Deichland

Bei dem schwülen Wetter drückt es die Menschen aus den Häusern. Wie Schweißperlen tröpfeln sie Richtung Strand oder in das kühle Wäldchen westlich von Cuxhaven. Strandkorbmiete. Schlauchboote unterm Arm,  die Paddel wie Nordic Walking Stöcke auf den Klinkerwegen. Leckeis, Illustrierte und Bücher, Sonnencreme, MP3-Player verkabelte Jogger. Eine ältere Dame knickt um vor meinen Augen. Heilfroh, dass sie sich nur den Knöchel verstaucht hat, hier in der Heide, und nicht einen Hirnschlag erlitten hat. Zusammen mit ihrer Freundin helfe ich ihr auf die Beine. Verdatterter Dank. Und weiter. Hunderte Radler am Weg. SMS von Ray, dass er in Spieka Neuhaus Lunch macht. Verflixt. Das Dösedösen hat mich zehn Kilometer zurück geworfen. Nun erkenne ich, dass wir keineswegs unsere eigenen Takte nebeneinander her geradelt sind. So menschlich kompromisshaft haben wir uns angepasst, um gemeinsam das Abenteuer zu erleben. Einmal mehr wird klar, wie kompromisslos und egoistisch diese Reise inmitten des Lebens ist. Alle meine Alleinreisen seit dem Jahr 2000 sind so. Aber „Ums Meer“ ist es ganz besonders.

Lebensmittelladensuche in Wremen (ja, wirklich, Wremen mit W) gegen 19 Uhr. Ein Mädchen erklärt, dass hier samstags schon alles zu ist. Bestenfalls in Bremerhaven könnte ich noch einen offenen Laden finden. Mist. Ich brauche Brennspiritus für den Kocher, sonst gibt’s Sonntag kein Abendessen. Zwanzig Minuten bis Bremerhaven sagt sie, Innenstadt ne halbe Stunde. Ich brauche eine Stunde, falle im Überseehafen wegen der Massen an Stahl und technischem Fachwerk, Kranen, Eisenbahnladungen voller Neuwagen, haushohen Ozeanriesen, in den Künstlermodus. Abendessen ist nicht wichtig. Das Licht ist gut. Spiegelungen und schrille Farben. Industrieverkommenheit. Drei Truckfahrer lümmeln oberkörperfrei vor ihren Lastern, Adilettenfüße, das Wochenende totschlagen, Fahrverbot und dann in dieser garstigen Lagerhauswüste gestrandet. Ahne ihren Schweiß, Loch im Zahn, die Verdauungsbeschwerden und den Bluthochdruck, polnische Zigaretten. Schon kurz vor acht. Das wird nix mehr mit dem Brennspiritus. Ich frage zwei Jungs nach nem Laden, aber sie sprechen nur kroatisch (neeeiiin!), paar Brocken Englisch. Sehnsüchtige Matrosen, die wissen, wo es Dosenbier zu kaufen gibt und die sich nach ein bisschen Liegen am Strand von Trogir sehnen. Dort sei es wenigstens warm.

Sonne sinkt. Wir liegen bei geschätzten 25 Grad. Wie ausgestorben wirkt das Hafengelände. Kilometerweit durchradele ich Lagerstätten mit nagelneuen Mähdreschern, Autos, Baumaschinen. Von hier also pumpt der Exportweltmeister seine Produkte in den Weltmarkt. Und hier landen die unter unwürdigen Bedingungen in der weiten Welt produzierten Billigprodukte. Willkommen im Düker der großen Weltenpumpe. Kurz vor acht passiere ich eine Zollstelle mit echten Beamten. Einer trägt Pistole, sieht aus wie ein Fremdenlegionär. Sie erklären mir den Weg zum Shoppingstrich, Lidl, Aldi, alle stehen sie da und bieten ihre Waren feil. Aktiv habe sogar bis 12 Uhr auf. Ich bin baff. Dann kann ich mich ja ungebremst in den goldenen Abend voran fotografieren.

Rein in die Stadt. Eine Gruppe schwarz gekleideter Typen mit langen Haaren, schwer zu sagen, ob es Linke oder Rechte sind. Traue den langen Haaren nicht. Schon seltsam, dass die Extreme sich in der Art des Auftretens so sehr ähneln. Beschmierte Wände. Baustellen. Jemand hat Fotze geschrieben. Ein Fest in der Fußgängerzone, das Alte Bürger-Fest. Vor einer Bühne spricht eine Frau Test Test Test und ein Typ sagt Eins Zwei Eins Zwei. Minutenlang. Die Menge starrt. Bierflaschen in den Händen.

Der Aktivladen hat tatsächlich noch auf. Großgeschrieben über der Tür steht 24 Stunden geöffnet. Puuh. Die Kassiererin bestätigt: Wir machen Montagfrüh auf und nachher um Zwölf wieder zu. Ein kleiner Indonesier will eine Dose Bier mit einer Dollarnote bezahlen, scheitert, nehmen wir nicht. Später treffe ich ihn wieder, frage, ob er noch einkaufen konnte, lethargisch lässt er eine weiße Plastiktüte baumeln. Matrosen schlagen Zeit tot. Ein krachender Kleinwagen voller Polen. Räder tief in den Radkasten.

Warum erinnert mich Bremerhaven an London? Die futuristische Architektur im Süden der Stadt alleine ist es nicht. Es ist dieser Zwiespalt aus Verkommenheit und hochgezüchteter Sterilität. Ein Blick ins GPS zeigt, dass der Nordseeradweg hier über die Weser nach Nordenham führt. Fähre. Mist. Am Anleger finde ich tatsächlich noch ein Schiff exakt 21 Uhr. Zwei Typen gehen unter der halb offenen Schranke durch. Zwei verspätete Fahrgäste. Schnell hinterher. Stellt sich raus, dass sie nur den Käptn abholen. Unfreundlich sind sie obendrein, ob ich nicht gesehen hätte, dass die Schranke zu ist. Halboffen provoziere ich. Versaue ihnen womöglich den Abend. Nur um mich zu quälen, lassen sie nun die Schranke ganz runter. Gefangen auf dem 20 Meter langen Landungssteg. Entweder muss ich alles Gepäck abnehmen und einzeln über die Schranke wuchten, was den Bademeistern, den Hausmeisterbübchen mit dem kleingeistigen Paragrafenreiterherzen nur zu gut gefallen würde, oder …  Das Radel passt liegend gerade so unter der Schranke durch. Puuh. Ich verkneife mir weitere verbale Scharmützel. Blödes Weserdamfschifffahrtskapitänsmützenfeierabendsgewichse.

Die Nacht verbringe ich südlich der Stadt am Weserdeich. Schlafe, abgesehen von einmal aufwachen wegen Gewitter, wie ein Toter bis 8:30 am nächsten Tag.

(sanft redigiert und gepostet von Sofasophia)