Die Realität ist eine haarsträubend antastbare Annahme.

Mal wieder ins Logbuch kritzeln. Über Kopf hängend, das Lied von der weiten Welt singend und jene Nacht verfluchend, in der man in einem Anflug jugendlichen Übermuts mit bloßen Lenden im Bett lümmelte – eine fatale Sache in einer Wohnung ohne Zentralheizung. Über dem friedlich Schlafenden kühlt die Luft unbemerkt, was den Lenden nicht bekommt, oh erbärmlicher Schmerz.

Egal. Was sonst passiert?
Nächtens unter Sternen von Haus zu Haus unterwegs und mich daran erfreut, dass der Himmel mitläuft, das heißt, die Sterne sich scheinbar keinen Millimeter bewegen, während man sie anstarrt in pechschwarzer Nacht. Die Häuser jedoch ziehen wie Kulissen.

Später verfocht eine Kaffeerunde, dass Früher alles besser war und man die Kinder noch getrost draußen im Dreck spielen lassen konnte, ohne sich darum zu sorgen, ein Kinderschänder könnte sie holen. Ich hielt entgegen, „das Einzige was sich geändert hat, ist die Berichterstattung. Es wird mehr berichtet, intensiver, näher und somit scheinen die Dinge, über die berichtet wird auch gefährlicher, größer und gemeiner. Aber im Grunde,“ mutmaßte ich, „hat sich nichts geändert.“

Wohl wissend, dass ich mich mit meinen Behauptungen auf ähnlich dünnem Eis bewegte, wie die Kaffeerunde, es somit nur ein einziges Fazit gibt: wir Menschen glauben zu wissen, wissen aber nicht und im Kopf nehmen Dinge Gestalt an in einer verzerrten Weise – warum nur erscheint einem so vieles real, was nach rein objektiver Sichtweise ungeprüft und indifferent ist?

Der Künstler M., ein angenehmer Mensch mit sehr guten Ideen, kam mir in den Sinn, von dem ich bis vor einer Woche noch sicher war, er lebt, jaja, das war meine Realität. Ich müsste nur anrufen oder eine Mail schreiben und wir könnten dies und das besprechen. Er ist am 13. März 2005 gestorben.

Zurück zu den Sternen, die so wunderbar harmonisch mitlaufen. Wenn man luftguckend durch die Nacht spaziert, kann einem mitunter in den Sinn kommen, Dies oder Das steht in den Sternen, aber das ist auch nur eine fiktive Annahme, die einem das Leben ein bisschen erleichtert.

Mann mit Zettel in der Hand und seltsamem technischen Gerät spaziert scheinbar ohne jegliches Motiv durch die Gegend

Guter Tag heute. Ich hatte überlegt, blau zu machen und zum Geocachen in die Südpfalz zu fahren. Aber das Sonnenstudio wartet schon über eine Woche auf seine Homepage, also hab ich mir die Quelltexte vorgeknöpft und CSS und HTML validiert, die letzten Fehler eliminiert, das Ding hochkopiert, war glücklich so gegen 12 Uhr, als in beiden Browser, IE und Firefox, die Seite genau gleich aussah.Jetzt nur noch das Problem, einen geeigneten Billigprovider zu finden.

Dann kam Post. Neues GPS mit Kartenunterstützung und der Möglichkeit zum GPS-Drawing.

Natürlich wollte ich es sofort ausprobieren und hab mir einen sog. Multicache ausgesucht. „M&M“, ein Spaziergang von sechs Kilometern. Erstmals alleine los getigert, weil mir der Sinn danach stand, ich nachdenken wollte, das Wetter schön war und ich mir sagte, och, Freitag, da kannste mal …

Für diejenigen, die es zum ersten Mal hören: Geocaching ist eine ungemein kreative Sportart, so ähnlich wie das Kinderspiel Schnitzeljagd, nur dass man es mit milliardenteurer Satellitentechnik betreibt.

Die Mitspieler kredenzen einander spannende Wanderstrecken zu den pitoresken Highlights, die nur sie selbst kennen. Ein Insidersport.

Was hab‘ ich für wunderbare Orte in unmittelbarer Nachbarschaft gefunden, nur durch dieses Hobby, Orte, die ich alleine nie im Leben gefunden hätte.

Wie auch immer.

Erstmals mutterseelenallein und ohne jegliches Haustier hinausgezogen, um auf den Höhen rund um die Stadt erstens: wunderbare Landschaft, Sonnenuntergang, tollen Spazierweg zu finden und zweitens: zahlreichen Hundebesitzern zu begegnen, mich zu fürchten und mir ein bisschen komisch, ja, verschworen vorzukommen: Mann mit Zettel in der Hand und seltsamem technischen Gerät spaziert scheinbar ohne jegliches Motiv durch die Gegend. Was tut er? Verscharrt er eine Leiche?

Mit Nichten.

Am Ende des sechs Kilometer Rundkurses war nicht nur der gedankenvolle Kopf friedlich und leer, ich war um einen kreativen Hike reicher, habe den Sonnenuntergang beobachtet und das Wochenende bestens eingeleitet.

Vielleicht schaffe ich’s ja Morgen rüber in die Südpfalz?

Achloch und unterirdische Spaziergänge.

Gestern mit den Cachern 5P. und Dr. A. unterwegs. Beides ambitionierte Fotografen mit Hang zum Morbiden. Deshalb können die Fotolocations nicht düster genug sein.

In der benachbarten Kreisstadt H. machten wir ein altes Fabrikgelände ausfindig, drangen ein und gaben uns dem Rausch der Fotografie hin. Ein riesiges, weitgehend leer stehendes Gelände. Marode Dächer, überall plätscherte Wasser, und ein geisterhafter Staplerfahrer brauste umher, denn ein Teil des Geländes wird offensichtlich von einer Baustofffirma benutzt. Wir mussten auf der Hut sein, dass er uns nicht sieht. Einmal kam er bis auf wenige Meter zur Fotohalle, stapelte etwas, rempelte mit Wucht an die Hallenwand. Eine Staubwolke stieg auf. Wir überlegten, die Session zu beenden, aber der Geschmack des ungemachten Bildes war zu mächtig.

Habe ein neues Desktopmotiv gefunden: An einer zerbröckelnden Wand war „ACHLOCH“ geschmiert, eine Meisterleistung des Vulgäralphabetismus.

Es reiht sich ein in die Desktopmotivserie „Schmutziges Wort an Wand“.

Zu Mittag in einer Currybude eingekehrt. Die Bedienung wischte mit schmierigiem Handtuch den Tisch, fragte: „Hab‘ mal gehört, bei Mac D. sind mehr Bakterien auf dem Tisch, als auf den Klobrillen.“

Das sollte wohl den Appetit anregen. Ich stellte mir die Klobrillen vor in der Imbisbude und eine mikroskopische Aufnahme ihres Handtuchs, erwähnte dummerweise: „Die universell meisten Bakterien sind auf Computertastaturen, hab ich mal gehört.“

Dies veranlasste die Frittendame zu einer ausschweifenden Beschreibung ihrer Computertastatur, inlusive des Os, welches bei ihr aus zwei Ringen bestehe, ähem, die O-Taste sehe aus wie die Zwiebelringe, nur schwarz, sagte sie, guten Appetit.

Da wir hungrig waren und der Fraß billig und wir sowieso vollkommen verdreckt aus der alten Fabrik gekommen waren, würgten wir den Mist runter.

Später drangen wir in ein altes Bunkersystem ein. Jemand hatte mit dem Schneidbrenner ein Loch in die Stahltür geschnitten. Hatte ich anfangs gedacht, naja, wird son Bunker von dreißig vierzig, vielleicht hundert Quadratmetern sein, entpuppte sich das Ding als beinahe 1 km lange Schachtanlage, die zunächst schnurgerade in den Berg führt, sich in der Mitte gabelt. Groß genug, um mit dem Auto darin zu fahren. Beide Gänge waren am Ende zugemauert. Einige Vorgänger hatten sich an den Mauern zu schaffen gemacht. Die letzten Besucher datierten an der Schachtwand auf den 26. Februar 2006. Wir hinterließen keine Signatur. Dr. A. machte mit seiner sündhaft teuren Kamera exorbitante Fotos. Mit einem Laserpointer malten wir Linien in die Luft. An der einzigen Abzweigung in dem Schacht war die Akustik wegen des Echos extrem angsteinflößend. Jedes Wort spiegelte sich in dem kurzen Stichgang, kam ungebrochen zurück, so dass die Frage, „Wie heißt der Bürgermeister von Wesel?“ mit „n-Wesel“ beantwortet wurde.

Selbst geschmiedete Waffen

Derzeit frisst der Holzofen ungefähr zwei Weinkisten feinste Akazie.

Holz wärmt bekanntlich zweimal – in meinem Fall, vom dunklen Wald drunten in der Schlucht über die ofengerechte Zubereitung bis in die Wohnung sogar dreimal.

Als ich letztes Jahr in einem Anflug von Konsumwahn eine schicke, hippe Fiskars-Axt gekauft habe, finnisches Modell, schaute mein Vater verächtlich bis traurig, dass sein Sohn es nötig hat solchen Schnick-Schnack zu kaufen. Eine Axt mit Kunststoffstiel in Quietschorange ist doch nichts Wert im Vergleich zum eigenen, selbst geschmiedeten Spalthammer. Er hatte den Eschenholzstiel mit Metall ummantelt. Der Stiel ist bekanntlich der Schwachpunkt einer Axt.

Vorhin hatte ich das selbst geschmiedete Ding wieder in den Händen.

Ich bin geläutert. Mein Vater hat Recht. Nichts geht über diese herzlichen Gegenstände, die man mit viel Pfiff und Liebe zum Detail selbst gemacht hat.

In ähnlicher Weise komme ich in der Europenner-Zone (www.europenner.de) in den Genuss einer ganz anderen Form von Waffe.

Nun beherrsche ich das Drupal CMS schon ziemlich gut und habe aus der alten Homepage ein äußerst dynamisches Webportal geschmiedet.

Vollständig über den Webbrowser administrierbar, theoretisch von irgendwo auf der Welt zu managen mit integrierter Galerie, Buchfunktion und, für mich als Kunststraßenbauer besonders wichtig, mit einer bedienfreundlichen Integration von Googlemaps.

Auch so eine Art selbst geschmiedete Waffe, nicht unähnlich meines Vaters Axt.

Ein Tag wie Genf verlassen.

Ich versuche, regelmäßiger Sport zu treiben. Also ‚rauf auf’s Rad, runter nach Homburg. Dummerweise hatte ich den Nieselregen nicht bedacht, aber nun war der stählerne Hengst gesattelt, und, hey, in ’ner Stunde biste zurück und kannst trockene Klamotten anziehen.

Dichtes Gewölk, die Scheibenwischer der Autos liefen Intervall. Das ist der sogenannte Radlerregen. Regen, bei dem man nicht vollkommen durchnässt, der einen aber auch nicht trocken lässt. Regen, in dem man stundenlang radeln kann, ohne sich unwohl zu fühlen.

Ich musste an Genf denken. Ich kenne Genf im Winter. Eine graue Suppe wie heute hängt über der Stadt und die Thermometer an der Ausfallstraße zum Flughafen zeigen 3 Grad. Auf glänzendem Asphalt strebt man der französischen Grenze entgegen. Die Gegend westlich des Lac Leman ist hügelig. Wenn kein Nebel herrscht, kann man im Süden die Alpen sehen und im Nordosten das Juragebirge. Im Winter dort zu Radeln heißt, sich Alpen und Jura in der Phantasie zu malen, meinetwegen nach einer der Postkarten, die man zuvor geschrieben hat und auf denen Berge und blauer Himmel und Kühe zu sehen sind. Es heißt auch, im dichten Stadtverkehr zu fahren bis fast zur Grenze, stets hoffend, die Sonne bricht irgendwann durch, denn Genf, das ist doch das Tor nach Süden, oder?

Weit gefehlt. Die Rhone schlängelt sich durch ein kaum durchschaubares Tal, so dass man über Stock und Stein und steile Straßen irgendwie Richtung Lyon finden muss.

Eine Gegend nicht unähnlich meiner Heimat, der Saarpfalz.

Wohl deshalb schwelgte ich in Erinnerung. Die Stimmung und die Atmosphäre stimmten überein mit „Genf verlassen.“

Vielleicht war es dieses esoterische Gefühl, eins zu sein mit dem Universum, welches die Erinnerung so lebendig machte. Nicht mehr trennen zu vermögen, ob man Regen ist, Wolken, Lunge, Luft, Wiese, Landstraße oder Radler.