Pioniere der iPhone Kunst

Tiefe Falten auf der Stirn des Galeristen B. Das iDogma ist tot. Die iPhoneografie noch nicht mal so langlebig wie eine Eintagsfliege. Ich halte nichts davon, hat er gesagt, genauso wenig wie von der Lomografie. Das ist einfach nur Bildchenknipserei, ein Hype, mit dem mancheiner hofft, das schnelle Geld zu machen, so ähnlich wettert er über den langen Eichenholztisch in seinem geräumigen Diner-Galeristen-Büro. In der Küche duftet Braten, die Hunde liegen neben dem Ofen. Journalist F. und ich haben uns auf der gegenüberliegenden Seite des Konferenztischs verschanzt und halten unsere iPhones in der Hand. Du kannst es ruhig anfassen, sagt der Journalist. Er hat das neue iPhone 4S, mit Achtmegapixelkamera, voll verglast, ein Traum aus Hightech. Ich weiß, dass es mit einem Kontaktgift bestrichen ist, das jeden, der es anfasst, direkt veranlasst, sich auch so ein Telefon zu kaufen. Künstler Irgendlink anrufen, sagt Journalist F. in den Raum. Sein iPhone säuselt mit der feinen Stimme von Siri, der Sprachunterstützung, Irgendlink anrufen. F. bestätigt. Kurze Zeit später klingelt mein uraltes, unmodisches, miserables iPhone 3GS.

Das ist Magie. Der Galerist sieht seine Felle davon schwimmen und hebt zu einer neuen Hasstirade auf die iPhoneografie, das Telefon, seine Dienste, die Hersteller und die moderne Technik im allgemeinen an.

In ein paar Jahren, denke ich telepathisch beschwörend über den Tisch, wird es keine Diskussion mehr geben. Schritt für Schritt näheren wir und der 20 Megapixel-Marke, die Optik wird irgendwann aus echten Diamanten sein. Die D300, die schon heute überaltet bei mir zu Hause in der Ecke liegt, ist reif für das Museum. Die Netzleitung im Mobilfunknetz wird so schnell sein, dass 10 MB Bilder in Windeseile übertragen werden, der mobile Charakter dieser Kunstrichtunge wird alles derzeit Vorstellbare im Bereich der feinen etepetete Künste über den Haufen geworfen haben, auf Fußabtretern mit dem Antlitz der Monalisa werden wir unsere Stadtfeinen Schuhe säubern. Der Name Irgendlink wird in goldenen Lettern ganz oben auf einer Liste der Pioniere stehen …. Speichel läuft mir aus den Mundwinkeln, wie ein Hund , der Blut gerochen hat, verliere ich mich in einer phantastischen neuen Welt, in der alles schön ist und die Menschen lieb und jeder kreativ und jeder sein darf wie er will und und und … endlich gibt es lecker Braten, schönes, zartes, rosa Fleisch und Kartoffelbrei und fein gedünstetes Kraut. Mjam Mjam. Heute muss ein ganz besonderer Tag sein.

Ich muss an die Idee von vor ein paar Tagen denken: In der Zukunft wird es keine Urheber mehr geben und auch keine Namen oder wenigstens: Namen und Erfindungen und Schöpfungen und alles Urgehobene werden nicht mehr derart engstirnig verknüpft sein, alles wird sich auflösen in einer großen digitalen Wolke. Entitäten oder wie es heißt, Begriffe, Tags, werden die Herrschaft übernehmen und alles gehört allen. Man sollte nicht so darauf bedacht sein, seinen eigenen Namen irgendwo groß lesen zu wollen, stattdessen einfach seine künstlerische Arbeit tun.

Ade, schöne Tafel der Pioniere der moderenen iPhoneografie.

Der Mann, das Hirn und Hände

Den lieben langen Tag denke ich darüber nach, wie ich mir abends den Webserver vorknöpfe und ein paar administrative Tätigkeiten erledige. Wohlgemerkt: ich bin Handwerker. Hunderte von Loungemöbeln habe ich unter der Fuchtel, schöne, weiße, kunstlederne Dinger, die Palettenweise weltweit verschifft werden. Völlig perplex lese ich neulich auf einem großen Paket, das jemand in der Tackerbude abgibt, die eigene Firmenadresse: „Werk Homburg“ steht groß darauf. Wieder wird mir klar, in welch mickrigen Dimensionen ich denke. Bis zu jenem Zeitpunkt hatte ich geglaubt, ich arbeite in einer einfachen Werkstatt, aber auf dem Paket steht die nackte Wahrheit: Ich arbeite in einem Werk, und das klingt doch gleich nach Fließband und Effizienz, nach Personalbüro, Lohnabteilung, Weihnachtsgeld, Pensionskasse.

Träum weiter.

Aber das mit dem Werk, das war echt.

„Wer mit den Händen arbeitet, hat meist das Hirn frei und wer mit dem Hirn arbeitet, hat machnmal auch die Hände frei. Insbesondere der Hirnarbeiter könnte verlockt sein, mit seinen freien Patschehänden nach einer Waffe zu greifen und sich zu erschießen“, fabuliere ich irgendwann nachmittags. Ein Lächeln entwischt. Gegen 15:32 stelle ich fest, dass ich ein glücklicher Mensch bin, dem es an fast nichts fehlt, einzig ein bisschen Zeit, um das, was man tagsüber denkt und sich einbildet, abends noch tun zu können, wäre wünschenswert. Mein umtriebiges Hirn hat in den vielen Stunden, in denen die Hände Möbel bauen in dem großen weiten Werk, einen perfiden Plan geschmiedet, der mich nächstes Jahr vermutlich wieder in einen freieren Zustand versetzen wird. Angefangen hat alles so harmlos vor einigen Monaten. Durch Zufall bin ich auf eine Homepage gestoßen, die den 6000 km langen Radweg rund um die Nordsee beschreibt, den NSCR, die North Sea Cycle Route. Da ich gerne weite Radtouren mache, war ich sofort hellhörig. Die Sache geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Schon dieses Jahr habe ich geliebäugelt, einfach loszufahren. Normalen Menschen ist ein Abenteuer wie das leider nicht vergönnt. Für 6000 km Radeln braucht man etwa 90 Tage, wenn man sich nicht zu Tode quälen will. 90 Tage Urlaub stehen in keinem Arbeitsvertrag.

Im Mai streiche ich das Ding erst einmal aus meinem Hirn und verbringe etliche friedliche Arbeitnehmermonate am nahrhaften Busen der Lohnsteuerklasse 1.

(Was red ich hier für einen Schwachsinn?)

(Tse. Busen der Lohnsteuerklasse eins?)

„Aber so ist es doch!“, sagt eine besonnenere, weniger schamhafte Stimme,“Nenn die Dinge nur beim Namen. Du hängst am Tropf. Dein Wille zum Konsumgut bestimmt dein Leben.“

Wie auch immer. Wenn man das eigene Hirn zu lange alleine lässt, kommt es auf dumme Gedanken.

„Was soll’n das jetzt, wieder so ein pseudocooler Spruch, Herr Irgendlink? Du musst ja total aus der Übung sein, so rein schreiberisch, dass du solches Zeug schreibst.“

Samstag, der 5. November 2011 ist historisch. Drei vier Pakete von drei vier Bestellungen treffen gleichzeitig ein. Komponenten für das Fahrrad, mit dem ich die Nordsee umrunden werde. Ein kleines Kraftwerk muss her, denn die Reise soll ein neuer Meilenstein auf dem Livereisesektor werden.

Seit Samstag fühle ich mich als Nordseeumrunder. Samstag hat es begonnen. Schon die ersten vier Kilometer zum Kreuzberg und zurück über die herbstblasse Landstraße fühlten sich gut an. Ich wünschte mir Wind, Gegenwind. Und Regen, salzigen Seeregen wie er im Frühling nicht besser schmecken kann. Und am Abend das Gespür für den perfekten Lagerplatz oder einfach nur das bisschen Glück, das nötig ist, einen gütigen Menschen zu finden da draußen in der Welt, der bereit ist, einen aufzunehmen für eine Nacht und ein warmes Essen. Es muss nicht exquisit sein, nur sättigen und das Herz wärmen.

Ja, doch, Mann, die Schreibe wird besser. Du bist aus der Übung. Du bist untrainiert. Es ist noch da, einfach nicht tot zu kriegen. Knie dich rein, Mann, schreib weiter.

Mein siebenmilliardster Blogeintrag – Sie fragte. Aber was?

Das Hirnproblem wird beängstigender. Gestern früh einige Fäden, die ich schreiberisch bearbeiten wollte. Natürlich dieser nächtliche Blogartikel-Flow, bei dem es darum ging, die Inversionswetterlage in meinem Kamin mit einem Echte Kerle Survival Trip in Südwestrumänien in Einklang zu bringen, daraus eine Alltagsglosse zu basteln.

Manchmal habe ich druckreife Sätze im Kopf, ganze Passagen, vor allem nachts oder frühmorgens. Wenn ich sie nicht sofort aufschreibe, vergesse ich sie. Mit „Sie fragte“ sollte im Laufe des gestrigen Tages eine kleine Passage zum Thema Jakobsweg beginnen. Es war ziemlich wichtig. Aber ich habe vergessen, was sie fragte und somit ist der Text futsch.

Nun der unangenehme Zustand des Hirnzermarterns. Das macht überhaupt keinen Sinn. Ich hatte gestern nichts Besseres zu tun, als mich aufs Rad zu setzen, runter in die Stadt, Lichtfänger – bei dem Licht kann man gar nichts falsch machen, erzählte ich den Nachbarn der Nachbarn, die ich zufällig traf. Wir redeten über Halloween, das Wetter und dass es gerne noch eine Weile so bleiben könnte. Beide Kameras im Gepäck. Anfänglich fotografierte ich noch brav mit der D300. Diszipliniert über Lichtwerte nachdenkend, Tiefenschärfe und den ganzen Quatsch. Aber schon bald kam nur noch das iPhone zum Einsatz. Ich stoppte bei einer Ansammlung polnischer 40-Tonner auf dem größten Parkplatz der Stadt, fotografierte allmögliche Objekte an den Lastern, darunter und daneben. Die Vorhänge der Fahrerkabinen waren zugezogen und ich argwöhnte, dasss drinnen seit-ewigkeiten-unterwegse Fahrer ihre Pflichtpause machten. In dunklen Ecken nahm ich Schnappschüsse von Graffities mit. An der Tür eines Trafohhäuschens stand geschrieben „Du musst zuerst das richtige Lied singen“. Herrlicher Alltagsdadaismus – was ist ein Blogartikel anderes, als aus dem Zusammenhang gerissene Wortfetzen, die irgendein Hirn irgendwo auf dieser Welt ausspuckt und die den Zustand der Alltäglichkeit eines der vielen denkenden Wesen dieser Erde wiederspiegelt?

Just in diesem Moment wurde der siebenmilliardste Mensch geboren. Im Radio, erinnerte ich mich, berichtete man vor einigen Jahren über den Sechsmilliardsten, der offiziell irgendwo in Exjugoslawien geboren wurde, ein Bub. Heute lebt der arme Kerl in bitterer Armut. Eine Milliarde später trägt man Sorge, mehrere siebenmilliardste Menschen zu küren, einen in Indien, einen in Mexiko,  den USA, Norwegen usw. Soll nicht noch einmal passieren, dass ausgerechnet dieser besondere Mensch ein so schreckliches Schicksal erlebt und in Armut vegetiert. Einer von denen kann es schaffen! Derweil stelle ich mir vor, wie im zehntel Sekunden-Takt immer Menschen geboren werden, sterben, geboren werden, geboren, geboren und geboren und sterben und sterben und sterben und dass über eine gewisse Zeitspanne Diesertage die Menschenanzahl um die Siebenmilliardengrenze pendelt, mal drunter, mal drüber, und dass vielleicht tatsächlich einige Siebenmilliardenmenschen geboren werden, nicht nur einer. Während einer in einem schneeweißen Krankenhaus in Trondheim geboren wird, kommen in Somalia bei einem Gemetzel 359 Menschen um. Alles in der gleichen zehntel Sekunde. Siebenmilliarden minus 359 plus Zwillinge in Atlanta minus Hungersnot Massensterben auf einer abgelegenen Insel irgendwo plus ….

Die Statistik weiß etwas vom Kurvenglätten. Nur in der Statistik gibt es den Einen.