleuse zu Lidlmärkten für einen Euro zu kaufen gibt.

Ein wunderbarer Tag. Es dürfte gegen Mittag gehen. Wir haben noch gut 20 Kilometer bis Pforzheim. Geschäftiges Hin- und Her unterschiedlichster Menschen. Eine Frau mit dreirädrigem Elektroroller. Wir plaudern ein bisschen über dies und das, über die heilsame Kraft des mit geringen Mitteln mobil seins. Die Frau hatte vor nicht allzu langer Zeit auch noch ein Fahrrad, tourte im Alltag, aber nun, die Knie, die Hüfte, das Alter und der kleine Elektroroller sei ein Segen. Ein schönes Gespräch, das unser aller Herzen wärmt. Sonne tut ihr Übriges.

Wir fragen rum, welches der beste Radweg Richtung Pforzheim sei. Die Karte verzeichnet nämlich mehrere Möglichkeiten, eine Radroute links der Enz, eine rechts der Enz und verstricken uns in ein Gespräch mit einem freundlichen Mann. Noch. Freundlich. Das Übliche da lang soundso, dort lang soundso und da ist Waldweg, dort Teer. Der Typ kennt sich aus und scheint uns und Radelnden allgemein geneigt, jaja und das Wetter, ein Segen, tut sooo gut, da sind wir uns einig. Ein Smalltalk-Schnipsel gibt den nächsten und wenn wir rechts der Enz fahren, so sollten wir spätestens in Höfen nach link der Enz wechseln über Schiene, Straße und Fluss.

Das Gespräch ist so sonnig und blauhimmlig wie die Samstagswelt. Der Kaffee getrunken und eigentlich müsste man nur noch Tschüss sagen und wir wären im Frieden und mit guten Gefühlen auseinander gegangen. Genau so wie wir mit unserer Elektrodreiradfreundin auseinander gingen.

Hätten wir nur nicht erwähnt, dass wir zu Gedenkfahrt von Natenom unterwegs sind. Dass Andreas ein Freund war, dass er bei einem Unfall getötet wurde, dass es sich jährt, dass wir alle zusammen kommen zum Gedenken, sagen wir und der Typ antwortet: „Jaja, ich weiß. Der war selber schuld“.

ZACK!

Erst etliche Minuten später spüre ich, was passiert ist. Das war ein eiskalter, gemeiner, mindestens unsensibler, wenn nicht sogar niederträchtiger Schlag in die Magengrube. Ich kenne das Gefühl. Wohl jeder Reisende,  jede Reisende kennt es. Dissonante Begegnungen, die unterschwellig unangenehme Gefühle auslösen, die sich erst Minuten oder Stunden später in einem ausweiten und Macht gewinnen und es gibt keine Möglichkeit, das einfach so zu den Akten zu legen. Und was hätten wir auch tun können? Zum Pöbeln und Beleidigen waren wir erstens nicht impulsiv genug und zweitens viel zu freundlich und besonnen. Der Typ verschwindet im Gewusel des Parkplatzes und wir schleppen den Boxhieb in die Magengrube nun Kilometer weit mit. Trotz aller Ablenkung und allem Schönen, das das Reisen per Fahrrad bietet, kann es zig Kilometer dauern, bis man die Demütigung, die Unsensibilität, die Gemeinheit mit sich selbst geklärt hat. Oft ist man ja alleine unterwegs. Was dann bleibt, ist der Zeit zur Dauer verhelfen. Heilung kommt. Irgendwann.

Darüber reden, wenn man zu zweit ist, hilft. Darüber bloggen – auch eine Woche später, so wie jetzt – hilft. Zu wissen, dass so etwas mit den unberechenbaren Unsensiblen oder gar Bösen, die da draußen herum laufen, immer wieder passiert und es zu akzeptieren, hilft.

„Warum konnte er nicht einfach nichts sagen?“ frage ich Frau Laut „, ich meine, stell Dir vor, jemand sagt, er gedenkt eines Freundes, einer Freundin, die tragisch ums Leben kam, sagst du dem dann einfach so ins Gesicht, der war selber schuld? Oder irgend etwas anderes als, mein Beileid? Hm? Vielleicht tun ihm seine Worte ja jetzt leid, Frau Laut?“

„Nein.“

Schweigend radeln wir und das nächste Gute, an das ich mich erinnere, ist ein schattiger, eiskalter Wald, in dem hunderte von Ästen herumliegen, auf denen sich Haareis gebildet hat.


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