Ein geradezu unheimlicher „Flow“. Ich hatte schon immer das Gefühl, Kreativität folgt einer periodischen Kurve. Manchmal quillt man über vor Ideen, manchmal tut sich nichts. Früher, vor etlichen Jahren, waren mir die Sich-nichts-tut-Phasen unangenehm. Wenn ich nicht in der Lage war, meine Hirngespinste weiter zu entwickeln, wurde ich unruhig. Im Lauf der Jahre lernte ich, dass die nichtkreativen Phasen dazu dienen, diszipliniert die eigentliche Kunstschufterei zu erledigen. Menschen ohne Ideen können prima Datenbanken pflegen. Sie können Passepartouts schneiden, Bilder drucken, aufräumen, all die kleinen Jobs, die man so gerne vernachlässigt, wenn das Genie in einem durchschlägt und im zehntausendsten Stock der Kreativität – rein mental – die Wände einer verrückten Wohnung bemalt. Seit einigen Tagen ein nie dagewesener Flow. Die ganz großen Dinge manifestieren sich vor meinem inneren Auge. Angefangen hat es mit der Idee für ein Buch. Ich war bei SoSo in der Schweiz. Suboptimal gelaunt, nicht unglücklich, nicht glücklich, nicht geistreich, nicht stumpf, bis mir morgens plötzlich die Handlung des Buchs klar wurde und es ein Leichtes war, daran weiter zu spinnen. Charaktere wie aus dem Nichts, so als hätte ich monatelang über einem Neuschwanstein-Puzzle mit zehntausend Teilen getüftelt und nun fallen die Teile plötzlich an die richtige Stelle.
Der erste bauesoterische Roman der Welt. Das Schichtenmodell der Bauesoterik, Protagonist Robert, die Tonne und sein analytisch dilletantisches Gegenüber namens Ich-der-Ich … verflixt, die leben ja …
Ich rede wirres Zeug. SoSo war begeistert von meinen knappen Skizzen, die ich ihr am Frühstückstisch erzählte. Konzeptliteratur. Ich kann nun mal nicht anders. Ich bin und bleibe Konzeptkünstler. Auf dem Heimweg, per Auto über die elsässische A35 bis in die Pfalz, liegt das iPhone auf meinem Knie. Der Sprachmemoknopf blinkt. Ich spreche Robert, die Tonne auf, skizziere einen ockerfarbenen, korpulenten Berber mit Ixbeinen und zwei verschiedenen Schuhen, gebe ihm Alter, Name und Herkunft. Fast kommt er mir echt vor, wie er mit seinen abgewetzten Klamotten im ersten Frühlingsregen irgendeines Jahres – es ist nicht allzu lange her – vor der Stadthalle irgendeiner Kleinstadt – sie ist nicht allzu weit entfernt – sitzt.
Vorgestern war das. Ich steuerte den Wagen Richtung Heimat, dachte und sprach mit dem Band und legte die Gedanken zu Grabe. Das ist leicht, wenn man die digitale Technik nutzt. Ich glaube, von all meinen Sprachnotizen auf dem iPhone habe ich nur einen winzigen Bruchteil jemals wieder abgespielt. Genauso verhält es sich mit den schriftlichen Notizen in dem kleinen, braunen, lederbezogenen Notizbuch, das ist bestimmt schon fünf Jahre alt. Ich habe es in Mainz gekauft. Es war nicht billig. Das Wichtige an den Notizen ist, dass man sie macht. Man gibt sich damit das Gefühl, etwas, was man möglicherweise vergessen könnte, zu retten. Theoretisch kann man das Gedachte jederzeit wieder betrachten. Ein Akt der Selbstberuhigung. Schätze mal, die meisten Menschen gehen so ähnlich vor. Notizen sind die Lizenz, zu vergessen.
Vielleicht hängt die Sache mit den Kreativschüben genau damit zusammen: nichts geht verloren von dem, was man täglich denkt. Selbst wenn man glaubt, man habe etwas vergessen und krampfhaft versucht, sich zu erinnern, kommt es irgendwann wieder. Zäh wie Atommüll frisst es sich durch die Innereien des Hirns, wird in Träumen durchgewalkt, neu sortiert, und tritt eines schönen Tages mit der Wucht eines komplexen Ganzen wieder zu Tage.
SoSo regte an, ich möge doch den gesamten November mit Schreiben verbringen. Das gute alte Novemberschreiben – eine Initiative, die es angehenden Autorinnen ermöglicht, an einem Buch zu arbeiten. Eine Art Tritt in den Hintern, denn die Sache ist wettbewerbshaft. Wer sounsovieltausend Wörter schreibt, kriegt eine Medaille. Eigentlich geht es darum, diszipliniert an einer einzigen Sache zu arbeiten und ein Ergebnis zu erzielen.
November der Kunst. Ich spüre, dass die nächste Reise begonnen hat.




