Vom Hühnerfred, Olivenbäumen, Blutsbrüderschaft und schwer fassbaren Ichs

Dystopisches Retrofoto, quadratisch mit grünlichem Himmel und einem uralten, sich drehenden Olivenbaum

Ein Spaziergang im Wald am gestrigen, brilianten Sonntag. Wir sammeln Birkenrinde zum Feueranzünden. Daheim tauen die Grillwürste auf, die beim Wintercamping mit Freunden Ende Februar noch übrig geblieben sind. Offizielles Angrillen. Frau SoSo fragt, was ich mir bei einem Blogartikel, den ich kürzlich geschrieben habe, gedacht habe; wie ich auf diesen oder jenen Gedanken kam. Ich weiß nicht mehr, um welchen Artikel es ging. Ich antworte spontan, ich habe gar nichts gedacht. Ich denke nicht. Es denkt in mir und ich bin mir nicht sicher, ob es mich als Ich überhaupt gibt. Die Bezeichnung Ich für sich selbst ist doch nur ein Notbehelf für etwas, das man bezeichnen muss, das man aber nicht erklären kann. Das mag verrückt klingen. Durch jungkeimendes Grün stapfend, unter umgestürzten Fichten hindurch limboisierend, bin ich plötzlich ziemlich perplex und denke, der Ich heute ist ein Anderer als der Ich vor ein paar Jahren und als der vor zig Jahren und wieder ein Anderer als der Baby-Ich. Fast wie ein kleiner Freispruch, dass wir alle einmal als gute Menschen auf diesem Planeten begonnen haben und die Zeit formt uns zu dem, was wir in der jeweiligen Gegenwart sind.

Plötzlich vibriert das Telefon. Mein Freund, der Automechaniker J. ist dran, was sehr ungewöhnlich ist. Normalerweise rufe ich ihn an, weil ich irgendwelche Schrauberkniffeleien lösen muss, aber die letzten beiden Male, geht die Kontaktaufnahme komischer Weise andersrum. Vielleicht haben wir die Grenze von der Zweckgemeinschaft zur Freundschaft überschritten? Die Grenze zur Schweiz wird dicht gemacht, sagt er, habs gerade im Liveticker gesehen, du solltest das wissen, bist du in der Schweiz? Nein, die Schweiz ist bei mir. Frau SoSo wird hellhörig und hier, so im kraftstrotzenden Wald, der sich gerade wieder aufrappelt von den Winterstürmen, herrscht plötzlich in zwei komischen Ichs, die sich auf Füßen fortbewegen eine klamme Stimmung. Wie? Was heißt das, Grenze dicht? Keiner rein, keiner raus? Darf Frau SoSo noch in die Schweiz einreisen und falls ja, darf sie durch Frankreich fahren, oder muss sie den Grenzzipfel bis Karlsruhe umfahren, sich auf die mörderische A5 begeben, last Exit Basel …? Fragen über Fragen, die sich die massenhaft getöteten Bäume, die kreuz und quer liegen, sicher nie gestellt hätten.

Dystopisches Retrofoto, quadratisch mit grünlichem Himmel und einem uralten, sich drehenden Olivenbaum
Ein 1111 Jahre alter Olivenbaum am Pont du Gard nahe Nimes.

Ein Baum-Ich, das wäre mal etwas. Leben und empfinden wie ein Baum. Ich stelle mir das sehr selbstzufrieden, vielleicht ein bisschen fatalistisch vor. Du kannst als Baum selbst in tausend Jahren deinen Standort nicht wechseln. Der 1111 Jahre alte Olivenbaum nahe der Pont du Gard kommt mir in den Sinn, den wir um Weihnachten schon zum zweiten Mal besucht haben. Von seiner Position am Nordufer des Gardon hat man einen schönen Blick auf das Römeraquädukt. Was dieser Kerl alles gesehen hätte, wenn er ein Mensch wäre? Das gesamte Mittelalter, die Renaissance könnte er berichten, vielleicht war sogar Goethe schon bei ihm? Er könnte über die dreckige Zeit der 1970er bis 2000er Jahre berichten, in der die schmale Departementsstraße noch über eine Straßenbrücke direkt neben dem Aquädukt befahren war, in der Scharen von Touristen ihre Autos wild am Straßenrand parkten in ausgefahrenen trockenen Buchten im Ocker zerriebenen Kalkkonglomerats. Wie oft man ihn wohl angepisst hat in den 1111 Jahren? Wieviele Familien unter seinen Zweigen ihre Picknickdecken ausbreiteten und Käse, Wein, Baguette picknickten? Ob er sich erinnert, dass wir auf den Tag genau fünf Jahre zuvor auch bei ihm waren? Da war er schon erlöst von der scheiß Departemenstsstraße. Seit etwa zwanzig Jahren ist das Bauwerk, das, so glaube ich, auch Welterbe ist, für den Publikumsverkehr neu geregelt. Die Straßenbrücke wurde um die Jahrtausendwende stillgelegt, ein Besucherzentrum mit angrenzendem Park errichtet. Man darfdas Gelände von Norden her nur noch mit Eintrittskarte betreten (von Süden kann man über die Wanderwege unkontrolliert zum Pont du Gard, zumindest außerhalb der Saison). Um diese Zeit muss auch jener erhabene Moment gewesen sein, als man ihm, dem Olivenbaum, einen Stein beiseite legte mit einer Metalltafel, auf der sein Alter eingarviert ist. Vielleicht waren Honoratioren anwesend und der Moment wurde gefeiert (von Menschen für Bäume, von Menschen für Menschen?) Ob es ihn juckt, den Methusalem? Ob er sich als Ich sieht?

Ich werde es nie erfahren.

Ich huste. Die Nase kitzelt. Der Hals kratzt.  Hab ich den Virus? Schon seit Freitag geht das so. Ich hatte Freund Jounalist F. mal wieder beim Einkaufen geholfen. Als Dialysepatient ist er vier Mal die Woche außer Gefecht und obendrein nicht sehr mobil. Schon seit Oktober assistiere ich. Dieser Tage jedoch kommen mir Bedenken. Die Dialyse findet im größten Klinikum hier in der Gegend statt. Tausende Menschen arbeiten auf dem vielhektargroßen Gelände. Eine kleine Stadt am Rande der Stadt. Ich erinnere mich an die Zeiten der Vogelgrippe vor etwa zehn Jahren, als man an den Pforten zum Gelände Schilder aufstellte: Wenn sie aus Land A, B oder C kommen und Symptome haben, melden Sie sich da und da. Im Laufe der Zeit wurden die Schilder immer größer und zu Land A, B und C, gesellte sich Land D, E, F und so weiter. Ich fand das bemerkenswert.

Schilder waren gestern. Heute sind es Liveticker.

Freitagsmorgens auf dem Weg zu Journalist F. hatte ich mir überlegt, ich sollte vorsichtig sein. Ich streifte eine Schutzmaske über, aber schon beim Freund in der Wohnung war klar, dass das kaum hilft. Es schütze ohnehin eher die Umwelt als einen selbst und da ich davon ausging, dass das Virus wenn, dann von ihm, der er täglich sechs Stunden im verkeimten Klinikum ist und mit weit herumgekommenen Taxifahrern unterwegs ist, zu mir springt, denn umgekehrt, ließ ich das mit der Maske wieder sein. Spätestens als Journalist F. schwindelte, er sich nicht mehr am Rollator halten konnte, in seiner Wohnung drohte zu stürzen und ich ihn mit beiden Armen unter die Achselhöhlen fassen und stützen musste und wir uns sehr nahe dabei kamen, wurde mir klar, ich kann es auch sein lassen mit der Maske. Ich bin sowieso nicht kompetent genug, sie fachgerecht anzulegen.

Ich setze die Waschmaschine auf, derweil sich Journalist F. ein wenig ausruht. Wegen der Plümeranz wird dem Freund etwas bange und er sagt, richte mal vorsorglich die Krankenhaustasche, vielleicht fahren wir da hin.

Weiter im Standard-Programm der Assistenz. Ich machte den wöchentlichen Einkauf in einem proppenvollen Aldimarkt – seit Oktober habe ich den Markt noch nie so hektisch erlebt, denke ich mir. Eine Frau neben mir am Pfandautomaten macht ein kleines Wettrennen und wir schmunzeln vor uns hin, 4,75, sage ich, 6,50, sagt sie, 7,75 kontere ich. Sie füttert fast ausschließlich anderthalb Liter Flaschen, während ich kleine Energiedrinkdosen einfülle und somit schneller bin. Mit satten 11 Euro gewinne ich knapp. Wie in einem Spiel ohne Gewinner verlassen wir den Automaten. Es ist fast wie eine kleine Blutsbrüderschaft.

Einkaufsliste abarbeiten. Normalerweise bin immer ich der, der den vollsten Wagen hat, aber nun sehe ich zig Menschen, die sich unendlich viel einladen. Trotzdem gibt es alles, was Journalist F. auf der Liste hat. Sogar Erdbeeren. Die Stimmung im Laden ist angespannt. Alle drei Kassen sind besetzt.

Draußen vor dem Laden steht der Hühnerfred. An der wie eine Hölle auf Rädern wirkenden Grillbude stehen einige Menschen Schlange, lechzenden Mundes auf die sich ruhig drehenden Hähnchen starrend. Hühnerfred steckt mit beiden Armen bis zu den Ellenbogen im Fett knusperbrauner Hühnerhaut. Selbst ohne die Pandemie im Nacken könnte ich aus purem Ekel vor den feinen Härchen seiner Arme, die sich gewiss ins eine oder andere Hähnchen verirren, nichts davon kaufen. Die Menschen, die anstehen, es sind nicht wenige, scheint das überhaupt nicht zu kümmern. Hasardeure, denen der Speichel in den Mundwinkeln rinnt. Ich sehe nicht, wie sie das mit dem Geld regeln, aber irgendwie müssen sie den Fred doch bezahlen und er muss ihnen wechseln und die Höllenbude sieht nicht danach aus, als wäre dort ein Waschbecken, in dem man mal eben zwei Vaterunser lang seine Hände waschen könnte.

Zurück beim Journalisten bin ich erfreut, ihn wieder munter zu sehen. Es ist nicht neu, dass sein Kreislauf zusammenklappt, das sei gesagt, aber eben, die Virussache macht einen etwas hysterisch und dann erkennt man nicht mehr, was sich als normal eingestellt hat an Gefühlen und Befindlichkeiten, und was durch die Angst, die einen ob der Nachrichten ergreift, aufgepfropft ist.

Abends danach, also vergangenen Freitag, erster Schnupfen. Hirn sagt sofort, Alarm. Halskratzen, trockener Husten. Samstags früh alles wieder bestens, bis sich das Hirn wieder auf den Schienenstrang der Hysterisierung begibt und hie und da ein Zwicken feststellt. Gibt es psychosomatischen Schnupfen? Husten, all das? Ich besinne mich im Laufe des Wochenendes, messe sogar erstmals seit zwanzig Jahren Fieber, 36,6, fühle Puls, entferne zwei Holzstücke, die ich im Verdacht habe, dass sie vom Rußrindenpilz befallen sind aus dem Brennholzstapel – denn die Suche nach Alternativen zum Virus, die den Reizhusten ausgelöst haben könnten, hat längst begonnen. Ohnehin, wird mir jetzt erst einmal bewusst, wie oft ich solchen Husten habe. Ziemlich oft. Sogar beim Staubsaugen der Künstlerbude kriege ich Husten. Meine Lunge ist einfach nicht mehr das, was sie einmal war. Und sie ist auch nicht das, was ich von ihr denke, was sie nun ist.

Es ist ähnlich wie mit dem, was in mir denkt und diese Zeilen schreibt, von dem ich nicht weiß, wer oder was es ist und wie es funktioniert, das aber einfach da ist und eigentlich keine Begründung bräuchte. Ja ja, ich glaube, das lässt sich tatsächlich vergleichen mit dem was man fühlt und wenn man Schnupfen fühlt und Husten, dann ist das zwar Schnupfen und Husten, aber welche Ursache sie haben, das verschließt sich einem, wenn man nicht in der Lage ist, einen Labortest zu machen.

So sitze ich denn hier am Montagmorgen vor der eigentlich hätte beginnen sollenden Radelreise nach Andorra und weiß nur eins, ich habe leichte Erkältungssymptome wie eigentlich öfter mal, die mich überhaupt nicht einschränken und weit davon entfernt sind, sich wie eine alles ausknockende Grippe anzufühlen. Ich ḱönnte sofort aufs Radel steigen, tja … die Grenzen sind dicht. Ich kann die Reise nicht beginnen. Wie zum Hohn baut sich das erste große Frühlingshoch über dem Land auf, aber es gibt Schlimmeres als nicht reisen zu können, denke ich mir. Andorra mit seinem einen Virusfall läuft mir nicht weg.

Freund Journalist F. dürfte aufatmen und froh sein, dass ich weiterhin assistieren kann. Obschon ich mich ganz und gar nicht danach reiße, das einsame Gehöft zu verlassen.

Pandemisch gesehen ist nämlich ein einsames Gehöft der perfekte Ort, um Zeit verstreichen zu lassen.

Ich sollte die Gartenanbaufläche vergrößern.

So lange rund ums Saarland radeln, bis die Pandemie vorbei ist

Collage mit vielen bunten Postkarten, unregelmäßig gesetzt. Zum Beispiel: Ein Fisch mit Kochmütze prang prominent in der Bildmitte.

Hygiene, jawohl, Hygiene, das wäre mal ein Vorname, Hügiene mit fettem Ü und einem schönen, langgezogenen I wie in Gesine. Man könnte diesen Namen als Zweitnamen einsetzen wie zum Beispiel Maria: Rainer Hygiene Rilke, Hygiene Theresia, Klaus Hygiene Brandauer, Hygiene Magdalena, Hygienekäfer, ich hatte eine Hygieneerscheinung usw.

Spaß bei Seite, bzw. ein bisschen Galgenhumor. Die Pandemie macht mir im Vorfeld der Reise zu schaffen. Noch vor anderthalb Wochen schien die Welt halbwegs in Ordnung. Damals, als ich eigentlich hätte starten wollen, wäre das Wetter denn nicht so schlecht gewesen und, naja, hätte ich das Fahrradersatzteil rechtzeitig gekriegt. Vermeintlich Schuldige am Ausgang der Dinge und an den Zuständen wie sie herrschen sind immer schnell gefunden. Im Falle der geplanten Radelreise: Nein, das Wetter war nicht schuld! Und nein, das Ersatzteil hätte ich auch schneller haben können, wenn ich es nicht beim Fahrradhändler meines Vertrauens bestellt hätte.

Das alles ändert aber nichts am derzeitigen Zustand. Ich habe ohnehin richtig und vernünftig gehandelt. Ein ehernes Gesetz beim Start einer Radelreise lautet: Fahr nicht los, wenn es dauerregnet. Und es regnete ja dauer.

Dienstag soll der Frühling ausbrechen. Ideale Bedingungen für das Reiseprojekt. Momentan habe ich mir folgendes überlegt: Bis Dijon in Burgund sind es etwa fünf Tage zu radeln und ich bewege mich nicht sehr weit weg von daheim. Könnte notfalls, wenn die Gegend wegen Eindämmungsmaßnahmen gegen die Pandemie unbereisbar wird, mich per Radel in die Schweiz oder zu Freunden ins Jura durchschlagen oder einen TER-Zug zurück nach Saargemünd (quasi bis fast vor die Haustür hier in der Pfalz) nehmen. Wenn der Zugverkehr noch aufrecht ist.

Vorgestern kaufte ich im Nachbarstädtchen ein Brot – mit solchen Kleinigkeiten fängt es an, sich in die Nachdenklichkeitsspirale zu begeben. Die Bäckerin in der winzigen Dorfbäckerei neben dem Stadttor packte den Laib mit bloßen Händen, tütete ihn ein und überreichte ihn mir strahlend. Woraufhin ich mir die Bretzel zum Direktverzehr kurzerhand verkniff. Das Brot, ich zahlte mit Münzgeld, sagte ich mir, kannst du ja eine Weile liegen lassen, bis allenfalls darauf klebende Viren vergehen. Ich habe einmal gehört, dass die Viren nach acht bis zehn Stunden nichts mehr anrichten. Ich weiß nicht, ob das stimmt, nichts Genaues weiß ich nicht. So klemmte ich das Brot auf den Gepäckträger, fuhr nach Hause und ließ es über Nacht im Atelier zum Dekontaminieren. Ich Genie.

So weit so gut. Unterwegs herrschen aber andere Bedingungen. Wenn ich unterwegs Brot kaufe oder eine in Frankreich so oft angepriesene leckere Pizza oder Eclaire oder sonst irgendwo etwas einkaufe, kann ich nicht erst alles auf dem Gepäckträger zwölf Stunden dekontaminieren. Zudem ist Hände waschen auf Radelreisen nicht so einfach wie daheim, wo man immer fließendes Wasser hat. Wie reist man im Falle einer Pandemie? Packtaschen voller Mehl und Couscous und sich permanent selbst versorgen, möglichst niemandem begegnen, immer wildzelten, sich in frühlinghaft frischen Flüssen baden? Klingt gar nicht so unmöglich, diese Vorstellung.

Oder ganz normal reisen wie immer, auf Teufel komm raus?

Oder nicht reisen?

Oder statt nach Andorra zu radeln so lange rund ums Saarland fahren, bis der Spuk vorbei ist (irre Idee, zwar nicht ernst gemeint, aber als Kunstprojekt verlockend). Ich sollte erwähnen, dass der große Saarlandradweg, der ziemlich genau an der Grenze des meistverglichenen Bundeslandes der Welt führt, nur 350 Kilometer lang ist und fast direkt vor meiner Haustüre beginnt. Im Herbst 2018 bin ich die Strecke in fünf Tagen geradelt. Man begegnet auf dem großen Saarlandradweg kaum Menschen :-).

Dieses Gedankensammelsurium klingt vielleicht merkwürdig. Aber ich versuche mir vorzustellen, wie sich das Ganze entwickelt und nehme als Blaupause Zustände wie sie momentan in Italien herrschen … vielleicht doch besser abwarten?

Wäre das Wetter bloß nicht so verlockend und das Reiseradel hufscharrend im Atelier.

Collage mit vielen bunten Postkarten, unregelmäßig gesetzt. Zum Beispiel: Ein Fisch mit Kochmütze prang prominent in der Bildmitte.
Auswahl an Postkarten des Projekts iDogma AnsKap 2015.

Hier habe ich das Projekt Zweibrücken-Andorra einmal auf einer Karte skizziert.

Mitreisewillige und Bloglesende können hier iDogma-Karten bestellen. Manche werden sich an die Reisen zum Nordkap und nach Gibraltar erinnern, auf denen ich etliche dieser kleinen Mailart-Kunstwerke kreierte. Hier zum Beispiel die iDogma-Karten des Projekts #AnsKap.

 

Ich hab‘ vergessen, dass ich nichts weiß

Fiktive Zeitung Muds Health mit Schlagzeilen und Skandalen um Heiko Moorlander

Ich musste abschalten. Mehr oder weniger und so gut es denn geht. Die informations- und desinformationsgeflutete Welt macht dem Gemüt arg zu schaffen. Fernsehen habe ich schon seit zehn Jahren nicht mehr. Radio auch nicht. Die Augen vorm Internet zu verschließen ist für einen, der darin und damit arbeitet leider nicht so einfach. Meide die Sozialen Medien, überlies die Nachrichten so gut es geht, konzentriere dich auf deine kleinen feinen Themen. Lullifulliethemen, Randgebiete dessen was gelesen werden will, was gewusst werden kann – wenn ich es mir genau betrachte stehe ich un(scharf)informiert einem gewaltigen Zwitschern von Meinungen, Informationen und scheinbar Wissbarem gegenüber, aber als kleiner Mensch habe ich nicht die Möglichkeit so weit in die Tiefe zu schürfen und zu überprüfen, ob Meldungen richtig oder falsch sind, ob sie diesen oder jenen Zweck erfüllen, ob man in diese oder jene Richtung beigebogen wird, mitzumeinen im großen Meinungskanon.

Man könnte sagen, ich habe vergessen, dass ich nichts weiß. Und ich beiße mich an all dem Wissbaren fest, das wie lecker Nahrung breitwürfig informativ in den Medien ausgebracht wird. Im Prinzip wie einkaufen und ins Supermarktregal greifen und diese oder jene Marke dieser oder jener Preisklasse herausfischen. Neben dem hochwertigsten, unter idealsten Bedingungen produzierten Bioprodukt lauert billigst gepanschtes Zeug, das es irgendwie durch die Kontrollen vorbei an den Normen geschafft hat und man kann es kaufen, man kann es essen und es schadet einem womöglich nicht. Das Perfide bei Information wie auch bei Lebensmitteln ist, man kann niemandem trauen und doch muss man vertrauen. Sonst würde man verrückt oder verhungern. Okay, bei Lebensmitteln hat man noch einen Ausweg: Man produziert sie selbst, wenn man denn ein Stückchen Garten hat. Aber auch da kommen möglicherweise giftige Unwägbarkeiten ins Spiel: Versprüht der Nachbar krebserregende Pestizide auf dem Feld, die keinen Halt machen vor Grundstücksgrenzen? Wer hat das Saatgut, das man nutzt, unter welchen Bedingungen hergestellt? Wie ist die Luft- und Wasserqualität rings um meinem Garten? Und so weiter.

Doch zurück zur Information und zur großen Quoten- und Klickschlacht in den Medien. Wem kann ich vertrauen? Welche Nachricht ist echt und gut recherchiert und welche ist nur ein billig produziertes Konsumgut? Hier gibt es zum Glück Medien, die halbwegs seriös sind. Manchmal namhafte große Medienhäuser, aber auch und vielleicht sogar insbesondere die weniger namhaften, noch nicht institutionalisierten Graswurzelmedien, einzelne Fachbloggerinnen und -blogger, die sich mit dem jeweils beackerten Thema auskennen, Menschen, die informieren wollen um des Informierens willen – das ist etwa so schwierig wie eine Putzhilfe zu finden, die putzt, um zu putzen. Die Komponente Geld und Rentabilität in inniger Paarung mit menschlichem Egoismus, Narzissmus und Gier spielt sicher eine große Rolle bei der Produktion von … ja von was? … von eigentlich so gut wie Allem. Wenn ich mein Geld mit Fleisch verdiene, schaue ich, dass ich das Fleisch so wirtschaftlich wie möglich produziere; auf engstem Raum mit billigstem Futter, aufs Schnellste gemästet. Wenn ich das Geld mit einem Campingplatz verdiene, bin ich als gewiefter Giermensch natürlich darauf aus, so viele Zelte wie möglich auf dem kleinen Areal unterzubringen. Egal wie sich das für die Campierenden anfühlt. Idealer Weise liegt der Campingplatz bei einer unausweichlichen Sehenswürdigkeit, einer Stadt, die jeder besuchen möchte (Kiel zum Beispiel). Bin ich Nachrichtenproduzent, dann achte ich auf Reizworte und gebe den Informationen, die ich mir so billig wie möglich einkaufe klangvolle Namen, die den Nerv meines Klientels treffen, Nachrichten, die süchtig machen. Es ist mir egal, wie gut oder schlecht der Artikel relotiert ist, Hauptsache, er verkauft sich. Bin ich schwedischer Möbelproduzent, so schaue ich im Laufe der Jahrzehnte, dass ich die für mich scheißteuren Bilderrahmen aus Echtholz mit poliertem Glas durch genau gleich aussehenden Dreck aus gepresstem, furniertem Sägemehl ersetze. Bin ich Industrieller, so sehe ich Arbeitskraft als Kostenfaktor und kaufe sie dort, wo sie möglichst billig ist. Habe ich meine Drecksgriffel im Rohstoffegeschäft, ist es mir ein großes Anliegen die Umweltkosten so gering wie möglich zu halten, meine Rohstoffe in Ländern mit korrupten bestechlichen Behörden einzukaufen.

Uns so weiter und so fort.

Wo hatte ich begonnen? Ach ja. Beim Dichtmachen. Beim nicht mehr Medien konsumieren. Was nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit gänzlich wegschauen. Natürlich weiß ich, was vorgeht in der Welt und wie übel unsere Karten sind. Ähm nein, wissen ist falsch! Hab ich doch glatt verdrängt, dass ich nichts weiß. Aber ich bin auf der Spur. Ich habe eine ungefähre Ahnung. Mein Bild ist unscharf. Ein ungefähres Etwas von Realität, das erst dann, wenn es ganz nah ist an Schärfe und Wucht gewinnt.

Quäl dich, du Sau! Schreib!

Nachmittags lief es ziemlich verquer mit einem ersten, informierenden Blogeintrag über das bevorstehende Projekt Zweibrücken–Andorra 2020, bekannt unter dem Hashtag #zwand20. Irgendwie radebrechend an einem Artikel über das Vorhaben und die vielen Unsichtbarkeiten, die – arbeitstechnisch – dahinter stecken, verrannte  ich mich in einen Blogartikel, der mir so ganz und gar nicht gefallen wollte. Ein holperndes, seelenloses Etwas, so diagnostizierte ich resigniert beim ersten Korrekturdurchlauf. Das darf nie nie nie an die Öffentlichkeit, dachte ich. Ich legte das digitale Machwerk zu den Privatnotizen ins Blog und hielt erst einmal ein Mittagsschläfchen. Ziemlich geknickt. Wie soll das bloß werden mit den kommenden Tour, wenn ich denn nächsten Dienstag schon losradele und allen da draußen verspreche, ich berichte über die Reise? Wie gewohnt am offenen Herzen der Literaturin Konjunktion der Klaviatur der Tweets mit der orchestralen Wucht dieses Blogs, ein literarisches Einmannorchester auf den virtuosen, spiegelglatten Tasten des Smartphones, hey! Was für eine Katastrophe, wenn ich mich tagelang in erklärenden Meta-Artikeln über die Eingeweide der Software und was weiß ich, was ich noch alles im Hintergrund geschuftet habe, auslasse. Mann Mann Mann. Laaangweilig. Vergiss den Artikel, sagte ich mir. Er spielt keine Rolle und überhaupt, Junge, du hast doch gar keine Übung mehr im Schreiben. Du kannst nur noch coden und kryptisches Zeug auf dem Terminal tippen, aber eine echte, packende erlebte Geschichte, die kriegste so nie und nimmer hin. Du bist eingerostet. Ein alternder Westernheld, der mit zittriger Hand das Schicksal bedrohter kleiner Westerndörfer zum Guten wenden soll.

Nachdem ich am Wochenende das Reiseradel endlich mit neuen Ersatzteilen bestückt hatte, bin ich sonntags in einer der raren Regenpausen ein bisschen testfahrend unterwegs gewesen, nur etwa zwanzig Kilometer im Kreis (das Hamsterrad des Europareisenden sozusagen) abwärts in die Stadt, dabei einen Track mitlaufen lassend, genau wie beim richtigen Reisen und was soll ich sagen, welch Wohlgefühl! Das neue Schaltwerk, nach elf Jahren erstmals ersetzt, nach mindestens dreißigtausend Kilometern, vielleicht auch mehr, ich kriege die Gesamtzahl nicht mehr auf die Reihe, läuft wie ein Nähmaschinchen. Hätte ich gewusst, wie leicht es ist, eine neue Schaltung einzustellen im Gegensatz zur alten ausgeleierten, ich hätte schon viel früher gewechselt, sagte ich mir. Aber immerhin, es ist gut, zu erkennen, dass man auch eine Schaltung dreißig- vierzigtausend Kilometer fahren kann, nur für den Fall, dass man einmal um die Welt radeln möchte. Egal. Mir dämmerte plötzlich, dass ich sowohl radlerisch, also körperlich, als auch schreiberisch, also kreativlich total aus der Übung bin und dass ich im Vorfeld der Reise nicht nur den Körper in den Sattel hieven muss, sondern mich auch dazu zwingen muss, schreiberisch Fitnessübungen auf mich zu nehmen. Ich muss mich warmschreiben vor der Reise. Der Artikel vom Nachmittag bleibt für alle Zeiten geheim, aber vorhin, in einer Art Anwandlung und Rückbesinnung auf Vergangenes, schrieb ich einen kurzen Artikel, der dem Zyklus UmsLand/Bayern zuzuordnen ist (siehe voriger öffentlicher Blogartikel) und da wurde mir Zweierlei klar: auch Schreiben braucht Training und Gewohnheit, ganz wie Sport, Radfahren, Wandern und es ist verdammt wichtig, ein Thema zu haben, also ein greifbares Etwas, ein Leitfaden, ein Track und nicht solche Lullifullie-Problemschilderungsmomente, in denen sich der Autor, moi même, im Kreis dreht und sich über die uninteressanten unsichtbaren Arbeiten auslässt, die er unter der Motorhaube des Blogs und der ganzen Livereisemaschinerie durchführt, damit das Maschinchen am Ende wohlig schnurrt.

Zum Training, ich habe ja noch ein paar Tage, bis ich auf Tour gehe (es sei denn, das der Virus funkt dazwischen), habe ich zum Glück noch einige Baustellen lose Fäden, an denen ich weiter knüpfen kann. Die nächsten Tage werden zeigen, ob es mir gelingt, den Blogreaktor wieder in Betrieb zu nehmen. Bleibt am Ball. Oder auch nicht. Ganz wie es Euch beliebt.

Oh, und fast vergaß ichs, der Blogtitel, der ausnahmsweise schon vor dem Schreiben dieses Eintrags feststand, ist ein Zitat des Pfälzer Radprofis Udo Bölts, der, wie Wikipedia schreibt, Jan Ulrich in den Vogesen auf der 18. Etappe der Tour de France 1997 mit diesen Worten anfeuerte.

Bei den Isarwellen – plötzlicher Lustverlust

Blick auf ein Wehr, in dessen Gischt einige winzige Surfer balancieren.

Nachtrag 28. Mai 2019. Verfasst am 10. März 2020.

Es gibt ihn tatsächlich beim Radelreisen, bzw. beim Reisen schlechthin: den plötzlichen Lustverlust. So habe ich das Phänomen 1995 bezeichnet. Damals mit Freund QQlka auf großer Radtour Richtung Nordkap, seit sechs Wochen auf der Straße in einem nicht enden wollenden Schwedensommerhoch; geradezu lustwandelnd radelnd unterwegs bis irgendwann in Lappland an der finnischen Grenze das Wetter kippte (wir nannten den Kollaps Kautokeino-Matt) und wir etliche tausend Kilometer von daheim entfernt nicht mehr wussten wie weiter, wie vorwärts mit unserer ärmlichen, nicht gerade mieswettertauglichen Ausrüstung. Und ab Alta, wohin wir ein- zweihundert Kilometer mit dem Bus fuhren, wird die Straße zum Nordkap erst richtig garstig. Das weiß ich, seit ich sie 2015 geradelt bin und das ahnten wir 1995, als wir aus dem Bus stiegen auf einem unbefestigten Busbahnhofsparkplatz voller Pfützen, in die schräg stehende nordische Sonne blintzelten, uns sagten, geht doch mit dem Wetter, wir probieren es mal und unsere Räder sattelten und auf der E6 die Stadt verließen. Eiskalte Nordwinde. Vorbei am Flughafen, jenem verlockenden Nadelöhr und ich meine mich zu erinnern, dass wir es bis fünf oder zehn Kilometer jenseits des Flughafens schafften zu einer kleinen, markanten Brücke (die mir 2015 so bekannt vorkam, dass ich dachte, bis hierhin sind wir wohl damals geradelt). Dann kam der plötzliche Lustverlust und wir besprachen, dass wir aufgeben und mal zum Flughafen schauen würden, wie man zurück in die Zivilisation kommt. Drei Stunden später landeten wir in Oslo, zelteten neben dem Flughafen und nahmen am nächsten Tag die Fähre nach Kiel.

Ich meine es nicht böse, wenn ich die Waldbahn, die von Bayerisch Eisenstein hinunter führt zur Donau, ein Bimmelbähnchen nenne. Die Wagen sind uralt. Geräumig mit Stufen, die man hinaufsteigen muss und es gibt Zugbegleitpersonal, sehr freundliche und hilfbereite Menschen, die in dem Mikrokosmos auf Eisenrädern allen Belangen der Reisenden zu Diensten stehen. Die Fahrkarte kann man im Zug lösen. Es ist wie früher in den 1970er und 1980er Jahren noch, ein Reisen mit Menschen in einem Transportmittel für Menschen. Wohin mit dem Fahrrad? Ins Radelabteil, klar, Gepäck können Sie auf dem Sattel lassen, ausnahmsweise, es ist noch genug Platz. Ein zwei Stunden keucht das Bähnlein abwärts vom Bayerischen Wald durch die Gegend entlang des Flüsschens Regen. Mit einem – vermutlich – Arbeiter auf dem Nachhauseweg und einigen anderen Leuten im Abteil. Smalltalkend, bis irgendwo – das Bähnlein hält an jeder Milchkanne, ich selbst bin ja bei einem Bedarfsbahnhof zugestiegen in einem winzigen Ort mit ein paar Häuschen – bis an einer anderen Bedarfshaltestelle ein weiterer Radler zusteigt.

Der mich und den Rest des Abteils bis Plattling unterhält. Also eher mich und die anderen rollen die Augen. Der Mann ist ganz nett, vielleicht ein bisschen naseweiß, egozentrisch, vielleicht auch narzisstisch, aber nicht unsympathisch. Über das Wo findet denn der Reiseradler, moi même, in der Nacht in Plattling noch Unterkunft kommen wir nach Berlin, wo er ein Haus hat und eine schräge Idee, mittels Containern im Hof des Hauses Wohnraum zu schaffen und dafür braucht er einen Fotografen und weil ich doch unterwegser Fotograf bin, engagiert er mich kurzerhand, wir könnten doch gemeinsam nach Berlin fahren, in den alten Buden wohnen, ich würde auch die schöne große Wohnung kriegen und dann fotografieren wir das Ensemble für ein Prospekt, mit dem wiederum die Geldgeber und künftigen Mieter überzeugt werden. Kurzum, der Mann baut innerhalb weniger zig Kilometer im Bimmelbähnchen auf der Rutsche abwärts vom Bayerischen Wald ein phantastisches Ideenuniversum. Wir tauschen Karten und stellen dabei fest, keiner von uns beiden hat eine Email-Adresse auf die Karte gedruckt, aber egal, ich könne ihn ja anrufen oder er mich und wir lassen die Idee einmal sacken. In Plattling steigt er auch aus, um nach Regensburg umzusteigen und es ist noch ein paar Minuten Zeit, die er vor mir her radelt, um mich in die richtige Richtung zu drehen zu dem kleinen wilden Zeltplatz bei den Isarwellen, dort wo die Surfer immer herumlungern, um auf dem wuchtigen Wehr kurz vor der Mündung in die Donau ihre Schleifen zu ziehen.

Es regnet in Strömen und ich radele in die Dämmerung, habe keine Eile, denn das Zelt muss ich ohnehin im Regen aufstellen. Erreiche den Hochwasserdamm. Dahinter muss der Zeltplatz sein. Ein mobiles Verbotsschild mit Absperrgitter steht an dem Weg, der schräg den Damm hinauf führt und mir schwant Schlimmes. Dass dahinter alles überflutet ist. Aber das Gatter ist zur Seite gestellt. Also erklimme ich die Dammkrone und blicke auf eine kleine Insel, die über eine fast überflutete Brücke erreichbar ist. Soll ich es wagen? Ich bin müde. Diesseits des Dammes ist die Stadt. Unzeltbar. Obwohl ich tagsüber kaum geradelt bin, bin ich von meinem Spaziergang über den Baumwipfelpfad doch etwas matt. Beine tun weh. Keine Lust noch weiter im Regen zu suchen und es hört ja schon wieder auf, heute Nacht, sagt die App, also überquere ich die kleine Betonbrücke und erkunde die Insel. Die Spuren plattgewalzten Grases zeigen, wie hoch das Wasser schon gestanden hat in den letzten Stunden. Die Brücke war wohl tatsächlich vollständig unpassierbar, aber nun konnte ich durch ein paar Meter Pfützen auf die andere Seite gelangen. Direkt bei den Isarwellen. Jenseits am anderen Flussufer hinterm Damm stehen die Wohnmobile der Freaks, von denen sich trotz Verbots wegen des wuchtigen Wassers der eine oder andere aufs Surfbrett wagt und auf dem Fluss hin und her webt. Eine Weile schaue ich ihnen zu, begutachte auch das Höhenprofil der Insel. Es gibt Bereiche, die nicht vom Hochwasser überflutet waren, obwohl man kaum Höhenunterschiede erkennt. Nur das plattgewalzte Gras zeigt, an welchen Stellen einst Wasser stand. Unter Weiden finde ich schöne Zeltmöglichkeiten. Ein Hundegassigänger kommt vorbei. Ich liebäugele mit einem Plätzchen direkt am Seitenarm bei einer Feuerstelle, aber die Vernunft siegt – zum Glück – und ich baue das Zelt am vermutlich höchsten Ort auf. Gewitterneigung. Weiden sollst Du meiden. Egal, zu spät. Erschöpft schlafe ich ein und als mich in der Dämmerung die volle Blase aus dem Schlafsack zwingt, sehe ich, dass der Platz am Seitenarm überflutet ist. Schlagartig bin ich wach, packe zusammen, schaue zur Brücke. Puh, könnte knapp werden. Steigt das Wasser noch, oder fällt es wieder? Ich beobachte den gräsernen Rand im Unterholz, koche erst einmal Kaffee. So viel Gemütlichkeit muss sein. Nach einer halben Stunde ist klar, der Wasserspiegel fällt schon wieder. Aber dennoch, es hätte auch anders ausgehen können und ich wäre in einem überfluteten Zelt erwacht.

Der plötzliche Lustverlust, so wie ich ihn aus dem Jahr 1995 kenne, ist natürlich, nach vielen weiten Fahrradreisen nicht mehr vergleichbar mit der jetzigen Situation. Heuer spielt die Vernunft die tragende Rolle und die hatte zum Abbruch der Reise gemahnt, da ich die restliche Strecke UmsLand/Bayern in der mir zur Verfügung stehenden Zeit ohnehin nicht mehr hätte schaffen können, sprich, ich sowieso noch einmal aufs Radel muss im kommenden Jahr 2020. Ein dritter Abschnitt sozusagen nach dem Prolog von etwa Osterburken via Creglingen und Rothenburg ob der Tauber bis Lindau im Jahr 2018 und dem diesjährigen Intermezzo von Lindau bis nach Zwiesel.

Bühnenbild der Seebühne in Bregenz mit einem rieigen Gruselclownkopf hinter leeren Stuhlreihen.
Beim Ausrollen von Lindau auf dem Bodenseeradweg bis zur Rheinmündung passiert man Bregenz und die berühmte Seebühne, die im Jahr 2019 Rigoletto darbot.

Der Rest des Weges: von Plattling nach München und dort mit einer ähnlich komfortablen Verbindung per Privatbahn ‚Alex‘ nach Lindau, und ab dort zum Ausrollen an die Rheinmündung, wo mich Frau SoSo aus der Homebase schon sehnsüchtig erwartete.

Einige Monate später sollte ich am Bahnhof Homburg/Saar die Verlockung der Bahnverbindung entdecken: Es fährt ein IC ab Saarbrücken namens Dachstein mit Halt in Homburg. Das klingt verlockend. Ohne Umsteigen könnte ich zurück ins Einsatzgebiet, vielleicht bis nach Rosenheim fahren und dort die Schleife zum Königssee nachholen, die ich wegen des Dauerregens ausgelassen hatte. Aber das ist ein Projekt für 2020.