Nightmare on Elmstein

Einzelzimmer mit Fliege. Das Vieh ist winzig. So winzig, dass ich es selbst mit Brille nicht sehen kann. Hören kann ich es auch mit verstopften Ohren. Ich versuche, es ins hell erleuchtete Badezimmer zu locken. Dann schließe ich die Tür. 1 Uhr nachts. Vor ein paar Stunden denke ich noch, wenn du jetzt nichts schreibst, wirst du es nachts garantiert nicht mehr tun; falle in unruhigen Schlaf. Die SoSo ist auf der Autobahn unterwegs. Es macht mich grundsätzlich nervös, wenn geliebte Menschen durch die Nacht rasen.
Schon der Morgen war seltsam. Kurz nachdem ich das Herz Jesu Kloster in Neustadt verlassen hatte, nehme ich im Augenwinkel eine dunkle Gestalt wahr, ein Mann ohne Gesicht mit Kaputzenumhang, flatternd im Wind. Der Tod mit seiner Sense, wie man ihn aus zahllosen Filmszenen kennt. Ich reibe mir die Augen. Da ist nichts. Schritt um Schritt durch Vorstadtstraßen wird mir meine Sterblichkeit wieder bewusst. Dass es bald vorbei sein kann, das beinahe Tod Trauma vor anderthalb Jahren kommt wieder hoch. Mir ist die faszinierende Kraft klar, die frei wird, wenn einem die eigene Sterblichkeit vorgeführt wird. Man lebt direkter, fasst sich knapper, lässt dem Alltag nicht so viele Schnörkel durchgehen. Irgendwie ist das Leben intensiver, seit ich tot war.
Ein Mülllasterfahrer reißt mich aus meinen melancholischen Phantasien. Die Scheibe runter gekurbelt, jault das nicht enden wollende Gitarrensolo aus Queens „We will rock you“. Unglaublich, diese Intensität. Wir winken einander. Von Mülltonne zu Mülltonne wird der Rockklassiker leiser, untermalt vom stoischen Summen der hydraulischen Müllpresse. Ein Phänomen der Wanderung ist, dass sämtliche Melodien der lullifullie Liedchen, die mir sonst immer im Kopf herum gehen und die ich im Arbeitnehmer-Weichklopfen und auf-den-Konsum-einstimmen Radio täglich höre, dass diese Melodien restlos aus meinem Hirn getilgt sind. Ganz wie beim Camino, letzten Winter. Die reinigende Kraft der Pilgerreise reicht leider nicht, um die Alltagssorgen wegzuradieren. Ich bin zu nahe an zu Hause. Unterwegs verkaufe ich ein Bild, der Owner mailt, und am Samstag habe ich einen Ausstellungsbewachungstermin für den Kunstclub, den ich nicht verschieben konnte.
Es ist ein Spießrutenlauf mit diesen Löchern im Alltag – das ist mir klar, die paar Tage wandern sind nur der winzigen Lücke zwischen zwei Terminen zu verdanken, die sich am Montag aufgetan hat. Aber eigentlich fühlt sich die Reise jetzt schon so an, als würde sie erst in Santiago enden.
Ich verirre mich in dem Waldgebiet zwischen Kalmit und Totenkopf. Es gibt keine Wegmarkierungen mehr, keine Hinweisschilder, keine Menschen. Einsame Kettensäge querab. Dort laufe ich hin. Ein polnischer Holzfäller kramt seine Karte aus dem Holzrückfahrzeug. Das hilft. Ich bin verdammt falsch, überquere einen 519 m hohen Berg und denke über das Phänomen Weg nach und über dessen Partnerphänomen Ziel. Eigentlich kann es mir ja egal sein, wo ich laufe. Hauptsache es ist eine schöne Strecke. Wenn es einen Tunnel unter diesem 519 m hohen Monster gäbe, der mich direkt ans Tagesziel führt, würde ich die Abkürzung nehmen wollen? Kalt, feucht, dunkel, schnell gegen anstrengend, grün, vogelzwitscher tauschen? Wie sähe mein Abend dann aus? Und wie ist das mit dem Lebensweg? Kann man ja prima übertragen, das Bild. Als ich den 519 m Gipfel erreiche, nähert sich ein Gewitter. Mir wird klar, dass auch das Ziel nicht das Ziel sein muss. Ich kann es ändern. Ich kann einfach sagen, mein Tagesziel ist die kleine Hütte dort vorne, dort kann ich das Unwetter abwarten. Gedanklicher Kurzausflug zum Südpol, den ich als Synonym für Ziel deklariere und einen bitterbösen Spruch formuliere, dass nämlich der Südpol nur eine freche Erfindung der Ziel-Industrie ist. Alles von Menschen gemachte, das in einer bestimmten Zeitspanne erreicht werden kann, ist von der Zielmafia gemacht worden. Es dient dazu, den Menschenstrom zu kanalisieren, die Menschenwillen zu lenken. Auch der Jakobsweg und insbesondere Santiago sind von der Ziellobby entworfen worden.
Auf ZickZack Wegen komme ich zurück auf den Jakobsweg ins Elmsteiner Tal, erreiche kurz vor dem Regen ein Forsthaus, in dem ich etwas essen könnte. Leider nur noch 7 € in der Tasche. Erst in Elmstein ist die nächste Bank. Geld kaufen. Dann dem grünen N folgen zum Naturfreundehaus in Harzofen, wo ich mich für 21 € einquartiere.

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Pfälzer Jakobsweg Nordroute – Elmsteiner Tal

Aus dem WIFI des Naturfreundehauses ein paar Bildchen. Da es eigentlich nur Wald gibt in der Gegend, Wald, Wald, Wald, schreib’s groß, WALD, habe ich die wenigen Nicht-Wald-Motive mit den Apps Decim8 und Tiny Planets zerlegt und die einzelnen Bildpunkte neu organisiert.

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Herz Jesu oder Jugendherberge?

Nicht das Vielwissen sättigt die Seele, sondern das Auskosten des Geschehens. Zimmer 7 im ersten Stock. Ein Einzelzimmer etwa 8 qm groß, blitzesauber, frisch bezogenes Bett, rettungswegplan an der Tür, Schrank, Waschbecken, Stille und ein Neues Testament auf dem Tisch. Kurz: die beste Pilgerherberge der Welt.
Punkt fünf vor 12 war mein Zug in Speyer. Dummerweise noch 1,5 km bis zum Kaiserdom. Das verlängert meine geschätzte Wanderstrecke auf 25,5 km. Wenn man dem Pilgerführer aus dem Jahr 2005 glauben darf. Die Stadt ist hektisch, eisessende Mittagsmenschen flankiert von Bettlern, einer von ihnen zusammengesunken. Ein Stück Elend am Rand des Leckeisuniversums. Vor dem Dom steht die zappelnde lebende Statue, die ich vor einem Monat in Zweibrücken gesehen habe, ein schäbig gekleideter Junge mit schmerzhaftem Lächeln, so dass ich ihm eine Münze in den Hut werfe, obwohl er das nicht verdient, weil er ja zappelt. Er reicht mir die Hand, nickt, scheint mich zu erkennen. Woher er kommt? Ungarn. Budapest.
Raus aus der Stadt, im Hinterkopf den Tipp von einem Domaufseher, falls ich es noch bis Neustadt schaffe, könne ich im Herz Jesu Kloster fragen, wo ich unterkomme, wo ich esse. Ich folge dem Radweg 58, Schilder sagen 29 km bis Neustadt. Puuh. Von Speyer nach Neustadt folgt die 58 mehr oder weniger dem Speyerbach. Bass erstaunt: von Dudenhofen bis kurz vor Neustadt laufe ich nur im Wald. In der Tat ist Dudenhofen die letzte Einkaufsmöglichkeit für den 30 km Marsch. Man tut gut daran, in einem der drei Supermärkte vollzutanken. Eine unglaublich schöne Strecke. Die Gelben Jakobswegpfeile sucht man zwar vergebens, aber der Radweg und der gleich verlaufende rot-weiß markierte Wanderweg sind nicht zu verfehlen. Eine Radlerin mit rosa Brille aus Deidesheim begegnet mir zwei Mal, zeigt sich bei der zweiten Begegnung erstaunt, wie schnell ich laufe. Es gibt sonst nix zu tun hier, sage ich, nur Wald. Stirnrunzeln. Im Hintergrund geht ein abartiges Menschenkreischen, gefolgt von einem Donnern durch die Baumwipfel. Die Monsterachterbahn des örtlichen Vergnügungsparks. Intervalljubelschauer. Eine Blase Menschenglück hinter der Fassade unberührter Natur. Die Frau aus Deidesheim mit rosa Brille empfiehlt mir die Jugendherberge beim Hambacher Schloss. Würde nur 12 € kosten. Ich weiß, dass ich hier nicht so billig davon komme wie in der Meseta. Deshalb habe ich ja den schweren Schlafsack eingepackt. Gegen 8 erreiche ich Neustadt. Ein seltsamer alter Mann begleitet mich eine Weile. Wir führen ein Gespräch wie aus einem Monty Python Film über Katzen und den rechten Weg. Die Jugendherberge und das Kloster seien gleich weit weg. Der Mann war Pädagoge. Irgendwann dreht er sich um und verabschiedet sich mit verschmitztem Lächeln. Nun mein einsamer run auf Jugendherberge oder Kloster. Mal ist die Herberge ausgeschildert, mal das Kloster, mal erklärt man mir den Weg zum Kloster, weiß aber nicht, wo die Herberge ist, mal umgekehrt. In der Waldstraße macht schließlich das Herz Jesu Kloster das Rennen. Ich bin der einzige Gast in einer Villa, in der die zehn Mönche des faszinierenden Orts gerne PilgerInnen aufnehmen. Wunderbarer Park hinterm Haus, der einmal ein Steinbruch war. 20 m ragt eine Steilwand empor, auf der ein riesiges Kreuz thront. Es gibt einen Heilpraktiker-Mönch hier, sehr netter Mann, mit dem ich ein Schwätzchen halte über die Wege des Herrn oder des Schicksals oder des Zufalls. Alle sind ihm recht, mir auch. Ich weiß, dass ich jetzt hier sein soll. Aufgehoben, müde, satt.

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Link is on the Road Again

10:28, Homburg Hauptbahnhof. Soeben hat die geliebte SoSo mich „abgeliefert“. Keine Minute zu früh. Per Kreditkarte kaufe ich ein Ticket nach Speyer, Domstadt, beliebter Startpunkt für JakobspilgerInnen. Von dort führen 2 Pfälzer Jakobswege nach Hornbach, die Nordroute ist etwa 130 km lang, führt direkt am einsamen Gehöft vorbei. Sie soll mein Heim sein für die nächsten 5 Tage.
Der Rucksack, wie üblich, wohl zu schwer. Schätzungsweise 7 kg. Ich im T-Shirt und kurzen Hosen.
Vorsorglich habe ich einen Schlafsack eingepackt. Die Preise auf der Unterkunftsliste, die ich gestern notdürftig im Netz zusammen gestoppelt habe, liest sich wie das Tagebuch der Rockefellers. Soeben passiere ich Hauptstuhl.
Info gibts hier: Jakobsweg Pfalz

Immer Mehr Gesellschaft

In der Morgendämmerung plötzlich hellwach, was sonst nicht meine Art ist. Vogelkonzert. Ein Wort im Kopf: Ich lebe in einer Immer-Mehr-Gesellschaft. Und noch so einige Gedankenfetzen. Einer zeigt mich auf dem uralten Deutz-Traktor, wie ich letzte Woche die Felder der Saarpfalz durchquere, eine Tonne Wasser auf dem Anhänger, die ich bei einem Freund der Familie geholt habe, der eine eigene Quelle hat. Es ist so trocken diesen Frühling, dass der hauseigene Brunnen des einsamen Gehöfts nicht genug her gibt, um den Garten zu gießen. Ich mit hochgeklappter Scheibe am giftgrünen Traktor. Wehendes Haar. So würde mein Leben schmecken, wenn es keine Unterbrechungen gegeben hätte: bauernd auf einem Dieselmaschinchen, dafür sorgend, dass Pflanzen wachsen und dass Tiere dick werden.

Diesen Frühling verbringe ich im Garten und in der digitalen Welt. Oft denke ich an die vielen Reisen vom letzten Jahr. Wo warst du genau vor einem Jahr? Es macht mich unruhig, zu wissen, dass ich vor einem Jahr schon über einen Monat reisend verbracht habe und dieses Jahr noch fast keinen Tag da draußen auf den Straßen Europas war. Ich lebe in einer Immer-Mehr-Gesellschaft. Es gehört zur Tagesordnung, Indizes zu errechnen, Vergleichskurven zu ziehen, Leistungsdiagramme zu zeichnen. Wenn die Kurven nicht stetig steigen, stimmt etwas nicht mit der Wirtschaft, mit der Gesellschaft. Unglücklicherweise habe ich Ende des letzten Reise-Boom-Jahres dieses Blog hochgradig mit dem Reiseleben verschmolzen, dass es mir nun, da ich zu Hause bin kaum noch wert scheint, weitere Artikel zu schreiben. Vielleicht endet es so? Der Bogen überspannt, das nicht Übertreffbare getan. Nun folgt entweder ein langsamer Abstieg im Nebel, oder ein Sturz in die Tiefe?

Pure Spekulation. Ich bin noch schlaftrunken, laufe rüber zu diesem PC. Ich muss das jetzt aufschreiben. Die Luft riecht gut. Dunkle Wolken hängen im Westen. Eine wunderbare Morgenstimmung. Der Hahn kräht. Ein Flugzeug im Landeanflug auf Zweibrücken-International. In der hohlen Wand der Künstlerbude knabbert eine Maus. Um mich zu überzeugen, was ich letztes Jahr hatte, was ich nun nicht mehr habe, forsche ich im Archiv des Blogs finde im Mai einen Eintrag vom 14. in Borreda, Spanien. Geadacht und geschrieben habe ich ihn am Beginn einer kleinen Pyrenäenstraße. Ein Bild zeigt das Kilometerschild mit der Nummer Null.

Ganz symbolträchtig: am Ende ist immer ein neuer Anfang.

Auch eine Weise wie die Welt funktioniert. Die Welt des brummelnden Bauern in mir. Ein ewiges Rund, ein niemals-Gleich, ein Mal-mehr-Mal-weniger in stetiger Lebensspirale. Mal ist es trocken und heiß und die Ernte nicht gut, mal kühl und feucht. Im einen Jahr wachsen die Kirschen gut, im anderen sind es die Nüsse.

Dennoch sind die Gefahren der Immer-Mehr-Gesellschaft nicht zu unterschätzen. Sie verleiten einen zu seltsamen Anstrengungen, sie bringen einen dazu, sich im alltäglichen und kleingeistigen Konkurrenzkampf aufzureiben (anstatt gelassen auf dem Traktor zu hocken, wehenden Haares wie auf einer Zeitmaschine die Jahre zu durchqueren ;-)). Die iPhone-Fotografie, die ich seit März intensiv betreibe, führt es mir vor Augen. Die Bilderflut ist inflationär. Die Künstlerinnen und Künstler weltweit sind hochgradig aktiv. Dennoch führt es zu nichts Besonderem. Das Immer Mehr führt zu einer Art Verblendung, die sich wie ein Vorhang vor die Qualität schiebt. Gestützt wird das Immer Mehr durch die informatischen und technischen Möglichkeiten. Erschreckt durchblättere ich Flickr und Co. und frage mich, was wird bleiben? Welches Bild, welche Aktion, welche Kunst ist überhaupt tauglich für die Zukunft (und wie weit weg darf diese Zukunft sein?). Ich darf mir nichts vormachen. Es ist wie Sofasophia schreibt: im Flügelschlag eines Insekts bist du schon vergessen. Das muss nicht schlimm sein.

Nur weil du nur die Immer-Mehr-Gesellschaft kennst, denke ich beim Aufwachen, muss das nicht heißen, dass es nichts anderes gibt.

Zehn Jahre Online-Schreiberei heute.