Fräulein Irgendlinks Gespür für Regen

Nur noch 8 Meilen bis zur Humber Bridge, sagt ein Radwegschild des N1. Die blauen Hinweisschilder des Radwegnetzes sind mir treue Begleiter geworden und das kleine, rote Rechteck mit der weißen Eins drin, zeigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Über Burnham geht’s nach Barton upon Humber, dem südlichen Brückenkopf. Dort hätte ich sogar einen Campingplatz vorgefunden, steht auf einem braunen Hinweisschild. Einer mit Scenic View, mit Aussicht. Wenn ich gestern nicht 12 km durch die Gegend gegurkt wäre, um ein Potemkin’sches B&B zu finden, wäre ich genau bis zu dem Camp gekommen. Wenn, wenn, wenn. Wenn nur nicht immer diese Alternativ-Routen, -Leben, -Ereignisse, – Eventualitäten im Kopf entstehen würden. Die Differenz zwischen Ist und Könnte, erzeugt nur unnötig Spannung. Der Lagerplatz in „meinem“ Park bei Wootton war klasse. Schöne, weiche, ruhige Wiese. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Kühlgetränken hat auch gestimmt, da direkt gegenüber einem Potemkin’schen Bed and Breakfast ein Supermarkt war, in dem ich gegen 20 Uhr noch einkaufen konnte.

Eine Europenner-Regel lautet: sei ab vier Uhr nachmittags immer gerüstet für den Fall, dass du wildzelten musst. Das heißt: mindestens zwei Liter Wasser am Rad, Abendessenlebensmittel, gerne ein Fläschchen Bier, genug Spiritus und genug Saft im iPhoneakku. Und da ich schon mit Europenner-Gesetzen anfange: eine zweite wichtige Regel lautet: halte alle Packtaschen geschlossen, ziehe immer den Zeltreißverschluss zu, auch wenn du noch so kurz das Zelt verlässt. In Lee Valley, nördlich von London, hat mir nachts doch tatsächlich ein Tier einen Sack mit Lebensmitteln aus dem offenen Zelt geklaut. Ich war nur knapp zehn Minuten im Waschhaus, um zu duschen. Als ich zurück komme, liegen Käse und eine Birne und Kleinzeugs auf der Wiese. Der Leinensack ist weg. Die Butter auch. Nimm das iPhone und das Geld immer mit unter die Dusche. Und so weiter.

Wo war ich stehen geblieben? Ahja, Humber Bridge. Paar Bilder habe ich ja schon im Artikel zuvor gepostet. Das Ding ist knapp 3 Kilometer lang. Zwei haushohe Pylone tragen die Stahlseile, an denen die Fahrbahn aufgehängt ist. Vor der Auffahrt zum Radweg sind Gatter angebracht, die geschlossen werden, wenn der Wind zu stark wird, um gefahrlos darüber zu rollen. Ich habe Glück, fahre trocken und bei mäßigem Wind, vielleicht Stärke vier, der von Osten bläst, über die Hängekonstruktion. In der Mitte kommt eine Herde Rennradler entgegen. Roter Pfeil Kingston upon Hull. Freundlich Hallo.

Auf der Nordseite verliere ich den Radweg N1, weil die Beschilderung direkt am Brückenkopf „confusing“ ist. Zwei wohlmeinende Hundegassigänger, die mich auf die Straße nach Hessle schicken, tun ihr übriges, und im iPhone, stelle ich fest, endet die Serie geladener Teilstücke des N1. In einem Pub gelingt es mir zwar, den Akku aufzuladen, aber ich kann die verflixte E-Mail, die ich mit dem Packen England GPX Dateien an mich selbst gesendet habe (am 27. März, das weiß ich noch) partout nicht finden. Download auf der England Radwegnetz Seite scheitert auch. Nach einem Hilferuf-Blog radele ich im einsetzenden Regen weiter. Himmerlsrichtung und Karte werden mich schon weiter bringen. Vielleicht treffe ich unterwegs ja auf den N1? Es schüttet wie aus Kübeln. Der Wind trifft mich von rechts. Gute Orientierung. Wenn er nicht dreht, kann ich ihn als Ersatzsonne benutzen. Nur selten schaue ich in die Karte oder auf das tracklose iPhone-Display. Auch die Streckenfotos, immerhin drei Stück, fallen sehr dürftig aus. Das Sauwetter ist der Kunst kontraproduktiv. Es gibt, außer den Packtaschen, genau zwei absolut trockene Orte „am Mann“: die beiden Brusttaschen meiner 100 Prozent dichten, einfamilienhausteuren gelben Überlebensregenjacke. Sie sind sowohl nach Innen gegen den Schweiß dicht, als auch nach Außen. Dort ist das iPhone absolut sicher. Ich könnte auf diese Weise sogar schwimmen gehen, und es würde kein Wasser eindringen.

Über Cottingham mogele ich mich durch die verstädterte Zone um Hull bis nach Wawne, einem friedlichen Kaff am Rande des tobenden Tellers von Stadtgewirre. Gutes Händchen für verkehrsarme Straßen. Zudem ist das Radwegnetz an den Hauptstraßen in der Gegend gut ausgebaut. Grün gepinselte, knapp meterbreite Spuren durchziehen die Agglomeration. In Wawnes Dorfladen krame ich Karte und iPhone hervor und der Besitzer erklärt mir die Route bis Hornsea. Per Mail kommen von Emil, Lime und Speedy gleich drei Routen. Hey, danke.

Ich bin mittlerweile zu weit östlich und habe bei dem Sauwetter keine Lust, zurückzuackern. Einmal mehr kommt mir diese Reise wie eine Analogie zum großen weiten Leben, zum Lebensweg vor: hast du einmal einen Weg eingeschlagen und meinetwegen ein Jurastudium begonnen, wird es mit jedem Semester schwerer, zum Beispiel fernöstliche Heilkunde zu studieren. Okay. Der Vergleich hinkt. Man kann im richtigen Leben beides tun. Aber hier draußen, kaum 3 Meilen von einem Dorf namens Meaux entfernt, der Wind, das ekelerregende Wetter? Da gibst du keinen Meter preis, den du mühsam nach Norden geschuftet hast, nur um einen Lulliefullieradweg wieder zu finden, dessen Beschilderung du ohnehin an jeder Ecke wieder verlieren könntest.

Ich nehme mir den Rat des Ladenbesitzers in Wawne zu Herzen, auch wenn ein drei Meilen langes Stück grüne A-Straße unumgänglich nach Hornsea führt. Mist! Das Ding ist eng und höllisch befahren. Ich rette mich auf einen vielleicht drei Yards breiten Teerstreifen links der Trasse, der für Fußgänger gedacht ist. Die Pfützen auf der Straße ragen oft bis in die Mitte der Fahrbahn, so dass jedes Auto, das sie durchfährt, mich nun auch noch mit Spritzwasser besudelt.

In Leven biege ich ab in ruhigere Gefielde und checke im Pub in der Ortsmitte ein. Ein XY-Inn, das schon an der Hauptstraße ausgeschildert war und das Bed and Breakfast bietet. Der Gastraum riecht nach Sagrotan, sicher ein Warnzeichen und der Schuppen, in dem ich mein Fahrrad parke und das Zelt zum Trocknen aufhänge, könnte auch mal wieder gefegt werden. Jetzt bloß nicht Idealvorstellung Bed and Breakfast installieren und mit dem Schicksal hadern, dass Ist von Könnte meilenweit abweicht, Fräulein Irgendlink.

Hatte ich erwähnt, dass ich unterwegs DIE Idee hatte für eine VÖLLIG neue Romangeschichte, in der es um eine Verschwörung geht und einen Meteoriten, der …. ach, ich geh jetzt mal den Zapfhahn betrachten und entscheide anschließend, ob die sagrotanische Küche des Pubs mir etwas kochen darf.

End of Files

Mister Schussel-Link kann die gpx Files nicht mehr finden, die er auf der Seite nationalcyclenetwork.org.uk geladen hat. Nun endet der GPS Track in Hessle bei Hull bei Kingston.

Falls jemand Zeit hat, ich würd mich über Mail freuen mit gpx oder kmz Dateien im Anhang, die den weiteren Verlauf des N1-Radwegs grob Richtung Bridlington zeigen. Soweit ich mich erinnere, konnte man in einer Karte die blauen Linien mit den Radwegen anklicken und downloaden. Geht leider net aufm iPhone.

Nun in Hessle bei Hull, Humberbridge überquert. Wassen geniales Stück Radweg. 3 km im starken Ostwind. Aber ohne Regen, so dass ein paar Fotos möglich waren.

Nachtrag: irgendlink@t-online.de
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Tag 29 – die Strecke

Ja, zugegeben, dass ich morgens um halb zwölft bereits die Tagesstrecke poste, ist nicht üblich. Auch nicht wirklich europenneresk. Doch zwei Gründe sprechen dafür: Das heutige Ziel ist (theoretisch) jetzt schon bekannt, denn Irgendlink will heute im von Engelbert recherchierten B&B namens Brentwood House in Bridlington absteigen. Sind 40 Meilen vom wilden Nachtcamp, das er heute recht früh verlassen hat.

Vierzig Meilen. Drum die Klammer. Drum der Vorbehalt „theoretisch“. Vierzig Meilen – mal einskommasechs gibt die entsprechenden Kilometer – sind manchmal ein Klacks für Irgendlink, manchmal eben nicht. Wer weiß, wie die heutige Strecke verläuft? Wie sich das Wetter entwickelt. Die Straße, der Verkehr, all die Hildas unterwegs. Wer weiß, was heute Abend ist … Der anschließende Kartenlink ist also nur ein vorläufiger. Ich poste ihn trotzdem, behalte mir aber natürlich nachträgliche Korrekturen vor.

Der zweite Grund ist mein zwei- bis dreitägiger Ausflug nach Bern und Umgebung. Ich werde, habe ich soeben beschlossen, den Laptop doch nicht mitnehmen. Nur das iPhone, doch damit kann ich nicht wirklich tolle Kartenlinks machen, resp. nur aus zwei Punkten bestehende. Dann lass ich es besser.

Gute Reise uns allen – im Alltag und auf der Straße!

>>> Wootton – Leven: zum Kartenausschnitt der Tagesstrecke: bitte hier klicken! (Das ist der nachträglich korrigierte Link, da die Strecke anders, als in diesem Artikel angedacht, verlaufen ist.)

Regenliebeanalogie

Es fällt mir immer schwerer, mich zu erinnern, selbst an wenige Meilen zurück liegendes. Ein Phänomen, das sich nach mehreren Wochen unterwegs oft einstellt. Abenteuer legt sich auf Abenteuer und das Unterwegssein wird auf eine Weise zur Gewohnheit, dass man es getrost Alltag nennen kann. Auch wenn nie ein Tag dem anderen gleicht, schleichen sich Muster und Regelmäßigkeiten ein. Frühstück und Abendessen geraten zur Konstante. Morgens gibt es grundsätzlich Toast, den ich in der Pfanne auf dem Spirituskocher zubereite. Butter, gelbe Marmelade. Seit einigen Tagen habe ich die bittere Orange durch Aprikose ersetzt. Der Kocher dient auch als Zeltheizung. Ich erreiche damit zwar keine Schwitzhüttentemperaturen, aber mollig warm kann ich das Zelt innerhalb von einer Minute heizen. Ein Segen. Grundsätzlich beschlagen früh morgens Brille und iPhone, so dass ich die beiden erst einmal an den Tag aklimatisieren muss.

Vom gestrigen Wildzeltplatz an einem langsam fließenden Kanal folge ich weiter dem Nationalen Radweg Nummer 1, dessen Verlauf in Einzelstücken auf der Seite nationalcyclenetwork.org.uk zu finden ist. Von dort habe ich meine Tracks geladen, die ich zu Hilfe nehme, wenn ich die Schilder mal wieder verpasst habe und mich vor einer Hauptstraße wiederfinde. Die Strecke ist gut beschildert, so dass man theoretisch ohne Karte und Tracks radeln könnte, aber trotzdem verliere ich den Faden des öfteren.

Einmal parkt beispielsweise ein LKW direkt vor dem Abbiegeschild, so dass ich geradeaus fahre. Oder vorgestern verliere ich die Strecke, weil ich an der Abzweigung von Radweg 11 dem 11er folge, anstatt auf der 1 zu bleiben (ich berichtete). In Städten merkt man schnell, dass man falsch ist, weil eben plötzlich keine Hinweise mehr zu finden sind.

Gestern ist der Regen schuld, dass ich unaufmerksam etwa 6 km Umweg radele. Ich sehe es gelassen. Auch das Wetter. Es ist, wie es ist. Da hilft kein Hadern. Zudem ist der Regen glücklicherweise lang anhaltend (!). Das erspart das ständige An und Aus der Neoprengamaschen und der Regenhose. Auch für die gefühlt mindestens vier Zweibrücker Kreuzberge, die ich im Hügelland überquere, bin ich dankbar. Berghoch fahren ist das beste Mittel gegen die Kälte. Kurz hinter Market Rasen zwingt mich der Walesby Hill in den ersten Gang. Querab vom Flugplatz Bimbrook führt der Radweg über einen Feldweg gut vier Kilometer weit. Ein Stück, an dem man prima wild zelten könnte. Stainton le Val, kurz zuvor, wäre die letzte Einkaufsmöglichkeit von Süden kommend (nur für den Fall).

Gegen Abend Sonne. Mister Kunstbübchen hat sich den Floh ins Ohr gesetzt, ein Bed and Breakfast zu finden, quert somit vom N1 ab Richtung Wootton, wo das Fragespiel in Pubs beginnt: Bieten Sie B&B, nein, wo bitteschön ist der nächste, da und da, so hangele ich mich etwa 12 Kilometer weit von voll belegtem B&B zu voll belegtem B&B, um schließlich – endlich – meiner Seele treu zu bleiben. In einem parkähnlichen Areal, halb so groß wie ein Fußballplatz, von Parkbänken umsäumt, Bäumen und Hecken, Vögelchen, Pi, Pa und Po, baue ich mein Zelt auf. Das Schild, das vor dem Eingang stand, wurde abgerissen. Vermutlich eine Hinweistafel, da sie stehpultartig montiert ist. Ich bin nicht sicher, ob es sich nicht doch um Privatbesitz handelt, aber bisher bleibe ich unbehelligt.

Das mit der Liebe wolltste doch noch …? Ach ja. Wie ich so über den Regen nachdenke – die Europenner kennen tausend verschiedene Worte für Regen – kommt mir der Vergleich zur unerfüllten Liebe in den Sinn. Dieses Regenschauerwetter mit Klamotten an, Klamotten aus, fühlt sich ungefähr so an, wie wenn man jemanden liebt, der sich nicht so richtig für einen entscheiden kann. Dieses ewige, nervenzermürbende Hin und Her, manche Menschen ertragen das ein Leben lang.

Wegen Akkuknappheit jage ich diesen Beitrag nun ungefiltert an die Homebase.

(„sanft gefiltert“, mit Link bestückt und gepostet von Sofasophia, die froh ist, dass wir beide nicht ständig die Regenklamotten an- und ausziehen müssen)

Tag 28 – die Strecke

Schon wieder wild. Klein, nicht groß geschrieben. Wild zelten, meine ich. Drei volle B&B und 12 km Umweg zwingen Irgendlink heute Nacht, schon wieder wild zu zelten. Akku ist noch ein bisschen da. 70%, so schreibt er.

In der Nähe von Wootton hat er das Zelt in einem Park aufgebaut und verbringt dort nun die Nacht, bevor er morgen die Humber Bridge überradelt (geht das überhaupt, fragt sich Sofasophia).

>>> Scothem – Wootton: zum heutigen Kartenausschnitt bitte hier klicken!

Herzliches Dankeschön, lieber Engelbert, für den charmanten Bilderklau :-) Dein neues Headerbild, Jürgens letzter Zeltplatz im Panorama, macht sich super auf deinem Blog!