Zwei Mädchen ohne “Rollen”

Dann, sonntagsfrüh pustete ich Dunst in eisige Kälte. Langsam lichteten sich die Träume der Nacht. Ich befand mich in der Ten Katestraat, unweit einer „Islamitischen“ Metzgerei, Schächtung und Blut. Cousin J. seilte die Habseligkeiten ab, Kisten voller Bücher, Tüten mit Wäsche, Matratze, Fahrräder, dann den Computer, und ich verstaute das Zeug im Auto.

Die Welt wurde bunt, als die Sonne in die Straße einschwenkte und jeglicher Schatten verschwand. Derweil sauste mir ein Sack voller Sperrmüll entgegen. „Wassen das? Coole Tastatur, kanns‘ doch nicht wegschmeißen,“ rief ich. „Die ist kaputt,“ sagte mein Cousin. Als er nach unten kam, puhlte er die Rollen-Taste heraus, überreichte sie mir. „Da, ein Glücksbringer.“ Ich war gerührt.

Kaum hatte er den Müllsack um die Ecke gebracht, tauchten zwei Mädchen auf und trugen diverse Gegenstände aus dem Sortiment bei sich. Unter anderem die Tastatur ohne Rollen, sowie ein noch funktionstüchtiges 286er Notebook mit 9 Zoll-Display. Dummerweise hatten sie das Netzteil vergessen.

Rollen-Taste

Was war eher da, die Möbel oder das Haus?

Es begab sich, dass ich erschrak, samstagsabends, als ich die steile Treppe durchs stockdunkle Treppenhaus hinauf kletterte in die Cousins-Wohnung. Er stieg mit Stirnlampe vor, sagte: „Manchmal, wenn die Sehnsucht nach dem Pfälzer Wald mich packt, laufe ich die Treppe ganz weit innen.“ Tastend prüfte ich die Stufen: „Sie sind wie eine Dreier Tour im Dahner Felsenland, nicht?“

Angekommen in der Wohnung versetzten mich die vielen Möbel in Angst. Das alles durchs Treppenhaus? Doch der Cousin führte mich direkt ins Schlafzimmer, wo sich Kisten und Tüten stapelten, das Bett kaum noch auszumachen war. „Die Möbel nicht, die gehören dem Vermieter.“ – „Und die Glotze?“ – „Auch nicht.“ Alles Schwere schien dem Vermieter zu gehören, respektive, schien sich schon seit ewigen Zeiten, vielleicht sogar seit dem Bau in der Bude zu befinden. Auch ein Phänomen: was war eher da, die Möbel oder das Haus?

Bauesoterik in den Niederlanden

Wie das Bild Fahrrad am Kran (Eintrag zuvor) deutlich zeigt, haben die Niederländer das Bedürfnis, den Mangel an Bergen durch eine Überbetonung der dritten Dimension zu kompensieren. Ein bauesoterisches Phänomen. So werden längliche Gegenstände, die man normalerweise liegend transportiert, grundsätzlich gen Himmel ausgerichtet. Stolz lässt man sie meterhoch ins Firmament ragen.

Umzüge, wie man sie hierzulande in der Stille enger Treppenhäuser vollzieht, trägt der Niederländer stolz nach Außen: „Seht nur, ein Kran! Hohohooo!“ Und an diesem Kran werden sämtliche Habseligkeiten auf- oder abgeseilt, selbst Betten, Fernseher, Kommoden. Aus bauesoterischer Sicht beeindruckend sind zweifellos z.B. auch die fein säuberlich aufgeschütteten Sandbunker, auf deren Gipfel exponierte Neuwagen zum Kauf verlocken.

Doch zurück zum Umzug: Bauesoterik hin, Bauesoterik her, ein kleiner Kran vor dem Fenster hat für die Bewohner des dritten Stocks unbestrittene Vorteile (wo wäre man hierzulande auf die Idee gekommen, jemandem, der im dritten Stock wohnt, beim Umzug behilflich zu sein, vor allem wenn die Treppe wie folgt aussieht:

Treppe in Amtserdam

Dann Amsterdam

Samstagsabends ortsunkundig durch Amsterdams Straßen gezockelt, die Wohnung meines Cousins suchend. Das ging so: Bei multimap.com Straße und Hausnummer eingegeben, und die Geo-Koordinaten ausrechnen lassen. Sodann, das GPS mit den Daten versorgt, 70 km vor Amsterdam eingeschaltet. Das Gerät zeigt nur die Richtung an. Keine Karte. Nichts. Weshalb die Suche im Einbahnstraßen-Djungel zu einem kleinen Abenteuer geriet. Immerhin gelang es mir, mich bis auf 300 Meter der Cousins-Wohnung zu nähern. Von dort zu Fuß weiter. Prima funktioniert.

Cousin J. zieht um

Sonntags früh: Umzug auf Niederländisch

Nur ein Schnippen mit göttlichen Fingern

Samstag Auto gemietet und den kürzesten Weg nach Amsterdam genommen. Der führt über Trier nach Belgien, wo mir unweit von Liége in den Sinn kam: „Dieses wunderbare Netz aus Straßen und Verkehrsknotenpunkten! Was haben wir es doch zu etwas gebracht in den letzten 3000 Jahren, wir Menschheit.“ Ich schmunzelte und versuchte die Windschutzscheibe des Vito mittels Scheibenwaschanlage zu reinigen. Scheiterte. Aber da ich nach Norden brauste, war es nicht so schlimm mit den Spiegelungen. Nähe Maastricht wunderte ich mich, wie nahe Menschen am Fluss wohnen können, stellte das Radio lauter, weil ein gutes Lied gespielt wurde. „In 3000 Jahren wird von alldem vielleicht nichts mehr übrig sein. Kein Lied, keine Straße, keine Häuser und vielleicht auch kein Fluss. 3000 Jahre sind eine lange Zeit. Da kann viel passieren“, fabulierte ich. Ich summierte die 3000 Jahre menschlicher Vergangenheit mit den 3000 Jahren mutmaßlicher Zukunft und errechnete 6000 Jahre Hochzivilisation. Eine lange Zeit für einen Menschen, aber nichts im Vergleich zur Unendlichkeit. Nur ein Schnippen mit Gottes Fingern.