Das Hemköp-Phänomen und die Zwiespältigkeit allen Gesamtbilds | #zwand20 #anskap

Eine rot-weiß gestreifte Markise, von unten betrachtet. Dahinter schemenhaft die Front eines Fußgängerzonenhauses.

Heute würde ich wahrscheinlich am Rhein-Marne-Kanal aufwachen, das Lager zusammenpacken und weiter Richtung Dijon radeln. In Niderviller würde ich in die Bäckerei einfallen und ein Stück Pizza kaufen, ein Éclair und ein frisches Baguette.

Aber ich lade die geneigten Leserinnen und Leser erst einmal ein auf einen Ausflug ins schwedische Falun des Jahres 2015. Dort wurde mir das ‚Phänomen‘, von dem ich berichten möchte, erstmals bewusst. Die kleine Stadt nordwestlich von Stockholm war einmal Schwedens größte oder zweitgrößte Stadt. So steht es auf einer Infotafel in der Nähe von Faluns wichtigster Attraktion, einer ehemaligen Kupfermine. Das kleine Industriestädtchen mitten im Land hat ein ganz besonderes, ein bisschen verschlafenes Flair. Wie um einen Kontrapunkt gegen die tiefe Wunde der Erzgrube zu setzen hat man oberhalb der Stadt eine Skisprungschanze gebaut. Ein spitzer Zinken, der für Touristen offen steht. Auf dem Weg zum Nordkap (#AnsKap) treffe ich mich mitten in der Fahrradtour mit Frau SoSo für eine zweiwöchige Auszeit. Sozusagen Ferien vom Job des livereisenden Europaradlers. Frau SoSo hat ein Ferienhäuschen gemietet. Die Vermieter leihen uns ein weiteres Fahrrad. Wir sind mobil. Wir erkunden die Gegend zu Fuß und per Radel. Es gibt viel zu sehen und unweit vom Haus gibt es einen Bootsanleger, ein Ruderboot und ein Stückchen Ufer, an dem man sich in den eiskalten Runnsee tasten kann. Nicht weit entfernt vom Ferienhäuschen gibt es einen kleinen Supermarkt der Kette ‚Hemköp‘. Ein typischer Laden wie man ihn hierzulande zuhauf findet, ein aldiähnliches Gebäude mit großem Parkplatz direkt an der Hauptstraße, das wie ein Magnet die Menschen tagein tagaus anzieht. Wer weiß, wenn man Linien ziehen würde von den Häusern bis zum kleinen Hemköp für jeden Menschen der Umgebung, der den Laden regelmäßig besucht, erhielte man womöglich ein Bild ähnlich der Kraftlinien eines Magnetfeldes. In den zwei Wochen besuchten wir den Markt regelmäßig, wahrscheinlich fast täglich, um dies und das zu kaufen. In diesem Laden manifestierte sich das ‚Phänomen‘ erstmals. Nicht, dass es nicht schon immer spürbar gewesen wäre, das Phänomen. Ich hatte es nur bisher nicht wahrgenommen. Nicht erkannt.

Ein Zweckgebäude aus Stahl und Beton mit vielen Fenstern, gelblich verfärbt im Retrostil. Daneben ein parkendes Auto.
Straßenszene in der Innenstadt von Falun.

Vor der Eingangstür saß von morgens bis abends immer ein und die selbe Bettlerin, eine runzlige Frau mit vielen Kleidern und bis auf den Boden fallendem Rock. Eine Plastikschale vor sich, in die man Geld werfen konnte. Im Schweden des Jahres 2015 gehörten die Bettlerinnen und Bettler vor den Supermärkten einfach zum Straßenbild. Kaum ein Supermarkt, selbst in der tiefsten Provinz, vor dem niemand saß. Aber unsere Bettlerin, der wir immer ein paar Münzen in die Schale taten oder den Pfandbon, ist nicht das Phänomen. Sie ist nur Teil des Gesamtbildes.

(Hier Ende erster Korrekturlauf – ich muss jetzt weg).

Den gestrigen Tag verbrachte ich mit Schreiben, Künstlerbürokram und ein bisschen Gartenarbeit, bis sich nachmittags eine unheimliche Nervosität einstellte und es mir ratsam schien, das Haus zu verlassen, aller pandemischen Sorgen zum Trotz. So sattelte ich das Ebike und rauschte runter in die Stadt. Nur mal schauen, bei Menschenbegegnung nicht atmen, nicht husten, nicht husten lassen, Abstand halten, wahrscheinlich wäre sowieso niemand unterwegs oder alle im Auto. Pustekuchen! Die Stadt fühlte sich an wie immer. Gehwege und Fußgängerzonen voller Menschen in Gruppen, stehend, sich unterhaltend, hustend und schnäuzend auch, ein wunderbarer Frühlingstag mit ein bisschen Sonne, die sich durch die jungkeimenden Zweige der mächtigen Platanenallee presste. Dort begegnete ich Frau R., einer Kunstconnaisseurin, rege, rüstige Frau und wir hielten ein kleines Schwätzchen. Hinter uns plätscherte der Schwarzbach. Ein bisschen reden wie üblich. Zwei andere Spaziergänger kamen auf dem schmalen Weg auf uns zu, zögerten, reihten sich hintereinander, machten, wie man so schön sagt, einen großen Bogen um uns. So groß wie möglich. Das ist anders, wurde es mir schlagartig bewusst. Ich bot Frau R. meine Hilfe an, sie könne mich anrufen, ich müsse ja sowieso jeden Mittwoch da raus in den Stollen, um Einkäufe zu machen für die Mama, die Tante und Freund Journalist F. Sie sei gut versorgt, sagt sie, der innenstädtische Supermarkt liefere vor die Haustür. Welch ein Segen! Von links Kontrabassist M. auf dem Ebike, grüßt knapp und fährt einfach so vorbei. Tse. Wir kennen uns relativ gut. Besser, als dass man einfach so vorbei fährt. Das ist anders!? Ist es wirklich so weit mit dem Virus, ich meine, ich kenne den Mann gut?, frage ich Frau R. ‚Le Virus, c’est moi‘, antwortet sie … ich meine, ich kenne den noch besser als ich sie kenne. Warum ist er so kurzangebunden? Wie groß kann Angst sein? Wie gesagt, der Virus bin ich, widerholt Frau R. Ich kenne ihn doch auch. Leider. Der Mann war mal mein Vermieter, bis er mich wegen Eigenbedarfs gekündigt hatte und das Haus verkaufte.

Über die Zwiespältigkeit allen Gesamtbilds nachdenkend radelte ich weiter, bachabwärts, flankierte alle Supermärkte im Vorort und beäugte die Parkplätze, ob sie voller wirken als zu normalen Zeiten. Nie und nimmer würde ich einen der Läden betreten, nur um eine Kleinigkeit zu kaufen. Dabei bräuchte ich dringend Brot, Milch, Schokolade … das Phänomen! Heureka. Da ist es. Schölagartig musste ich an Falun denken und an den kleinen, magnetischen Kaufmannsladen mit seinem Süßigkeitenregal und all den feinen fremden, schwedischen Köstlichkeiten, seinen Chromblitzenden Kassenanlagen, den Kreditkartenmelkstationen, all das und an den magischen Drang, in den Markt zu gehen, egal, ob ich etwas brauche oder nicht und schlagartig wurden mir alle Nah-Supermarkterlebnisse bewusst, die ich in den letzten Jahren, insbesondere auf Radtouren, hatte. Wenn du einen Supermarkt am Weg siehts, geh rein und kauf etwas. Egal was. Es ist, als entstünden unsere Begierden im Anblick von Einkaufsläden und je näher wir diesen Tempeln kommen, desto größer werden sie und desto mehr fällt einem ein, was man denn unbedingt braucht. Wie oft bin ich unterwegs mit schwer bepacktem Fahrrad aus irgendeinem Mark gekommen mit übervollen Armen von Zeugs, das ich sodann auf dem Gepäckträger verstauen musste. Das Phänomen Mensch sieht Supermarkt und entwickelt Kaufgelüste. Pavlovesk, grotesk. Es bricht uns nun das Genick.

Ich schaffe es, milch- und brotlos vorbei an allen Supermärkten der Stadt. Nur dem Gartencenter beim alten Vorortbahnhof kann ich nicht widerstehen. Saatkartoffeln könnten in diesen Zeiten nicht schaden. Wen treffe ich? Die Frau Mama, mit der ich schon ein paar zaghafte Gespräche hatte, ob es ratsam ist, insbesondere in ihrem Alter, das Haus noch zu verlassen. Eine kleine Schachtel Pflänzchen zahlt sie gerade. Saatkartoffeln gibt es nicht. Ich trage ihr die Platte mit den Pflanzen zum Auto und als sie den Kofferraum öffnet liegt da noch ein Pennyeinkauf, ach ja, da war ich auch noch kurz. Zuvor hatte sie mir versprochen, dass sie nur ihren Arzttermin wahrnehmen würde.

Vieles ist also beim Alten. Noch. Durch ein Tal namens Liebestal radele ich zurück zum einsamen Gehöft. Die Lunge pumpt wie eine schnurrende Katze. Regelmäßig. Frei. Glücklich. Vorbei an einer Gruppe kahlgeschorener Soldaten. Die Kaserne ist nicht weit. Die Knaben sehen aus wie Söldner. Wo ist meine schöne alte Achtzigerjahre-Zeit hin, in der wir Milchbuben, wenn wir denn nicht verweigerten, in den grünen Klamotten eher aussahen wie Alfred E. Neumann (Magazin Mad), nicht wie Fremdenlegionäre. Aufwärts durchs Liebestal, das leider nur vom Namen her und wenn man nach Osten blickt ein Idyll ist. Sumpfige Wiesen mit tiefbauchhängenden Ponys rechts, im Osten und links, an den Hängen des Westens zuerst das Militärische Sperrgebiet, in dem am gestrigen Tag die Soldaten perlen wie Schweiß auf der Stirn eines Europennerrreiseradlers beim Erklimmen des Mont Lozère. Ein wenig später, auch zur linken, gibt ein Einschnitt im Liebestal einen gräßlichen Blick auf die städtische Mülldeponie frei. Ein grauer Hügel wie Vulkanasche unter hellblauem Himmel hinter Stacheldraht zwischen todeshechelnden Lippen aus verstaubtem Wald. Garniert mit, der Ferne sei Dank dreckigen gelblichen Baggern. Zack, vorbei, schau nach Osten, Herr Irgendlink. Tu so, als wäre es nicht da. Als wäre dieser ‚Mont Mullbèrge‘ direkt vor Deiner Haustür in den zwanzig Jahren, die du nun schon hier bist, nie gewachsen. Es ist tatsächlich so, dass dort, wo früher ein Loch war, sich nun ein Berg auftürmt, genau umgekehrt wie im schwedischen Falun, dessen Kupfermine, die einst ein wie Käse durchlöcherter Untertagebau voller geheimnisvoller Stollen war. Ein Grubenunglück im Jahr 1687 ließ die Gänge in sich zusammenstürzen und nun klafft ein riesiges Loch am Rande der Stadt.

Falun, das Antizweibrücken.

Tja. Das Phänomen war am gestrigen, ersten Reisetag nach Andorra also Thema für diesen Blogeintrag. Man muss sich das so vorstellen, in meinem Hirn: es denkt in mir und ich mache mir am Wegesrand geheime Notizen, die ich reifen lasse und im nächsten Gang, heute Morgen am PC, einsammele und verknüpfe. Mehr ist es nicht.

Bei unserem abendlichen Telefonat taten Frau SoSo und ich so, als sei ich tatsächlich unterwegs. Als hätte ich es geschafft bis zur kleinen Schutzhütte am Rhein-Marne-Kanal unterhalb des Dörfchens Arzviller. Als hätte ich meine Isomatte auf einem steineren Tisch in dem ehemaligen Zweckgebäude ausgebreitet, den Trangiakocher aufgestellt, eine halbe Zucchini und ein bisschen Couscous und eine kleine Zwiebel gebrutzelt, als fröstele ich mich bei fünf Grad Celsius in den Winterschlafsack und sänge mich leise summend in den Schlaf. Wie es dort jetzt aussieht, wollt Ihr vielleicht wissen? Ich kenne den Kanalradweg ja von vielen Touren. Noch bin ich im heimischen, bekannten Gebiet. Die Schutzhütte hatte ich letztes Jahr bei einer Kurztour entdeckt. Zwei Radreisende hatten sie okkupiert. Ich zeltete ohnehin ein paarhundert Meter entfernt bei einer Picknickstelle. Wie es in dem unendlich schmalen, wie in Fels gehauenen Tal aussieht? Schleuse an Schleuse, mindestens ein Kanalhafen, Felsen, Wald, schön geteerter Radweg. Die Sonne streicht von Osten durchs Tal und wärmt den Europenner, der jusque au Moment sein Radel sattelt, den GPS-Track startet und froh ist, dass es noch eine Weile aufwärts geht in Richtung Niderviller. Aufwärts ist so wichtig, frühmorgenfröstelnd, so wichtig, um den Radlerkörper auf Betriebstemperatur zu bringen.

Ich trage diesen Blogartikel auf meiner Reisekarte beim Hemköp in Falun ein.

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Im Minenfeld europäischer Durchreisenotdürfte, oder ein neugieriger Reisender auf den Spuren eines einst gewesenen Ichs | #zwand20

Zwei blaue und zwei grüne Notizbücher aufgefächert wie ein Kartenblatt auf schwarzem Grund
Zwei blaue und zwei grüne Notizbücher aufgefächert wie ein Kartenblatt auf schwarzem Grund
Die beiden blauen Notizbücher der Reise Zweibrücken-Andorra 2000 und die beiden grünen (eins davon Clairefontaine) aus dem Jahr 2010.

Der Grenzübergang bei Mühlhausen ist ein unwirklicher, verlassener, ein bisschen verkommener Ort. Wo einst in den 1980er und 1990er Jahren dichter Trubel herrschte, sich der Reiseverkehr zwischen dem Breisgau und dem südlichen Elsass Autobahnspur für Autobahnspur in ein Nadelöhr fädelte, um von schwer bewaffneten Zöllnern beäugt, beargwöhnt, bestichprobt zu werden, befinden sich, beiderseits der Autobahn, neben den verlassenen ehemaligen Zollhäusern riesige Parkflächen, auf denen kaum ein Mensch anhält oder parkt. Nur hie und da ein einsamer Lastwagenfahrer, der seine Pause absitzt oder hinter den zugezogenen Vorhängen der Fahrerkabine den obligatorischen Nachtschlaf absolviert.

Im Jahr 2015 auf der Rückreise aus der Schweiz stoppe ich auf dem Gelände, um mir die Füße zu vertreten und, naja, die Blase drückt auch ein wenig, weshalb ich mich hinters Auto stelle und ins weite, flache Land der Rheinebene schaue, wasserlassend, ziemlich sicher, dass hier jegliche Überwachungstechnik längst abgebaut ist, außer Betrieb oder von Vandalierern zerstört. Irgendwo liegt ein bisschen Müll und hinter der kleinen Kuppe neben dem Parkplatz zieren verwitternde Toilettenpapierreste eine Art Minenfeld europäischer Durchreisenotdürfte. Etwas weiter im Süden erhebt sich ein Fabrikgebäude aus den Feldern, die zumeist mit Mais bepflanzt sind. Groß steht der Firmenname auf dem Klotz aus Blech und Beton und Stahl. ‚Clairefontaine‘.

Clairefontaine ist der Stoff, aus dem meine Notizbücher sind. Bunte, spiralgebundene Kladden im französischen Format 17 mal 22 Zentimeter, also ein bisschen größer als das hierzulande gebräuchliche Format DIN A 5. Der Stoff, in dem die Freiheit steht, denke ich und ich muss zurückdenken an meine beiden Reisen von Zweibrücken nach Andorra in den Jahren 2000 und 2010. Auf Eselpfaden und kaum befahrenen Departementsstraßen erforschte ich ein verschlafenes Frankreich bis runter zu den Pyrenäen und entdeckte ein postindustrielles Etwas mit geschäftigen Einsprengseln. Da die Reisen beide Male im Frühling stattfanden erinnere ich ein grünes, von Raps- und Schlehenblüten durchzogenes Bild. In die Büchlein notierte ich neben ganz normalen Tagebucheinträgen auch die wichtigen Notizen für mein Kunstprojekt, das ich während der Reise machte: alle zehn Kilometer ein Foto der Straße (la Dixkilometrie/ Zehnkilometrie) und überhaupt notierte ich grundsätzlich alle Bildstandorte in die Büchlein. Ungefähr so: 10 | 40 | OA Enchenberg -> Lemberg, beginn Regen‘. Also Bild Nummer 10 bei Kilometerstand 40.  Oder ’16 | 79,32 | Phalsbourg trocken!‘

Ich war mir im Jahr 2000 nicht im Klaren, was das sollte. Ich wusste nur, das Projekt, Frankreich per Fahrrad zu durchqueren und die Reise in Schrift und Text zu dokumentieren, will ich genau so durch führen. Ein Künstler, der sich mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln selbst eine Stimme gibt, egal, ob es jemand sieht oder nicht, egal, ob es jemand kauft oder nicht. Sogar die Null-Follower-Theorie, die ich später in Form dieses Weblogs kultivierte, steckte damals schon mit drin: Kümmere Dich nicht um Quoten und Erträge, tu‘ was du tust weil du das tust was du tun musst, um es zu tun, denn niemand sonst nimmt dir diese Arbeit ab. Unter rein wirtschaftlichen Aspekten betrachtet hätte das Projekt als Kunstprojekt nie stattgefunden. Es war keine Ausstellung geplant. Die Bilder würden, weil ich sie zufällig, unter dem Diktat der Zehnkilometrie machte, keine Glanzleistungen schön zu betrachtender Lullifulliebildchen werden, die man hätte im Nachhinein verkaufen können. Die brachialen Tagebuchtexte schwankten tagesformbedingt zwischen reinen Zwecknotizen und tauglicher Reiseliteratur. Das Konzept selbst, reisend, schreibend unterwegs zu sein war nicht mehr neu und ich, ein nur regional bekannter, im pfälzischen Hinterland lebender Künstler und Schriftsteller ohne akademisches Fundament, taugte auch nicht, um als personifiziertes Kunstwerk im Markt Fuß zu fassen.

‚Film 0‘ steht in der ersten Zeile der ersten Kladde. Daneben das Datum: 16.4.00. Im Bucheinband innen ist die Adresse vermerkt und die Worte ‚Gagnez 100 $ – send this Book et films/pelicules to […]‘. Für den Fall, dass ich unterwegs beraubt werde oder die Filme und die Tagebücher verlieren sollte.

Nun, zwanzig Jahre später, finde ich das ein bisschen drollig, aber auch höchst interessant. Ich versuche, mich dem alten Projekt ganz ohne Scham zu nähern, die man oft empfindet, wenn es um einen Selbst geht. Wenn man sich in den Dekaden seines Seins wieder findet und sich sagt, mein Gott, was für eine Frisur, was für Ansichten, welch‘ Naivität, wird den meisten Menschen etwas klamm und es kommt eine gewisse Scham auf … manchmal vielleicht auch positive Gedanken. Weder Scham, noch Stolz sollen diesen Versuch der Selbstrekonstruktion behindern. Ich möchte versuchen, die alten Tagebücher so zu lesen, als wäre ich ein fremder Forscher, der die Geschichte aufbereiten möchte. Ein neugieriger Reisender auf den Spuren eines einst gewesenen Ichs.

Höchst interessant finde ich zum Beispiel, dass ich schon auf den ersten Seiten des Reisetagebuchs eine sehr harte, ernstzunehmende Konsequenz zeige. Hundert Dollar Belohnung für den Fall, die eigenen Aufzeichnungen, die potentiell verloren gehen, werden gefunden und zurückgegeben. Damals und für mich viel Geld. Die ersten elf Blätter des ersten Tagebuchs sind aus einem anderen Buch herausgetrennt. Wurden sozusagen zusätzlich in die Kladde eingelegt. Vermutlich eine Mischung aus Sparen und nicht vergeuden wollen leerer Seiten in fast zu Ende geschriebenen Tagebüchern, doch das nur als Nebenbemerkung. Auch sollte ich erwähnen, dass von den beiden Tagebüchern der Reise im Jahr 2000 keines der Marke Clairefontaine ist und im Jahr 2010, in dem die Reise auf der eigenen Spur durch Frankreich ebenfalls in zwei Kladden notiert ist, ist nur das zweite ein Clairefontainebuch. Vielleicht habe ich diese Marke erst damals entdeckt?

Heute ist der offizielle Tourenstart für das diesjährige Radeltourenprojekt durch Frankreich. Fast zwanzig Jahre nach der ersten Reise und zehn Jahre nach der zweiten. Ein brillianter Frühlingstag. Die Vöglein zwitschern überm Dach der Künstlerbude. Sonne lacht. Ich fühle mich sehr sehr fit und könnte locker siebzig achtzig Kilometer radeln bis weit hinters lothringische Nachbarstädtchen Bitche. Auf dieser Karte habe ich ein noch blankes Board vorbereitet, in das ich von unterwegs die Strecke kopieren möchte und Bilder zeigen, sowie Anrisse der Blogtexte an den jeweiligen Übernachtungsplätzen zeigen möchte. Mein heutiges Tagesziel?, fragt vielleicht jemand. Nun, es wäre im Prinzip offen, aber ich hätte eine Schutzhütte bei den alten Schleusen unterhalb von Artzviller ins Auge gefasst. Etwa 90 Kilometer bis dorthin. Im Jahr 2000 verbrachte ich die erste Nacht auf dem Campingplatz außerhalb von Lutzelbourg im engen, von Güterzügen durchtosten Tal am Rhein-Marne-Kanal. 2010 schaffte ich es ’nur‘ bis ins Imsterfeld, der kleinen Mulde, in der , so glaubte ich bisher, das Flüsschen Ims oder Imster entspringt. Mitnichten! Die Google-Karte verrät, dass in dem Tal nördlich der Gemeinde La Petite Pierre ein Bach namens Niederbächel fließt. Ein Fluss namens Ims oder Imster ist im Eintrag französischer Flüsse auf Wikipedia nicht erwähnt.

Man sieht, wie arglos ich in die diesjährige Reise gestartet wäre und wieviele Rinnsale mit falschem oder unbekanntem Namen ich schon auf den ersten 100 Kilometern flankiert hätte.

Schon letzte Woche hatte ich vermutet, dass es wegen der Pandemie eventuell gar nicht möglich wäre, aufzubrechen (geschweige denn klug). Just heute Morgen wurde in Frankreich eine Ausgangssperre verhängt. Menschen dürfen nur noch mit triftigen Gründen das Haus verlassen: arbeiten, einkaufen, artztbesuchen und Sport alleine. Eine Europenner-Radeltour fällt leider nicht unter Letzteres.

Dieser Blogeintrag wurde in der Tourkarte als orangenes Symbol am Originalschauplatz der ‚Clairefontaine-Beobachtung‘ an der alten Grenzstation nahe Mühlhausen eingetragen.

Dieser Blogeintrag wird Dir freundlich präsentiert von Irgendlink-Shop dem kommerziellen Backend dieses Reiseblogs.

 

Vom Hühnerfred, Olivenbäumen, Blutsbrüderschaft und schwer fassbaren Ichs

Dystopisches Retrofoto, quadratisch mit grünlichem Himmel und einem uralten, sich drehenden Olivenbaum

Ein Spaziergang im Wald am gestrigen, brilianten Sonntag. Wir sammeln Birkenrinde zum Feueranzünden. Daheim tauen die Grillwürste auf, die beim Wintercamping mit Freunden Ende Februar noch übrig geblieben sind. Offizielles Angrillen. Frau SoSo fragt, was ich mir bei einem Blogartikel, den ich kürzlich geschrieben habe, gedacht habe; wie ich auf diesen oder jenen Gedanken kam. Ich weiß nicht mehr, um welchen Artikel es ging. Ich antworte spontan, ich habe gar nichts gedacht. Ich denke nicht. Es denkt in mir und ich bin mir nicht sicher, ob es mich als Ich überhaupt gibt. Die Bezeichnung Ich für sich selbst ist doch nur ein Notbehelf für etwas, das man bezeichnen muss, das man aber nicht erklären kann. Das mag verrückt klingen. Durch jungkeimendes Grün stapfend, unter umgestürzten Fichten hindurch limboisierend, bin ich plötzlich ziemlich perplex und denke, der Ich heute ist ein Anderer als der Ich vor ein paar Jahren und als der vor zig Jahren und wieder ein Anderer als der Baby-Ich. Fast wie ein kleiner Freispruch, dass wir alle einmal als gute Menschen auf diesem Planeten begonnen haben und die Zeit formt uns zu dem, was wir in der jeweiligen Gegenwart sind.

Plötzlich vibriert das Telefon. Mein Freund, der Automechaniker J. ist dran, was sehr ungewöhnlich ist. Normalerweise rufe ich ihn an, weil ich irgendwelche Schrauberkniffeleien lösen muss, aber die letzten beiden Male, geht die Kontaktaufnahme komischer Weise andersrum. Vielleicht haben wir die Grenze von der Zweckgemeinschaft zur Freundschaft überschritten? Die Grenze zur Schweiz wird dicht gemacht, sagt er, habs gerade im Liveticker gesehen, du solltest das wissen, bist du in der Schweiz? Nein, die Schweiz ist bei mir. Frau SoSo wird hellhörig und hier, so im kraftstrotzenden Wald, der sich gerade wieder aufrappelt von den Winterstürmen, herrscht plötzlich in zwei komischen Ichs, die sich auf Füßen fortbewegen eine klamme Stimmung. Wie? Was heißt das, Grenze dicht? Keiner rein, keiner raus? Darf Frau SoSo noch in die Schweiz einreisen und falls ja, darf sie durch Frankreich fahren, oder muss sie den Grenzzipfel bis Karlsruhe umfahren, sich auf die mörderische A5 begeben, last Exit Basel …? Fragen über Fragen, die sich die massenhaft getöteten Bäume, die kreuz und quer liegen, sicher nie gestellt hätten.

Dystopisches Retrofoto, quadratisch mit grünlichem Himmel und einem uralten, sich drehenden Olivenbaum
Ein 1111 Jahre alter Olivenbaum am Pont du Gard nahe Nimes.

Ein Baum-Ich, das wäre mal etwas. Leben und empfinden wie ein Baum. Ich stelle mir das sehr selbstzufrieden, vielleicht ein bisschen fatalistisch vor. Du kannst als Baum selbst in tausend Jahren deinen Standort nicht wechseln. Der 1111 Jahre alte Olivenbaum nahe der Pont du Gard kommt mir in den Sinn, den wir um Weihnachten schon zum zweiten Mal besucht haben. Von seiner Position am Nordufer des Gardon hat man einen schönen Blick auf das Römeraquädukt. Was dieser Kerl alles gesehen hätte, wenn er ein Mensch wäre? Das gesamte Mittelalter, die Renaissance könnte er berichten, vielleicht war sogar Goethe schon bei ihm? Er könnte über die dreckige Zeit der 1970er bis 2000er Jahre berichten, in der die schmale Departementsstraße noch über eine Straßenbrücke direkt neben dem Aquädukt befahren war, in der Scharen von Touristen ihre Autos wild am Straßenrand parkten in ausgefahrenen trockenen Buchten im Ocker zerriebenen Kalkkonglomerats. Wie oft man ihn wohl angepisst hat in den 1111 Jahren? Wieviele Familien unter seinen Zweigen ihre Picknickdecken ausbreiteten und Käse, Wein, Baguette picknickten? Ob er sich erinnert, dass wir auf den Tag genau fünf Jahre zuvor auch bei ihm waren? Da war er schon erlöst von der scheiß Departemenstsstraße. Seit etwa zwanzig Jahren ist das Bauwerk, das, so glaube ich, auch Welterbe ist, für den Publikumsverkehr neu geregelt. Die Straßenbrücke wurde um die Jahrtausendwende stillgelegt, ein Besucherzentrum mit angrenzendem Park errichtet. Man darfdas Gelände von Norden her nur noch mit Eintrittskarte betreten (von Süden kann man über die Wanderwege unkontrolliert zum Pont du Gard, zumindest außerhalb der Saison). Um diese Zeit muss auch jener erhabene Moment gewesen sein, als man ihm, dem Olivenbaum, einen Stein beiseite legte mit einer Metalltafel, auf der sein Alter eingarviert ist. Vielleicht waren Honoratioren anwesend und der Moment wurde gefeiert (von Menschen für Bäume, von Menschen für Menschen?) Ob es ihn juckt, den Methusalem? Ob er sich als Ich sieht?

Ich werde es nie erfahren.

Ich huste. Die Nase kitzelt. Der Hals kratzt.  Hab ich den Virus? Schon seit Freitag geht das so. Ich hatte Freund Jounalist F. mal wieder beim Einkaufen geholfen. Als Dialysepatient ist er vier Mal die Woche außer Gefecht und obendrein nicht sehr mobil. Schon seit Oktober assistiere ich. Dieser Tage jedoch kommen mir Bedenken. Die Dialyse findet im größten Klinikum hier in der Gegend statt. Tausende Menschen arbeiten auf dem vielhektargroßen Gelände. Eine kleine Stadt am Rande der Stadt. Ich erinnere mich an die Zeiten der Vogelgrippe vor etwa zehn Jahren, als man an den Pforten zum Gelände Schilder aufstellte: Wenn sie aus Land A, B oder C kommen und Symptome haben, melden Sie sich da und da. Im Laufe der Zeit wurden die Schilder immer größer und zu Land A, B und C, gesellte sich Land D, E, F und so weiter. Ich fand das bemerkenswert.

Schilder waren gestern. Heute sind es Liveticker.

Freitagsmorgens auf dem Weg zu Journalist F. hatte ich mir überlegt, ich sollte vorsichtig sein. Ich streifte eine Schutzmaske über, aber schon beim Freund in der Wohnung war klar, dass das kaum hilft. Es schütze ohnehin eher die Umwelt als einen selbst und da ich davon ausging, dass das Virus wenn, dann von ihm, der er täglich sechs Stunden im verkeimten Klinikum ist und mit weit herumgekommenen Taxifahrern unterwegs ist, zu mir springt, denn umgekehrt, ließ ich das mit der Maske wieder sein. Spätestens als Journalist F. schwindelte, er sich nicht mehr am Rollator halten konnte, in seiner Wohnung drohte zu stürzen und ich ihn mit beiden Armen unter die Achselhöhlen fassen und stützen musste und wir uns sehr nahe dabei kamen, wurde mir klar, ich kann es auch sein lassen mit der Maske. Ich bin sowieso nicht kompetent genug, sie fachgerecht anzulegen.

Ich setze die Waschmaschine auf, derweil sich Journalist F. ein wenig ausruht. Wegen der Plümeranz wird dem Freund etwas bange und er sagt, richte mal vorsorglich die Krankenhaustasche, vielleicht fahren wir da hin.

Weiter im Standard-Programm der Assistenz. Ich machte den wöchentlichen Einkauf in einem proppenvollen Aldimarkt – seit Oktober habe ich den Markt noch nie so hektisch erlebt, denke ich mir. Eine Frau neben mir am Pfandautomaten macht ein kleines Wettrennen und wir schmunzeln vor uns hin, 4,75, sage ich, 6,50, sagt sie, 7,75 kontere ich. Sie füttert fast ausschließlich anderthalb Liter Flaschen, während ich kleine Energiedrinkdosen einfülle und somit schneller bin. Mit satten 11 Euro gewinne ich knapp. Wie in einem Spiel ohne Gewinner verlassen wir den Automaten. Es ist fast wie eine kleine Blutsbrüderschaft.

Einkaufsliste abarbeiten. Normalerweise bin immer ich der, der den vollsten Wagen hat, aber nun sehe ich zig Menschen, die sich unendlich viel einladen. Trotzdem gibt es alles, was Journalist F. auf der Liste hat. Sogar Erdbeeren. Die Stimmung im Laden ist angespannt. Alle drei Kassen sind besetzt.

Draußen vor dem Laden steht der Hühnerfred. An der wie eine Hölle auf Rädern wirkenden Grillbude stehen einige Menschen Schlange, lechzenden Mundes auf die sich ruhig drehenden Hähnchen starrend. Hühnerfred steckt mit beiden Armen bis zu den Ellenbogen im Fett knusperbrauner Hühnerhaut. Selbst ohne die Pandemie im Nacken könnte ich aus purem Ekel vor den feinen Härchen seiner Arme, die sich gewiss ins eine oder andere Hähnchen verirren, nichts davon kaufen. Die Menschen, die anstehen, es sind nicht wenige, scheint das überhaupt nicht zu kümmern. Hasardeure, denen der Speichel in den Mundwinkeln rinnt. Ich sehe nicht, wie sie das mit dem Geld regeln, aber irgendwie müssen sie den Fred doch bezahlen und er muss ihnen wechseln und die Höllenbude sieht nicht danach aus, als wäre dort ein Waschbecken, in dem man mal eben zwei Vaterunser lang seine Hände waschen könnte.

Zurück beim Journalisten bin ich erfreut, ihn wieder munter zu sehen. Es ist nicht neu, dass sein Kreislauf zusammenklappt, das sei gesagt, aber eben, die Virussache macht einen etwas hysterisch und dann erkennt man nicht mehr, was sich als normal eingestellt hat an Gefühlen und Befindlichkeiten, und was durch die Angst, die einen ob der Nachrichten ergreift, aufgepfropft ist.

Abends danach, also vergangenen Freitag, erster Schnupfen. Hirn sagt sofort, Alarm. Halskratzen, trockener Husten. Samstags früh alles wieder bestens, bis sich das Hirn wieder auf den Schienenstrang der Hysterisierung begibt und hie und da ein Zwicken feststellt. Gibt es psychosomatischen Schnupfen? Husten, all das? Ich besinne mich im Laufe des Wochenendes, messe sogar erstmals seit zwanzig Jahren Fieber, 36,6, fühle Puls, entferne zwei Holzstücke, die ich im Verdacht habe, dass sie vom Rußrindenpilz befallen sind aus dem Brennholzstapel – denn die Suche nach Alternativen zum Virus, die den Reizhusten ausgelöst haben könnten, hat längst begonnen. Ohnehin, wird mir jetzt erst einmal bewusst, wie oft ich solchen Husten habe. Ziemlich oft. Sogar beim Staubsaugen der Künstlerbude kriege ich Husten. Meine Lunge ist einfach nicht mehr das, was sie einmal war. Und sie ist auch nicht das, was ich von ihr denke, was sie nun ist.

Es ist ähnlich wie mit dem, was in mir denkt und diese Zeilen schreibt, von dem ich nicht weiß, wer oder was es ist und wie es funktioniert, das aber einfach da ist und eigentlich keine Begründung bräuchte. Ja ja, ich glaube, das lässt sich tatsächlich vergleichen mit dem was man fühlt und wenn man Schnupfen fühlt und Husten, dann ist das zwar Schnupfen und Husten, aber welche Ursache sie haben, das verschließt sich einem, wenn man nicht in der Lage ist, einen Labortest zu machen.

So sitze ich denn hier am Montagmorgen vor der eigentlich hätte beginnen sollenden Radelreise nach Andorra und weiß nur eins, ich habe leichte Erkältungssymptome wie eigentlich öfter mal, die mich überhaupt nicht einschränken und weit davon entfernt sind, sich wie eine alles ausknockende Grippe anzufühlen. Ich ḱönnte sofort aufs Radel steigen, tja … die Grenzen sind dicht. Ich kann die Reise nicht beginnen. Wie zum Hohn baut sich das erste große Frühlingshoch über dem Land auf, aber es gibt Schlimmeres als nicht reisen zu können, denke ich mir. Andorra mit seinem einen Virusfall läuft mir nicht weg.

Freund Journalist F. dürfte aufatmen und froh sein, dass ich weiterhin assistieren kann. Obschon ich mich ganz und gar nicht danach reiße, das einsame Gehöft zu verlassen.

Pandemisch gesehen ist nämlich ein einsames Gehöft der perfekte Ort, um Zeit verstreichen zu lassen.

Ich sollte die Gartenanbaufläche vergrößern.

So lange rund ums Saarland radeln, bis die Pandemie vorbei ist

Collage mit vielen bunten Postkarten, unregelmäßig gesetzt. Zum Beispiel: Ein Fisch mit Kochmütze prang prominent in der Bildmitte.

Hygiene, jawohl, Hygiene, das wäre mal ein Vorname, Hügiene mit fettem Ü und einem schönen, langgezogenen I wie in Gesine. Man könnte diesen Namen als Zweitnamen einsetzen wie zum Beispiel Maria: Rainer Hygiene Rilke, Hygiene Theresia, Klaus Hygiene Brandauer, Hygiene Magdalena, Hygienekäfer, ich hatte eine Hygieneerscheinung usw.

Spaß bei Seite, bzw. ein bisschen Galgenhumor. Die Pandemie macht mir im Vorfeld der Reise zu schaffen. Noch vor anderthalb Wochen schien die Welt halbwegs in Ordnung. Damals, als ich eigentlich hätte starten wollen, wäre das Wetter denn nicht so schlecht gewesen und, naja, hätte ich das Fahrradersatzteil rechtzeitig gekriegt. Vermeintlich Schuldige am Ausgang der Dinge und an den Zuständen wie sie herrschen sind immer schnell gefunden. Im Falle der geplanten Radelreise: Nein, das Wetter war nicht schuld! Und nein, das Ersatzteil hätte ich auch schneller haben können, wenn ich es nicht beim Fahrradhändler meines Vertrauens bestellt hätte.

Das alles ändert aber nichts am derzeitigen Zustand. Ich habe ohnehin richtig und vernünftig gehandelt. Ein ehernes Gesetz beim Start einer Radelreise lautet: Fahr nicht los, wenn es dauerregnet. Und es regnete ja dauer.

Dienstag soll der Frühling ausbrechen. Ideale Bedingungen für das Reiseprojekt. Momentan habe ich mir folgendes überlegt: Bis Dijon in Burgund sind es etwa fünf Tage zu radeln und ich bewege mich nicht sehr weit weg von daheim. Könnte notfalls, wenn die Gegend wegen Eindämmungsmaßnahmen gegen die Pandemie unbereisbar wird, mich per Radel in die Schweiz oder zu Freunden ins Jura durchschlagen oder einen TER-Zug zurück nach Saargemünd (quasi bis fast vor die Haustür hier in der Pfalz) nehmen. Wenn der Zugverkehr noch aufrecht ist.

Vorgestern kaufte ich im Nachbarstädtchen ein Brot – mit solchen Kleinigkeiten fängt es an, sich in die Nachdenklichkeitsspirale zu begeben. Die Bäckerin in der winzigen Dorfbäckerei neben dem Stadttor packte den Laib mit bloßen Händen, tütete ihn ein und überreichte ihn mir strahlend. Woraufhin ich mir die Bretzel zum Direktverzehr kurzerhand verkniff. Das Brot, ich zahlte mit Münzgeld, sagte ich mir, kannst du ja eine Weile liegen lassen, bis allenfalls darauf klebende Viren vergehen. Ich habe einmal gehört, dass die Viren nach acht bis zehn Stunden nichts mehr anrichten. Ich weiß nicht, ob das stimmt, nichts Genaues weiß ich nicht. So klemmte ich das Brot auf den Gepäckträger, fuhr nach Hause und ließ es über Nacht im Atelier zum Dekontaminieren. Ich Genie.

So weit so gut. Unterwegs herrschen aber andere Bedingungen. Wenn ich unterwegs Brot kaufe oder eine in Frankreich so oft angepriesene leckere Pizza oder Eclaire oder sonst irgendwo etwas einkaufe, kann ich nicht erst alles auf dem Gepäckträger zwölf Stunden dekontaminieren. Zudem ist Hände waschen auf Radelreisen nicht so einfach wie daheim, wo man immer fließendes Wasser hat. Wie reist man im Falle einer Pandemie? Packtaschen voller Mehl und Couscous und sich permanent selbst versorgen, möglichst niemandem begegnen, immer wildzelten, sich in frühlinghaft frischen Flüssen baden? Klingt gar nicht so unmöglich, diese Vorstellung.

Oder ganz normal reisen wie immer, auf Teufel komm raus?

Oder nicht reisen?

Oder statt nach Andorra zu radeln so lange rund ums Saarland fahren, bis der Spuk vorbei ist (irre Idee, zwar nicht ernst gemeint, aber als Kunstprojekt verlockend). Ich sollte erwähnen, dass der große Saarlandradweg, der ziemlich genau an der Grenze des meistverglichenen Bundeslandes der Welt führt, nur 350 Kilometer lang ist und fast direkt vor meiner Haustüre beginnt. Im Herbst 2018 bin ich die Strecke in fünf Tagen geradelt. Man begegnet auf dem großen Saarlandradweg kaum Menschen :-).

Dieses Gedankensammelsurium klingt vielleicht merkwürdig. Aber ich versuche mir vorzustellen, wie sich das Ganze entwickelt und nehme als Blaupause Zustände wie sie momentan in Italien herrschen … vielleicht doch besser abwarten?

Wäre das Wetter bloß nicht so verlockend und das Reiseradel hufscharrend im Atelier.

Collage mit vielen bunten Postkarten, unregelmäßig gesetzt. Zum Beispiel: Ein Fisch mit Kochmütze prang prominent in der Bildmitte.
Auswahl an Postkarten des Projekts iDogma AnsKap 2015.

Hier habe ich das Projekt Zweibrücken-Andorra einmal auf einer Karte skizziert.

Mitreisewillige und Bloglesende können hier iDogma-Karten bestellen. Manche werden sich an die Reisen zum Nordkap und nach Gibraltar erinnern, auf denen ich etliche dieser kleinen Mailart-Kunstwerke kreierte. Hier zum Beispiel die iDogma-Karten des Projekts #AnsKap.

 

Ich hab‘ vergessen, dass ich nichts weiß

Fiktive Zeitung Muds Health mit Schlagzeilen und Skandalen um Heiko Moorlander

Ich musste abschalten. Mehr oder weniger und so gut es denn geht. Die informations- und desinformationsgeflutete Welt macht dem Gemüt arg zu schaffen. Fernsehen habe ich schon seit zehn Jahren nicht mehr. Radio auch nicht. Die Augen vorm Internet zu verschließen ist für einen, der darin und damit arbeitet leider nicht so einfach. Meide die Sozialen Medien, überlies die Nachrichten so gut es geht, konzentriere dich auf deine kleinen feinen Themen. Lullifulliethemen, Randgebiete dessen was gelesen werden will, was gewusst werden kann – wenn ich es mir genau betrachte stehe ich un(scharf)informiert einem gewaltigen Zwitschern von Meinungen, Informationen und scheinbar Wissbarem gegenüber, aber als kleiner Mensch habe ich nicht die Möglichkeit so weit in die Tiefe zu schürfen und zu überprüfen, ob Meldungen richtig oder falsch sind, ob sie diesen oder jenen Zweck erfüllen, ob man in diese oder jene Richtung beigebogen wird, mitzumeinen im großen Meinungskanon.

Man könnte sagen, ich habe vergessen, dass ich nichts weiß. Und ich beiße mich an all dem Wissbaren fest, das wie lecker Nahrung breitwürfig informativ in den Medien ausgebracht wird. Im Prinzip wie einkaufen und ins Supermarktregal greifen und diese oder jene Marke dieser oder jener Preisklasse herausfischen. Neben dem hochwertigsten, unter idealsten Bedingungen produzierten Bioprodukt lauert billigst gepanschtes Zeug, das es irgendwie durch die Kontrollen vorbei an den Normen geschafft hat und man kann es kaufen, man kann es essen und es schadet einem womöglich nicht. Das Perfide bei Information wie auch bei Lebensmitteln ist, man kann niemandem trauen und doch muss man vertrauen. Sonst würde man verrückt oder verhungern. Okay, bei Lebensmitteln hat man noch einen Ausweg: Man produziert sie selbst, wenn man denn ein Stückchen Garten hat. Aber auch da kommen möglicherweise giftige Unwägbarkeiten ins Spiel: Versprüht der Nachbar krebserregende Pestizide auf dem Feld, die keinen Halt machen vor Grundstücksgrenzen? Wer hat das Saatgut, das man nutzt, unter welchen Bedingungen hergestellt? Wie ist die Luft- und Wasserqualität rings um meinem Garten? Und so weiter.

Doch zurück zur Information und zur großen Quoten- und Klickschlacht in den Medien. Wem kann ich vertrauen? Welche Nachricht ist echt und gut recherchiert und welche ist nur ein billig produziertes Konsumgut? Hier gibt es zum Glück Medien, die halbwegs seriös sind. Manchmal namhafte große Medienhäuser, aber auch und vielleicht sogar insbesondere die weniger namhaften, noch nicht institutionalisierten Graswurzelmedien, einzelne Fachbloggerinnen und -blogger, die sich mit dem jeweils beackerten Thema auskennen, Menschen, die informieren wollen um des Informierens willen – das ist etwa so schwierig wie eine Putzhilfe zu finden, die putzt, um zu putzen. Die Komponente Geld und Rentabilität in inniger Paarung mit menschlichem Egoismus, Narzissmus und Gier spielt sicher eine große Rolle bei der Produktion von … ja von was? … von eigentlich so gut wie Allem. Wenn ich mein Geld mit Fleisch verdiene, schaue ich, dass ich das Fleisch so wirtschaftlich wie möglich produziere; auf engstem Raum mit billigstem Futter, aufs Schnellste gemästet. Wenn ich das Geld mit einem Campingplatz verdiene, bin ich als gewiefter Giermensch natürlich darauf aus, so viele Zelte wie möglich auf dem kleinen Areal unterzubringen. Egal wie sich das für die Campierenden anfühlt. Idealer Weise liegt der Campingplatz bei einer unausweichlichen Sehenswürdigkeit, einer Stadt, die jeder besuchen möchte (Kiel zum Beispiel). Bin ich Nachrichtenproduzent, dann achte ich auf Reizworte und gebe den Informationen, die ich mir so billig wie möglich einkaufe klangvolle Namen, die den Nerv meines Klientels treffen, Nachrichten, die süchtig machen. Es ist mir egal, wie gut oder schlecht der Artikel relotiert ist, Hauptsache, er verkauft sich. Bin ich schwedischer Möbelproduzent, so schaue ich im Laufe der Jahrzehnte, dass ich die für mich scheißteuren Bilderrahmen aus Echtholz mit poliertem Glas durch genau gleich aussehenden Dreck aus gepresstem, furniertem Sägemehl ersetze. Bin ich Industrieller, so sehe ich Arbeitskraft als Kostenfaktor und kaufe sie dort, wo sie möglichst billig ist. Habe ich meine Drecksgriffel im Rohstoffegeschäft, ist es mir ein großes Anliegen die Umweltkosten so gering wie möglich zu halten, meine Rohstoffe in Ländern mit korrupten bestechlichen Behörden einzukaufen.

Uns so weiter und so fort.

Wo hatte ich begonnen? Ach ja. Beim Dichtmachen. Beim nicht mehr Medien konsumieren. Was nicht unbedingt gleichzusetzen ist mit gänzlich wegschauen. Natürlich weiß ich, was vorgeht in der Welt und wie übel unsere Karten sind. Ähm nein, wissen ist falsch! Hab ich doch glatt verdrängt, dass ich nichts weiß. Aber ich bin auf der Spur. Ich habe eine ungefähre Ahnung. Mein Bild ist unscharf. Ein ungefähres Etwas von Realität, das erst dann, wenn es ganz nah ist an Schärfe und Wucht gewinnt.