Vollbremsung am Rande der Woche

Tage der befindlichkeit, 42te Woche 2011.

Persönlicher Rekord: 3 Wochen Grippe mit Ach und Krach überstanden. Zum Glück war der Owner auf Lustreisen, sonst hätte er Herrn Irgendlink die Hölle heiß gemacht, schaff was, rette das Unternehmen, die Welt und den ganzen Rest. Mit halber Kraft gearbeitet, nebenbei den Umzug auf eine 4 mal größere Festplatte im PC erledigt. Fühlt sich gut an mit den großen neuen digitalen Festplatten-Kleidern und dem neuen System.

Schon donnerstags war ich wieder zu Scherzen aufgelegt, äußerte gegenüber den Kollegen A. und F., wir gründen eine Boy Group und nennen uns Tack That. Abends vor dem Supermarkt steht ein winziger Hund auf der Hutablage eines feinen Wagens. Die beiden Damen auf den vorderen Sitzen ahnen nicht, dass ich denke: ein Hund wie ein Geschoss und sich mir die Vorstellung einer Vollbremsung, wenn nicht schlimmeres aufdrängt.

Freitags fähig zu sein, länger als sechs Stunden Lohnerwerb zu betreiben verheißt nichts gutes für die nächste Woche. Das Damokles Schwert der Leistungsbürgerschaft baumelt das ganze Wochenende über mir. Am Abend unbedingt geistige Vollbremsung einlegen. Lass den Hund eins werden mit den Damen. Klartext: ich schaffe es mit Mühe und Not, zum ersten Mal seit Menschengedenken, mir überhaupt nichts vorzunehmen für das Wochenende. Keine Termine, keine Menschen, nicht einkaufen, nicht einmal dann und dann könnte man einen Spaziergang machen bei dem schönen Wetter.

Tun werden wir es ohnehim.

Die erste Kiste Holz

Gegen Mittag trage ich die erste Kiste Holz in die Künstlerbude; für den Herbst-Winter 2011-2012. Völlig außer Puste, Herzrasen, Kopfweh. Seit Mittwoch im Würgegriff der Grippe. Morgens melde ich mich beim Owner krank. Er reagiert ungehalten, was sicher dem Montag zuzuschreiben ist. Die Künstlerbude ist kein lebenswerter Ort momentan. Kühl und klamm sind die Wolldecken, das Sofa. Auf dem Boden liegen hunderte von Fliegen. Insbesondere unter den Dachfenstern, wo in den Ecken riesige Spinnennetze hängen, liegen Flügel, Insektenbeine, Körper und der hellbraune Laminat ist gesprenkelt von Spinnenexkrementen.

Im Briefkasten war eine Einladung der örtlichen Tageszeitung zum Mitarbeiteressen. Der Chefredakteur bedauert, dass ich so lange nichts geschrieben habe, lädt mich aber dennoch ein zu lecker Sauerbraten mit Knödeln und Feldsalat in einer alten Mühle hier in der Gegend, er hoffe, dass ich bald mal wieder etwas mache für das Tagblatt, ich Schläfer, ich. In der Tat liebäugele ich morgens damit, die Jakobsweg-Sache vom letzten Jahr wieder anzugehen, eine 30-teilige Kolumne daraus zu basteln und das Liveblog quasi um ein Jahr versetzt und sehr knapp – mit nur den nötigsten Fakten, ein bisschen Herz und einem Schuss Humor – für die Zeitung aufzubereiten. Hab ich ja dann noch Zeit bis Mitte November. Zuerst lass ich mir mal den Festschmaus schmecken (ersch mo guud gess, geschafft is dann schnell).

Als endlich das erste Feuer für die Herbst-Winter-Saison 11-12 im Künstlerofen lodert, schalte ich den Rechner ein und fliehe in die digitale Welt. Nichts Konkretes im Sinn. Das mit der Jakobsweg Kolumne für die Zeitung stelle ich erst mal hinten an. Ich bin nicht in Schreiblaune. Ich erinnere mich, dass ich mit der Digitalisierung des Fotoarchivs vor etwa einem Jahr aufgehört habe und schaue nun im Dateisystem, wo ungefähr ich stehen geblieben bin und was noch alles zu tun ist. Zwischendurch ist noch eine Kiste Familien-DIAs hinzu gekommen. Die Festplatte sagt, dass ich schon etwa 10.000 eigene Fotos gescannt habe. Beim Sichten wird mir plötzlich klar, dass ich als Blinder durchs Leben stolpere, dass ich in den jeweiligen Gegenwarten, die ich durchlebt habe, 1995 und 1996 und 1998 und 2000 usw., eigentlich immer eine falsche Sicht auf mein eigenes Schaffen gelegt habe. Die Bilder, die ich für gut hielt in den Gegenwarten damals, waren mittelmäßig, und die Bilder, die ich nicht beachtet habe, weil mir der Sinn dafür fehlte, waren Spitzenklasse. Ich schrecke hoch in dieser Gegenwart, 10. Oktober 2011, 23:48 Uhr und weiß, dass das Problem noch immer besteht. Die Bilder, die ich jetzt auslese und für bemerkenswert halte, sind es gar nicht. In einer Gegenwart ein paar Jahre weiter, werde ich das erkennen.

Ich erkenne, dass ich das, was mir am meisten Angst macht in der Fotografie, Menschen zu portraitieren, manchmal sehr gut kann.

Kurz vor Dunkelheit schneide ich Taubnessel, Melisse, Pfefferminz und noch ein paar Kräuter, lege sie auf Siebe und trockne sie auf dem Holzofen. Ein paar Äpfel ebenso. Die Grippe haut mich noch immer aus den Socken. Ich denke übers Krankschreiben nach. Dann über die Rente, den Bettelstab und den Tod. Vor einigen Tagen hatte ich die schreckliche Vision, einsam in einer Höhle zu sterben, nachdem alle, die ich je geliebt habe auch gestorben sind – genau wie die schöne Frau in „Der Englische Patient“. Höhle, dunkel, kalt und in deinem Innern erlischt das Feuer.

Um meine Tristesse zu vertreiben, tummele ich mich im Netz, recherchiere Paul Kalkbrenner, der teils gute Musik macht; und wo zur Hölle gibt es denn heutzutage noch Polaroid-Filme zu kaufen? QQlka, der zu den zu Verlierenden gehören wird in meiner Todesphantasie, hat mir nämlich eine Polaroid-Kamera geschenkt. Ne, zwei. Eins-A, kannste benutzen, hat er gesagt. Aber hallo. Damit könnte man glatt ein Kunstprojekt machen wie damals mit dem Col-Art Erfinder und Freund Marc Kuhn. Wir lassen uns zu dritt durch die Stadt treiben und stoppen an Orten, an denen es uns gefällt. Dort macht eineR ein Foto, der/die Nächste zeichnet, der/die Dritte schreibt etwas zu der fotografierten Szene. Und das meine Lieben, das ist Leben. Das regt mich an. So sieht die Zukunft aus. Kreativ spielerisch, stets den Bettelstab im Visier, Kimme und Korn des Kunstbübchens. Zielen, abdrücken, das Bild an die Brust drücken, warten bis etwas sichtbar ist.

So vergeht der Tag. Bis auf Ohrbrummen und Schnupfen und ein bisschen Temperatur hat sich die Grippe zurück gezogen. Ich schaffe es nicht, um Mitternacht schlafen zu gehen, weil mir ständig im Kopf gaukelt, ich könnte irgendwas schreiben, das beginnt mit „Gegen Mittag trage ich die erste Kiste Holz irgendwo hin.“