Just im Moment mit einem Schiff namens Funny Girl nach Helgoland unterwegs, um Kunstmanager F. Zu treffen. Winziges Schiff. Schaukelt trotz Windstille. Die Mutter mit Bub am Tisch gegenüber spielt Schiffeversenken. Zwei blasse Kerle klemmen sich nebenan an den Tisch und fachsimpeln über Dithmarschen – ihr ächzen, wenn sie den Bierhumpen absetzen geht wie ein Stoßgebet durchs Schiff.
Urban Artwalk Hamburg
Speedlife 2
Nur im Stillstand können sich die Ereignisse überschlagen. Ich stelle diese Hypothese unter der Dusche auf.
Die „stationäre“ Zeit, eine Woche Ferien auf dem Bauernhof zusammen mit SoSo, bringt mir wieder alle Unabdingbarkeiten der Netzkultur nahe. So surfe ich unter vollem Strom bei ewig verfügbarer Steckdose im Netz, knüpfe neue Kontakte in die USA. Plane Ausstellungen. Dienstags übermittle ich 96 erste iDogma Fotos von der Reise Ums Meer an ein Fotolabor. Zahle mit Kreditkarte – wenn ich Ende Juli nach Zweibrücken heim kehre, habe ich eine komplette Ausstellung fürs Kunstzwerg Festival.
In Brüssel bewerbe ich mich für eine Mobile Art Ausstellung, belästige das Kuratorium einer Phoneography Schau in Los Angeles, diene mich an mit den „frisch-aus-dem-netzen“ Früchten meiner Reise.
Notizen eines postmodernen Pilgers. Das iDogma ist ausgereizt bis zum Gehtnichtmehr. Die Kunstwerke kommen direkt vom Fon in die Galerie.
Was noch?
Lind Kernig hat sich als erster menschlicher Zeitreisender am 12. Juli 2412 als Versuchsperson zur Verfügung gestellt und ist letzte Nacht im Itzehoe 2012 angekommen. Sofort hat er sich bei Facebook registriert als Lind Kernig. Er dankt Emil und dem Assoziationsblaster für die großzügige Namensspende und freut sich über neue FreundInnen, die ihm das Leben in der Anfangszeit des mobilen Zeitalters erklären.
Vielfalt menschlichen Lebens in einem Café in Itzehoe an einem Sonntag kurz vor Gewitter
Tag 104 – ich muss nachzählen, sonst verirre ich mich. Es gibt nichts besseres fürs Gemüt, als Entscheidungen zu treffen. Möglichkeiten zu reduzieren. Das friedliche Leben auf Hof Basten trägt zur inneren Klarheit bei. Außer Hund Kessie, der immer dann bellt, wenn Fremde am Haus vorbei laufen, und dem täglichen Milchlaster, gibt es hier kaum Geräusche. Ab und zu ein Auto. Ein gerufenes Wort, das Schlagen des Hoftors, Regen aufs Dach. Besinnung pur. Wir lesen, fummeln auf dem iPhone, tummeln uns im Netz, hängen ab. Gutes Lazy-Leben. Bei schönem Wetter können wir den Neulingen zuschauen, wie sie vor einem riesigen, vertikal gespannten Netz den Swinggolf-Swing üben: Schläger in den Händen, Hüftschwung, Ball fixiert. Nach einer halben Stunde Üben gehts dann ab auf das Neunloch-Feld.
Wenn das Wetter stimmt.
Aber es regnet mehrheitlich, so dass mir nur eines einfällt, was man tun könnte: Radfahren … ne, Quatsch. Spässle gemacht.
Frühmorgens rechne ich mein Leben durch und komme zu dem Schluss, dass ich die Runde doch zu Ende bringen kann. Ab 15. Juli habe ich genug Zeit, durch Holland und Belgien zu radeln und mich in Boulogne sur Mer in den Zug zu setzen, der, mit einmal Umsteigen in Paris, bis Saarbrücken fährt.
Die Terminsorgen des Alltags gehen mir ein bisschen auf die Nerven. Und das Rechnen, Zeit in Geld zu verrechnen und umgekehrt. Opportunitätskosten. Und die unsichtbaren Gedankengebäude, die man erschafft, wenn man daran denkt, wie man zum letzten Mal ein voll gepacktes Radel in einen Hochgeschwindigkeitszug gewuchtet hat. Bald zehn Jahre her, kein Zuckerschlecken. Hochgeschwindigkeitszüge haben etwas verwahrlost Unmenschliches, so als würden sie dir das Herz rausreißen und es gegen einen Stein eintauschen. Das Gequengel, die trockene Luft, die unsichtbaren Gepäckfachterritorialkämpfe und die gleichzeitige kalte Stille hart arbeitender Irgendwohinwoller international.
Muss ich mir das jetzt vorstellen? Muss das in meinem Kopf sein?
Warum nicht einfach unbeschwert hier abhängen, danach nach Boulogne radeln, zum Bahnhof gehen, das Ticket kaufen und erst dann die Szenen in „echt“ erleben?
Dann hätte ich im Jetzt auch die Muse, über den Besuch in einem Café in Itzehoe zu berichten.
Der war nämlich richtig spannend wegen der vier verschiedenen Welten, die dort an einem Sonntagnachmittag aufeinander treffen. SoSo und ich bestellen Kaffee und Kuchen, setzen uns nach draußen an einen Tisch in der Fußgängerzone und beginnen mit unseren Fons zu arbeiten. Zu „appen“, wie man so schön sagt. Unsere Welt ist voller seltsamer englischer Fachbegriffe: Jag das Bild doch durch Tiny Planet und verarbeite es dann mit Photo Wizard. – Mit welchem Hipstafilter haste denn das gemacht. Ich ruf ma eben Mails ab, vielleicht hat Journalist F. schon die Kunstzwergpressemitteilung fertig.
Und so weiter. Ganz anders Welt Nummer zwei, das vergnügte Gespräch zweier Mittvierzigerinnen, die beide nicht muttersprachlich deutsch reden, aber dennoch auf Deutsch über Livestyle reden. Die arabisch wirkende hat der fernöstlich aussehenden Frau ein Geschenk gemacht. Parfüm. Ein Hauch Chanel vibriert. Ein Tisch daneben sitzt ein Intellektueller alleine, starrt in den Himmel, vermutlich fabuliert er an einer Doktorarbeit. Er wirkt müde. Drei ältere Damen reden übers Wetter. Ihre Rollatoren stehen wie eine Wagenburg um den Tisch. Sie werden nicht müde, die Temperaturen zu diskutieren, die Luftfeuchtigkeit, den angekündigten Starkregen. Längst tue ich es dem Intellektuellen gleich, starre in den Himmel, runzele die Stirn, fabuliere an einem Blogbeitrag, der davon handelt, das verschiedene Menschentypen in einem Straßencafé an den Tischen sitzen und ihre verschiedenen Gesprächsthemen sich ineinander schieben wie die Ebenen einer überdimensionalen abstrakten Stahlskulptur. Abgang Intellektueller. Sofort setzt sich eine triste Frau an den Tisch mit rot geweinten Augen unter Sonnenbrille, Wetter von links hinten, Lifestyle von rechts vorne. Das wäre echt toll, denke ich in den Himmel starrend, wenn ich mir die Dialoge hier alle merken könnte und daraus einen rein dialogischen Blogbeitrag schreiben könnte. Titel die Vielfalt menschlichen Lebens in eine Café in Itzehoe an einem Sonntag kurz vor Gewitter.
Hohe dunkle Wolken ziehen auf und erinnern mich, dass ich eine Entscheidung treffen muss.
Fipptehler lasse ich drin.
Bildtafeln 35 bis 39
Tafel 35 – km 5440 bis km 5590

Tafel 36 – km 5600 bis km 5750

Tafel 37 – km 5760 bis km 5910

Tafel 38 – km 5920 bis km 6070

Die angefangene Tafel 39 endet nach acht Streckenfotos am Hauptbahnhof Emden. Km 6080 bis vorläufig km 6150.
Ab 15. Juli werde ich an dieser Stelle auf dem Nordseeradweg weiter radeln.


