Hund du, auf der Sonnenseite des Lebens

„Weissd du?“ wird eine Stimme immer lauter von so einem komischen Kerl direkt neben meinem Fahrrad: „Weissd du wass ischsch alles gedrunke hab gessterrn? Woadga unn Tschinn habb isch halbe Flasche gedrunke unn weiiss du hab isch jetz ga keinn Kopp. Bin isch jetzz topfit und aaach vergess doch die Pillen die machn disch doch nur dumm. Iscch wa übahaup net aggressiv. Kein Schlägerei gestern Abend. Ali wa brav wie Lamm.“

Der vertrauenserweckende junge Mann neben dem Fahrradplatz telefoniert ungerührt weiter, als ich mich 20 cm neben ihm bücke, um das Schloss an meinem Rad zu öffnen. Ich spüre seinen Atem im Nacken. Gänsehaut. Hoffe, dass er meine Angst nicht schmeckt. Wie ein blindes Raubtier, das sein Opfer riecht, schnaubt er ins Handy. Erst als die SoSo aus dem Haus kommt, macht er einen Schritt zur Seite, damit wir die Räder nehmen können für einen Ausflug an diesem sonnigen Tag. Plötzlich sagt er seinem Gegenüber: „Dooch errlisch, guck, der Mann kann bezeugen.“ und hält mir das Handy ans Ohr. Perplexe Frauenstimme am anderen Ende. Um mein Leben zu retten sage ich: „Ali hat recht. Es geht ihm gut.“ „Dein Bruder Ali! Sagsdu dein Bruder Ali, Deutscheman,“ korrigiert mich Ali. „Dein Bruder Ali ist der einzige, der noch gehen kann“, übertreibe ich nassforsch. Zufrieden nimmt Bruder Ali seine Rede wieder auf, „hassdu gehört was Deutscheman hat gesagt? Isch bin topfit …“ Die SoSo und ich schieben die Räder zur Straße. Er folgt uns, „Eh Deutscheman weissdu, hab ich schlanke Schwester, gugg misch an, schlank wie ich.“ „Cool“ sage ich, um mein Leben zu retten und die lebensmüde SoSo gibt ihm zu verstehen, dass sie meine Frau ist und ich gar keine schlanke neue Freundin brauche.

An der ersten Ampel stoppen wir fassungslos. Eigentlich könnten wir jetzt umkehren. Für unsere nächsten Blogartikel haben wir genug. Aber es soll noch bizarrer kommen. Ecke Erlach-Haller-Länggassstraße: eine Videokamera ist aufgebaut und einige Typen in Forstklamotten treiben sich herum. Jeder hat einen Tannenbaum auf der Schulter und wie Lemminge überqueren sie zwei Zebrastreifen mit den Bäumchen, versammeln sich vor einem Cafe und am Ende singen alle im Chor ein Liedchen. Trallala. Prophylaktisch spreche ich direkt neben der Kamera, von wo wir das seltsame Treiben beobachten ins Mikrofon: „www.irgendlink.de  wir werden über Euch bloggen“ (Hey, falls Ihr das lest, liebe PerormancerInnen, lasst mal hören, um was es da überhaupt ging).

Nicht, dass die und Ali die einzigen Spinner wären, die heute die Gegend unsicher machen. SoSo und ich sind vom gleichen Schrot und Korn, auch wenn man uns nix anmerkt.

Vermute ich.

Über die Einsteinterrasse trudeln wir den Troxlerrain hinunter. Mann mit quietschender Tasche, überschwer, macht atemberaubendes Geräusch: „trrz-fert-läfft trrz-fert-läfft trrz-fert-läfft.“ Bei jedem Schritt und ein Paar verweilt an der Ballustrade und beäugt den Flohmarkt vorm Kulturzentrum Reitschule. Er sei schon einmal größer gewesen, der Flohmarkt.

So trudeln wir von Ecke zu Ecke und eigentlich hatten wir das Lorraine-Viertel angepeilt, vielleicht nochmal in der Galerie Talwegeins vorbei schauen, welche einen interessanten Ort darstellt, falls man mal eine Ausstellung in Bern machen wollte.

Landen auf der Sonnenseite der Aare in der Tiefenau unterhalb der A1-Brücke. Auf der gegenüberliegenden Flussseite haben es sich etliche Grüppchen im Flussbett gemütlich gemacht und wärmen sich die Hände an Lagerfeuern. Im schrägen Sonnenlicht steigt Rauch in stroboskopischem Flimmern. Drüben Schatten. Die SoSo kann nicht verstehen, warum sie da drüben sind, wo noch Schneereste liegen und Raureif auf den Steinen, und nicht hier. 15Grad warmes Frühlingsgefühl. Wir beobachten den Fluss beim Plätschern. Sie werden da drüben gezeugt, geboren, sie leben dort und sterben dort. Seit Generationen. Eine Brücke gibt es nicht. „Sie kennen nichts als Kälte,“ sag ich theatralisch. SoSo lacht: „Ali und die Tannenbäume, so soll mein heutiger Blogartikel heißen,“ offenbart sie, „und es kommen darin nur Spinner vor: Ali, die Tannenbäume und du.“ Mist, wassen guter Titel, den kann ich dann ja nicht auch nehmen, oder? Mit einer generösen Handbewegung gibt die SoSo zu verstehen, dass ich das sehrwohl kann. Warum nicht. Die SoSo erklärt gerade, dass sie lange auf der Schattenseite des Lebens stand und nun in der Sonne und dieses seltsame Licht-Schattenbild verfolgt mich sowieso schon so lange. Wie wir uns aus dem Aaretal hinaufackern, verbellt uns ein Köter in einem Garten mit einem hohen Zaun und es ist ungewiss, wie weit das Vieh „sein“ Terrain verlassen kann, ist es doch gänzlich abhängig von der Gunst seines Herrchens oder Frauchens. Wenn hier spanische Verhältnisse herrschen würden, könnte es sein, dass das Hundchen das Gelände nie verlässt und somit immer auf der Sonnenseite des Tals lebt, was einem ja nicht viel nutzt, wenn man unfrei ist. Egal. Weiter oben stehen die SoSo und ich uns gegenüber und diskutieren irgendwas, wie der Weg weiter geht oder auch Wichtiges und das Licht fällt schräg über SoSo auf mich, ihr Gesicht im Schatten, ich gänzlich überflutet von Sonne und ich erinnere mich an eine Szene mit der geliebten I. vor fast 20 Jahren, wie sie symbolträchtig im Schatten steht und ich im grellen Licht. Immer war ich auf der Sonnenseite. Und wenn ich es einmal nicht war, habe ich alles daran gesetzt, dahin zu kommen, ich Hund ich, denn ich hab ja die Wahl, im Gegensatz zu dem Pinscher. „Hund du, auf der Sonnenseite des Lebens, so werde ich den heutigen Blogeintrag nennen. Nene, Ali und die Tannenbäume klingt zwar genauso verrückt, aber das geht einfach nicht, dass wir beide den gleichen Titel haben.“

SoSos Rücken ist warm, nur ihre Vorderseite im Schatten. Es ist kein gemeiner Fremdschatten wie damals bei I., in dem man friert.  SoSo muss sich nur umdrehn.

Das Verflixte an der Sonne ist, dass sie einen nicht von allen Seiten bescheint.

Live-Bloggen – howto? Achwas, mach’s einfach.

(Verfasst am 5. 2. 2011 zwischen 13 und 15 Uhr als Beifahrer Richtung Zürich)

1 Auto mit Aufkleber „Biernachfüllung“ auf der Heckscheibe.
Wisch weg die Hand auf deinem linken Bein. Für die Verkehrssicherheit ist es ohnehin besser.
Im Radio melden sie stockenden Verkehr und – verdammt – der Verkehr stockt und sie spielen Lullifulliliedchen am Abzweig ins Emmental: „I know we won.“ Ich weiß wir gewannen. Doch das Emmental spielt keine Rolle, wie überhaupt der Ort, an dem du schreibst eine untergeordnete Rolle spielt. Viel wichtiger sind die Umstände. Im Jackpot sind 9600 Franken zwischen den Lullifulliliedchen. Ein Flimmern liegt über der Tastatur, als wir die Unterführung Kirchberg durchqueren. Zornige Graffities an den Brücken der A1. Sonne im Rücken, parallel saußt ein D-Zug und ich versuche zum Kern von Etwas vorzudringen. Jetzt, hier, der SoSo beifahrend.
Bloggen ist überall. Ich habe das schon lange gewusst. Auch vor der Camino-Live-Geschichte. Kilometer 27,1. Seit Jahren predige ich – mehr still in mich hinein – schreibe hier und jetzt, der Alltag sei dein Nährboden. Kilometer 32,5. Die Ablenkungen des Alltags sind gleichzeitig die Nährlösung aber auch der Blocker für deine direkte Schreibe. Es gibt kein Mittel ohne Nebenwirkung außer vielleicht Kamillentee.
RA L 1003 auf einem Kennzeichen – was für eine Normfarbe ist das? Bei der Verjüngung Deitingen rasen mächtige Männlein mit ihren mannshohen 4radautos mit 60 Sachen an uns Stehenden vorbei bis ganz nach vorne. Mit Wucht zeigen sie den ahnungslosen Schafen auf den beiden rechten Spuren, wie falsch sie handeln, wenn sie sich sich 100te Meter vor der Enge nach rechts einfädeln. Es herrscht Unsicherheit und Angst sowie ein Unverständnis der Sorglosen gegen die Sorgenvollen. Am Härtesten trifft es die Erkennenden. Handlungsunfähig müssen sie mit ansehen wie die Starken die Schwachen nieder metzeln. Bei Kilometer 41.
Im Stau ist das Dasein ewig.
Nicht der Ort ist wichtig, an dem du schreibst und auch nicht die Situation. Für gute Live-Schreibe ist vor Allem wichtig, sich auf den gelebten Moment zu konzentrieren. Letztes Wochenende lag ich ein paar Stunden wach in der heimischen Künstlerbude. Besuch aus Nürnberg säußelte im Gästebett. Ruhig atmete die SoSo neben mir. Das iPhone hing in Griffweite an der Steckdose neben dem Bett. 4 Uhr nachts. In den Fingern juckte es, einen Blogartikel zu schreiben wie in den Herbergen nachts am Jakobsweg. Ziemlich ähnliche Umstände: mehrere Leute nächtigen in einem Raum und einer ist wach und schreibt alles auf. Ich. Euer Live-Blogger. Es gibt aber keine konsistente Geschichte zu erzählen im Alltag. Der Alltag ist wie Ebene. Er hat keine Höhen und Tiefen und kein Anfang und kein Ende und keine Richtung, weder Start noch Ziel (Passage vorher Cross-WM anreißen).
Km 46. Weit haben wir es gebracht.
Warum ich in jener Nacht nicht geschrieben habe? Die Angst vor der Belanglosigkeit.
Warum ich es nun tue? Im Stau bei km 46,5. – elektronisches Verkehrswarnsystem kündigt an: Unfall voraus. Wir kriechen.
Ich blogge weil die Zeit reif ist, Gedachtes in Worte zu fassen. Weil es eben doch immer Start und Ziel gibt. In der Monotonie des Alltags nimmt man sie nur nicht wahr. Sie sind unscheinbar. Nicht der Blogrede wert.
Also blogge aus Situationen heraus.

Feinheitsgrenze

Bern. Ein Leben von den Überstunden des letzten Jahres. Ich fotografiere an meiner Serie Die Straßen von Bern. In der Tackerei gibt es nur dröges Möbelreparieren, eine Aufgabe, die mir absolut keinen Spaß macht.

Ich gebe es auf, dass das Leben ruhiger wird, die Uhr sich langsamer dreht. Der Februar hat sich am Januar vorbei geschlichen. Volle Wucht. Der Atelierausbau geht voran. Das Jakobswegbuch auch. Letzten Dienstag hatte ich die Wahl, in Speyer live-bloggend loszulaufen oder nach Bern zu fahren oder an den alten Kunst-Baustellen weiter zu machen. Was für ein wunderbares Lebenslotto. Bern scheint mir als Hauptgewinn gar nicht übel. Obschon ich unheimlich langsam voran komme mit meiner Arbeit. Von allen Straßennamenschildern der Stadt habe ich vielleicht die Hälfte in präsentabler Qualität fotografiert. Gestern ging es zu einem ersten Wieder-warm-fotografieren ins Quartier Lorraine. Boa. Was für ein wunderbarer Stadtteil. Szene pur. Nur wenig Fotoarbeit. Paar Straßen, Grüner Weg, Lorraine-Straße und untige Szene aus der merkwürdigen Polygonstraße sind ins Netz gegangen.

Im Hintergrund arbeite ich an einer Sichtung des über 2000-bildrigen Materials.

Das Jahr fürs Feine (Bezug nicht veröffentlichter Artikel) kommt hartnäckig. Es kommt mir vor, als hätte ich – ähnlich wie mein Vater mit seinem Holzspalter – lange Zeit mit einer aus dem letzten Loch pfeifenden Maschine gearbeitet und nun ist sie endlich vollends kaputt und muss repariert werden. Die grobe Maschine wie etwa der Holzspalter, mit der man schnell durchs Leben schreitet und große Aufgaben in Windeseile erledigen kann, ist ein Bild fürs Grobe. Für den Masterplan, die Architektur. Aber irgendwann kommt man an die Feinheitsgrenze, an der es im Großen nicht mehr weiter geht, weil das Material versagt. Meinetwegen ist eine winzige Schraube zu ersetzen, etwas Feines zu erledigen, ehe man mit dem Großen voran kommt. Vielleicht bin ich in der Kunst dort angelangt? Die nächste große Live-Reise würde ES überstrapazieren. Ich muss erst die Feinheiten (Jakobswegbuch, Bern-Bilder-Serie und Zweibrücken-Andorra) erledigen, ehe ich am Großen weiter komme?

Hier: Polygonstraße, Bern/Lorraine – für die Einen nur ein Foto mit Häuschen und Bahnbrücke. Für den ausführenden Künstler eine der feinen Schrauben am Uhrwerk der Konzeptkunst.

Polygonstraße Bern Lorraine