Artikel vom 25. Juni 2025, bearbeitet und veröffentlicht am 1. November 2025
Großenwieden. Die künstliche Verknappung der Zeit. Alternativkosten. Die natürliche Verknappung der Zeit. Wenn ich Essen koche, kann ich nicht schreiben, ja, auch Essen selbst ist etwas schwierig, denn das Kochen auf dem Trangia-Kocher erfordert Konzentration. Anwesenheit. Aufmerksamkeit. Auf dem Tisch liegen alle möglichen Ausrüstungsgegenstände, Nahrung, Kochzeugs, Pfandflaschen, Kaffeebecher. Am Fährhaus Großenwieden konnte ich gestern mein Zelt aufbauen. Wollte eigentlich noch weiter bis jenseits von Rinteln, etwa 15 Kilometer und mich auf einer Wiese installieren irgendwo zwischen Heuballen. Geriet aber mit dem Fährmann ins Gespräch und mit seinem Kumpel, der durchblicken ließ, dass öfter mal Leute auf der Wiese zelten würden. Man könne sogar den Schlüssel für die Toilette bekommen, im Tausch gegen den Personalausweis. Ich aß ein Eis. Die beiden saßen beieinander im Fährhaus, tranken ihr Feierabendbier, debattierten das Wetter: Dass es nächsten Montag wieder dreißig Grad werden soll. Kaum zu glauben bei der Tristesse, die mich heute umlullte, Wolken, kaum Sonne und dazu ein heftiger Wind, der – den Krümmungen der Weser seis gedankt – zum Glück nicht den ganzen Tag von vorne kam.
Es radelte sich ganz gut. Auch bei Gegenwind schaffte ich es, mit 14 bis 17 Kilometer Pro Stunde voran zu kommen.
Wozu die Eile? Zeit, Zeit, Zeit, das alte Dilemma. Mittags rief ich Freund Fliegerhorst an, dass ich „in der Gegend“ sei, obschon Hameln ja noch bald 400 Kilometer von seinem Wohnort itzehoe entfernt ist. Er freut sich. Ich kann jederzeit kommen. Und das ist auch gut so, das Jederzeit. Denn die Tour lässt sich nicht kalkulieren. In Gedanken sehe ich mich oft schon an der Küste. In Dänemark gar, auf Fünen vielleicht. In Gedanken besuche diesen und jenen Menschen, den ich am Wegrand kenne. Die KünstlerfreundInnen Horst und Irene Schmidt habe ich auch kontaktiert, ob sie ggf. in Norden in Ostfriesland, ihrer zweiten Heimat sind. Ich könnte einen Abstecher machen. Sind sie, antworten sie. Aber erst nächste Woche. Das ist also etwas für den Rückweg. Faszinierend ob all der „Losigkeit“ meines Seins, der Ungebundenheit, des Voranbummelns, dass ich mir dennoch Zeitfenster baue, mich, wenn auch nur leicht, damit unter Druck setze. Wenn Horst und Irene Schmitt, dann nicht Fliegerhorst, weil die einen westwärts und nächste Woche besuchbar sind, der andere nordwärts und eigentlich immer. Also wenn H.I.S, dann auf dem Rückweg.
Ha. Rückweg. Wenn ich schon kaum den Hinweg – wohin denn auf einer Irgendwohin-Tour – planen kann, wie erst den Rückweg? Auf Mastodon meldet sich Raspel aus Oldenburg, ich könne vorbei schauen. Kurz Karte geschaut: Oldenburg liegt nur etwa 80 Kilometer „Umweg“ – ha, Umweg auf einer Irgendwohin-Tour?!
Der gestrige Tag auf dem Weserradweg: Easy-Cycling. Sehr schöne Landschaft. In Hameln komme ich gegen halb sechs oder fünf, ich weiß nicht mehr so genau, gerade rechtzeitig zum ausgiebigen Glockenspiel, filme ein bisschen wie drei vier handvoll andere Menschen auch. Das Glockenspiel will und will nicht aufhören. Am Turm beim Rathaus ist eine Mechanik, die einen blechernen Rattenfänger en Miniature vorbei ziehen lässt. Auf einer Art Teller kurvt das Ensemble zum Spiel und als es fertig ist, wieder im Turm verschwindet, nach kurzer Pause ertönt das Spiel erneut und der Rattenfänger kommt nun mit den Kindern vorbei gezogen. So ähnlich. Vor einem Kaufhaus nebenbei macht ein schlicht gestrickter Junge eine abfällige Geste zu den Touristen, die das Spektakel filmen. Gut zu sprechen auf uns Ralderinnen und andere Touris ist hier offenbar nicht jeder. In einer Hütte, in der ich pausierte hatte jemand mit Edding geschrieben, Scheiß Touristen, haut ab – ohne Komma natürlich. Zwei Ebikende Damen verstricken mich in ein Gespräch, kommen aus dem nahegelegenen Ort Halle in Westfahlen, sind auf Rundtour mal das neue Ebike der einen ausprobieren. Ob ich öfter in der Hütte sei? Da sei so einer, nein nein, sie haben da nichts dagegen, der da öfter mal übernachtet und vielleicht bin ja ich derjenige? Ich sehe tatsächlich so aus, als würde ich auf der Straße leben. Seit einer Woche kein Haus von innen gesehen, keine Dusche, keinen Rasierspiegel. Vollbepackt. Obschon hier einige klassische Radreisende meiner Kategorie – guter alter Radreisender mit Gepäck in vier Taschen an Gepäckträgern – unterwegs sind. Das freut mich. Unter den vielen Bikepackern mit ihren spärlichen Lenkerrollen, Rahmentaschen und Arschraketen kam ich mir auf den hessischen Bahntrassenradwegen schon ein bisschen wie ein Dinosaurier vor.
Wir plaudern über dies und das, Ebike versus „Biobike“ ist immer ein Thema: was hab ich es doch so schwer, mutmaßen die Beiden. Aber nein, sag ich, die Unabhängigkeit von Stromnetzen hat ihren Preis. Mit Ebike müsste ich ja ständig in Hotels, mindestens jedoch auf Campingplätze. Neben der Hütte steht eine randalierte Bank bei dem schönen Platz an der Weser. Vandalismus-Vermutung liegt in der Luft, aber ich bin mir da nicht so ganz sicher. Schwer zu sagen. Ich sage, das sieht aus wie ein Hängemattenunfall. Die Lehne der Bank ist abgerissen und sie steht in Hängemattenlängeentfernung nicht weit weg von einem Pfosten. Ich erinnere mich, dass ich jüngst in der Schweiz durch solch ein gewagtes Hängemattenhängmanöver eine Parkbank zum Umkippen gebracht habe. Ein Glück, dass die Bank damals nicht kaputt ging.
Über das Gespräch vergesse ich, ein Foto aufzunehmen von einem Baum, der an einem Felsen hochwächst. Ein faszinierendes Ding. Vergiss nicht, den zu fotografieren, ich erinnere mich, sagte ich mir im Vorbeifahren, meinen Hüttenplatz schon im Visier, erst mal Pause, und ach nein, das vergisst du doch nicht. Der Baum wächst mindestens anderthalb Meter entlang des nackten Felsens und das Stück Stamm, das bloß liegt und sichtbar ist wirkt wie eine verlängerte Wurzel. Nach der Pause rolle ich unverrichteter Dinge weite. Adieu Baum. Es ist wie daheim: Wenn du einen Raum verlässt, um etwas zu suchen, vergisst du, was du suchen wolltest, sobald du die Tür passiert hast. Genauso ist es, wenn man sich mit zwei Radeldamen unterhält. Tattrig wie ich bin steckte ich beim Weiterfahren noch meine einzige Tütensuppe in den Mülleimer. Ich kann es mir nur so erklären: Vom Lebensmittelsack hatte ich sie beim Rumräumen auf den Gepäckträger gelegt, dort wo normalerweise der Müll festgeklemmt wird. Ich erinnere mich noch, dass ich mich wunderte wie kompakt sich das Ding anfühlt als ich es in die Tonne stopfte.
Raus aus Hameln ein korpulenter Bettler, umgeben von naja, Müll? Habseligkeiten? Ja klar, das ist kein Müll, was den Mann umgibt, das sind Habseligkeiten. Er sitzt unter einer Brücke und ich weiß nicht, wie er sich von dort je fortbewegen kann. Schon bin ich vorbei, halte ich an, krame Geld aus dem Geldbeutel, gehe zurück, gebe es ihm und er bedankt sich strahlend und im Weiterfahren komme ich mir blöd vor, dass ich nicht noch mehr gegeben habe und ich muss mal wieder an meine uralte Geschichte denken, die davon handelt, dass immer wenn sich zwei Menschen begegnern ein Kassensturz gemacht wird; du hast soviel, du soviel, alles addiert und durch zwei geteilt oder durch X, wenn man das ganze auf Menschengruppen bezieht. Ich denke daran, wie ich Elon Musk begegne, zack, um viele Milliarden reicher und er ist immer noch superreich. Muss schmunzeln.
Halb elf schon. Die Sonne scheint. Hinter mir brutzelt die Solarzelle, lädt das Handy, während ich hier im Schatten diese Zeilen schreibe. Für meine Verhältnisse bin ich spät dran. Meist schon gegen sieben acht neun gings los. Die letzte Nacht war wegen des zerrenden Winds am Zelt nicht so erholsam. Außerdem grummelte der Bauch. Gegen acht packte ich in windeseile alles zusammen. Das Klo vom Fährhaus war leider zu. Das mit dem Schlüssel gegen Personalausweis hatte nicht geklappt, weil der Fährmann heut gar nicht im Dienst ist. Nunja, man kann ja nicht mitten im Dorf wie so ein Hund. Weiß auch nicht, was ich gedacht habe. Hätte ja alles stehen lassen können und raus aus dem Dorf zu geheimem Ort, aber nein. Mit vollem Gepäck schaffe ich es geradeso zu einer Wiese hinter einem Schober. Ein Hoch auf Robbydogtüten! Der Gamechanger in Sachen Reisetoilettengang.
Alternativkosten, Kolateralkosten, verknappte Zeit. Wird mir das erst nun drängend? Ich hätte schon dreißig Kilometer geschafft während ich hier schreibe, und die alte Formel, die seit der Nordseeumrundung gilt, 70 Kilometer am Tag plus Kunst plus Schreiben ist doch genug. Während ich die Sachen zusammenpacke, kann ich nicht Essen, nicht schreiben, nur bedingt mit Leuten kommunizieren. Und umgekehrt, während ich schreibe, kann ich nur schreiben. Sonst nichts. Noch nichteinmal etwas anderes denken als das, was der Gedankenstrom gerade hergibt. Das macht es einerseits so einzigartig, andererseits so kompliziert.
Nun versuche ich mal die beiden Blogartikel per Hotspot hochzuladen. Das Haupthandy dürfte nun fast geladen sein und auf dem Schreibhandy habe ich satte 20 Prozent Akku verbraucht, um den Artikel zu schreiben.