4:45 Uhr. Perversfrüh. Gut geschlafen auf einer Wiese nördlich von Nienburg in der Nähe von Drakenburg. Die Autobahn, etwa einen knappen Kilometer entfernt südöstlich rauschte die ganze Nacht. Ein komisches Konzert untermischt mit Vogelzwitschern, das ähnlich vehement aber in anderer Frequenz den Raum beherrscht. Ab und zu gebrochen vom Bellen eines Rehs. Blök blök. Die wiederum hätten das Potenzial, es mit den schneidenden Geräuschen aufgemotzter Motorräder und Automotoren aufzunehmen. Schienengeräusche. Die Bahnlinie hinter mir scheint stiilgelegt. Das hatte ich bei der Lagerplatzsuche am Abend schon vermutet. Ab Nienburg schuftete ich mich den D9 und Weserradweg hinaus, entlang des Flusses vorbei an Hafen, Sportanlagen, lungernden Menschen in Grünanlagen. Ein Polizeiauto blockierte den Weg, zwei Polizisten, ein Junge mit Fahrrad. Darf ich vorbei? fragte ich, ja, schieben sie. Was nicht einfach war, denn zwischen Auto und Zaun und Hecken waren nur ein knapper Meter Platz. Hundert Kilometer-Marke geknackt. So „fleißig“ war ich glaube ich noch nie auf einer Radeltour. Sieben Tage, nur der erste und der sechste Tag mit jeweils 90 und 97 km lagen unter der magischen Marke, die dennoch nichts bedeutet.
Jaja, ich glaube, ich habs im Griff, ich bin nicht verbissen, will nichts, habe kein Ziel und habe dennoch immer wieder Ziele. Markierungspunkte, die sich ergeben im Laufe des Tages. Oft wäre ich auch gerne daheim. Oft bin ich gerne da wo ich gerade bin. Im Sattel ist mein Daheim, denke ich, richte mich von einem Wohlfühlpunkt des Lebens zum nächsten Wohlfühlpunkt des Lebens neu ein. Immer im Jetzt ist genau richtig. Sei es in einer Stadt an Fachwerk vorbei flanierend, vor einer alten Mühle, sie bestaunend, neben einem Spielplatz rastend und ja, gestern sah ich das erste Reet gedeckte Dach. Ich bin nun der Küste recht nah. Im Kopf oft nichts oder sich wiederholende, mantrische Worte. Unfug manchmal. Kaum Böses, Schimpfworte oder gar Wut, eher rein nüchtern kommentrierendes oder Wortspielereien. Manchmal denke ich eine Einkaufsliste: Brot, Bier, Bananen, Nudeln, Tütensuppen, fünf Dinge und später in einem der meist kleinen Edeka- oder Rewe-Läden vergesse ich dann doch das eine oder andere. Ich kaufe oft ein. Zwei drei Mal am Tag bin ich in einem Laden. Das Radel sperre ich meist nicht mehr ab, weil das alte Schloss hakt und ich Angst habe, dass es nicht mehr aufzubringen ist. 25. Juni gestern. Seit vier Tagen ist der Neffe der Liebsten gestorben bei einem Tauchunfall und das nimmt mich auch mit. Der Tod reist immer mit, oft denke ich an längst gestorbene, meinen Vater, Stefan (Journalist F.), Hagen, der IT-Tausensassa; denke ans Übel der Welt, den miserablen Zustand im großen Konflikt, von dem ich nun gar nichts mitkriege und auch die Menschen um mich. Ich halte mich zurück mit näheren Kontakten, denn vertiefende Dialoge brächten mir die schiefe Weltenlage ins Gemüt. Eine Lullifulli-Einfachreise ist das ohne bösen Input. Der große Konflikt heißt die gefühlt massive Zunahme von Kriegen, und die Berichte darüber. Das macht etwas mit der informierten Gesellschaftsmasse, lässt sie sich polarisieren, Stellung beziehen ohne Ahnung zu haben. Als träte man in jeden Straßenstreit zwischen Wildfremden ein und würde Partei für den einen oder anderen nehmen. Der Junge bei den Bullen auf dem Radweg gestern: Was hat er getan? Weshalb halten sie ihn fest, kontrollieren ihn. Ist er böse? Oder ist es Routine? Oder haben sie den Falschen? Keine Ahnung, worum es geht und doch ein Bild, das einfachste im Fall: Drogenverkauf, Drogenbesitz, Drogenkonsum. Oder: ein Spanner, ein Exhibitionist, ein mutmaßlicher Räuber? Oder: Opfer eines Überfalls?
Ich weiß es nicht und trotzdem entstehen Bilder und sie machen mich sehen, genau so und so ist die Welt.
Ich arbeite wieder. Gutso. Schreibe diese Zeilen. Grob gehacktes Zeug. Eigentlich habe ich vor, die Tage eins bis vier auch noch zu rekonstruieren. Sitze im Schneidersitzbüro. Blick durchs Gaze des Zelts. Eine Stechmücke umsurrte mich, hab sie verscheucht und den Reißverschluss zugezogen. Die Wiese ist perfekt. Uneinsehbar. Hinter einer Hecke zum Radweg, der etwa 100 Meter weiter westlich liegt. Im Osten ein Weizenfeld, nicht reif genug, als dass heute früh die Mähdrescher anrücken könnten. Keine Ballen auf der Wiese, so dass auch der Abräum-LKW nicht auffährt. Ein verwaister Hochsitz, okay, Jäger sind immer eine Gefahr in der panoptischen Welt – Tag vier, der noch zum Aufschreiben wäre mit dem Thema: die panoptische Welt an der Fulda. Merks dir – im Norden die vermutlich verwaiste Bahnlinie mit der so merkwürdig sinnlos wirkenden Brücke, die über die Felder führt und im Süden die lästige Autobahn. Der Lärmpegel nimmt zu mit jeder Stunde in den neuen Tag.
Vier Tage möchte ich noch schreiben und einen Artikel für den Metalabor-Reader 10. Hab mich gewundert, warum Büttner zur Einreichung von Artikeln aufrief, obwohl das Labor doch erst im September ist (Nachtrag, 1. November 2025: vielleicht hatte ich mich geirrt mit dem Metalabor-Call for Entrys). Tag drei wird der Artikel. Freundlichkeit kann die Ursache für alles Mögliche sein. Wo war ich an Tag drei? War es nicht Tag vier oder fünf, an dem Freundlichkeit die Ursache von etwas war? Oder bin ich nicht immer freundlich, jeden Tag, so gut es geht. Außer in aufbrausenden Momenten. Wenn Lärm zu lästig.
Gestern früh beim Fährhaus schrieb ich geschützt vorm strengen Westwind in der dortigen Schutzhütte. Auf der Wiese beim Anleger liegt ein überdimensionierter Rettungsring aus Beton, eine weiß rot bemalte Betonskulptur, die immer wieder Leute anlockt für Fotos. Vier Radlerinnen und Radler, die mir in Beverungen schon begegnet sind. Ich erkannte sie, weil sie über das Selfie auf der großen Bank redeten. Eine der Frauen hatte Knieprobleme und musste sich hinaufwuchten lassen auf die Touristenattraktion in Beverungen.
Nach schreiben bis fast elf Uhr endlich los. Keine Ahnung wie weit kommen wegen Winds und irgendwie auch einer gewissen Erschöpfung. Kein einziger Pausentag bisher. Aber wie erwähnt, ich bin entspannter denn je bei einer Tour. Raspel schickte seine Adresse und Telefonnummer in Oldenburg. Das mache ich wahr. Ein Fediversumskontakt und wohl auch ein Interner fürs jährlich stattfindende Fedicamp im Wendland. Ich werde es dort hin wohl nicht schaffen. Das Fedicamp ist Mitte Juli und ich liebäugele, schon gegen übernächstes Wochenende wieder in die Pfalz oder Schweiz zurück zu kehren. Wegen? Der Liebsten, des Tods ihres Neffen, wann wird er beigesetzt? Frau Mama. Garten. F.s Tod. L.s Gedenktag. Es gibt viele gute Gründe. Dennoch: Gedenktage werden die Zeit in Stücke zerlegen. Dabei ist Gedenken doch immer und überall möglich. Und wo ist Gedenken intensiver, wenn nicht glücklich im Fahrradsattel voran kurbelnd.
Im Gegenzug stehen den zerlegten Zeiten unformatierte zukünftige Zeitabschnitte entgegen mit weiten Visionen wie etwa rauf nach Dänemark. Eine Nacht auf Fünen, einmal zum großen Strand von Römö, nach Skagen und zum versunkenen Leuchtturm und ja, auch das Herz Norwegens (eine etwa 600 Kilometer lange Radtour im Süden Norwegens. Ich hatte sie so getauft, weil die Route in etwa der Form eines Herzens entspricht) und letztlich das Kap.
Ein Kap-Erlebnis gabs gestern: Unterm Kanal, also der Kanalbrücke in Minden, die sehr breit ist eine Art Nordkaptunnelgefühl. „Mensch unter etwas von Menschen Gebautem, das Wasser obendrauf hat“, um es mal salopp zu sagen. Und eigenlich sind es sogar zwei Kanalbrücken, eine alte aus Stein und eine neue aus Stahl. Unter der Brücke stelle ich das Radel ab und steige die Treppe hinauf, die zwischen den beiden Kanalbrücken nach oben führt. Mal eben kurz zur Aussichtsplattform. Man sieht: Kanal. Jemand sagt: da gehts nach Berlin. Wegen des Winds, der in diese Richtung weht, bin ich verlockt, den Kurs zu ändern. Zum Glück steht das Radel unten vor der Treppe und müsste erst da hoch. Ein feiner Kipppunkt der Reise ist das. Es fehlt wenig. Das bedeutet aber auch Freiheit. Später lässt der Wind nach und ich irre auf den vielen Radwegen umher, verliere den Weserradweg, bzw. es gibt verschiedene Routen und ohne Brille erkenne ich die Symbole nicht. Es fehlt ein Konzept, finde ich. Fernpunktangaben. Nienburg ausgeschildert hätte ich mir gewünscht. Stattdessen hangele ich mich von einem 15 Kilometer entfernten Ort zum nächsten, vielleicht 12 Kilometer entfernten Ort. Ein Rennradler erklärt mir grob den Weg nach Nienburg und das Geheimnis scheinen die wenigen Brücken zu sein, die man nutzen kann. Letztlich nehme ich am Abend die Bundesstraßenradwege, was zwar laut und dreckig ist, aber es fühlt sich nicht mehr so schlimm an wie tagsüber im Vollverkehr.
Dieser Lagerplatz: Hab etwas länger gesucht. Wie so ein Hund, der sich, bevor er sich hinlegt ein paar Mal im Kreis dreht. Oder machen das Katzen? Ein erster guter Platz war nahe der Autobahnbrücke. Kaum einsehbar, Fluss nah und zugänglich, was gut gewesen wäre, denn ich fühlte mich klebrig, hätte gerne den Duschsack gefüllt und mich gewaschen. Aber der Lärm. Hier weit weg vom Fluss, gibt es kein Wasser. Aber egal: nachts hab ich mich wohl selbst gereinigt. Fühle mich jedenfalls recht gut jetzt. Gegen acht soll es regnen. Bin froh, dass ich den Hintern hochgekriegt habe und gleich das Zelt noch trocken abbauen kann. Sonne sollte es vielleicht noch auf ein kurzes Hallo schaffen durch die seichten Morgendunstwolken.