Mein täglich Antarctica

Dieses Jahr bin ich noch nicht mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Dennoch schaue ich wehmütig aus dem Fenster des 511ers und beobachte die Spuren, die die Radler im Schnee auf dem Radweg hinterlassen haben. Viele sind es nicht, aber immerhin. Dass bei der Kälte überhaupt jemand radelt, macht mich innerlich den Hut zücken.

Der steile Berg ganz am Anfang meines Arbeitswegs ist das, was mich am stärksten davon abhält, es zu wagen. Gut 100 Höhenmeter hinabsaußen bei der Kälte? Da kommt man im Tal als Eiszapfen an. Zum Radeln bei Kälte eignet sich am Besten eine mäßige 3 Prozent Steigung, so dass die Geschwindigkeit 15 km/h nicht überschreitet. Am Empfindlichsten sind Hände und Füße.

Dabei habe ich durchaus Erfahrung mit Radfahren im Winter. Anfang der 1990er Jahre habe ich mehrere Touren nach Spanien unternommen (Start meist im Dezember oder Januar). In südlichen Rhonetal waren die Witterungsbedingungen ähnlich wie derzeit hier. Eisiger Mistral bläst den Lustradelnden gen Mittelmeer. Das Geheimnis: durch das Draußenleben (ich ließ es mir nicht nehmen, wild zu zelten) war ich nach einer Woche dermaßen an die Kälte gewöhnt, dass mir der Aufenthalt in beheizten Räumen zur Sauna geriet.

Das Leben, eine Kombination verschiedener Gewohnheiten. Modulartig kannst du mit deinen Gewohnheiten spielen, sie gegeneinander tauschen und im großen Puzzle der Alltäglichkeit mal dies, mal jenes neue Element einfügen. Großartig wird es allemal, das Patchwork-Gewohnheitsbild.

Ich fahre Bus. Die nächste Bushaltestelle liegt jedoch eine halbe Stunde zu Fuß entfernt. Obendrein wandere ich wegen des stocksteif gefrorenen Bodens querfeldein, was mir insbesondere auf dem Nachhauseweg wenn es schon dunkel ist, das Gefühl gibt, mutterseelenallein durch eine Eiswüste zu laufen. Unterzuckert. Der Kopf will nicht mehr, der Körper könnte ja noch, aber im Geiste denkst du dir, „bin müde, wollen schlafen“ und faselst unsägliches Zeug in die Nacht. Garnierst das Ganze mit der Vorstellung, du kippst um, bleibst liegen, erfrierst. Das kann direkt vor der Haustür geschehen. Im fahlen Mondlicht liegt weit weg das einsame Gehöft, ein dunkler Schatten am Horizont, dahinter pulsieren die Lichter der Stadt. So sieht es aus, wenn man sich von Norden dem einsamen Gehöft nähert.

Die Schweizerin, über die neulich im Fernsehen berichtet wurde, fällt mir ein. Sie radelte von hier nach Argentinien etwa 25000 km weit, packte dort die Skier aus und lief noch knapp 1200 km bis zum Südpol. Respekt. In der Reportage gab sie mir etwas mit auf den Weg (sinngemäß): „Wenn der Kopf nicht mehr will, aber der Körper noch kann, teile die Strecke zum Ziel in kleine Einheiten“.

Dann hast du viele kleine Ziele, scheue dich nicht, zu jubeln, wenn du am Ende einer Pferdekoppel angelangst. Ergötze dich am alten Baum, nur wenige Meter hinter der nächsten Kurve. Seziere den unteilbaren Acker in winzige Teile; arbeite dich von Furche zu Furche, bis du endlich am finalen Ziel bist.

Fluchtkandidaten

Fluchtkandidaten lautet das erste Wort des Jahres. Es war notiert auf einem Zettel, der auf dem Schreibtisch des Chefs lag. Darunter standen zwei Namen. Meiner war nicht dabei.

Diesertage ist es gut, unerkannt zu bleiben.

Immer mehr kommt einem der zwölf Meter lange und zwei Meter breite Streifen hinter dem Tackercontainer vor wie Umschluss.

Frohes neues Jahr erstmal allen, bei denen ich mich nicht gemeldet habe, also bei allen.

Ich bin kommunikationsfaul, beantworte keine Mails und gehe nicht ans Festnetz. Diese Art zu leben hat Mitte Dezember eingesetzt, so dass man mich nur erreichen konnte, wenn man meine neue Handy-Nr. hatte. Kurz vor Weihnachten habe ich den Telefonstecker gezogen, weil es manchmal recht lange klingelte. Erst Tage später, als ich mich wunderte, dass das Telefon gar nicht mehr klingelt, ist mir das wieder eingefallen.

Nun, nach dem Nürnbergtrip, frage ich mich, was ich hier soll. M., so eine Art Liebe auf den ersten Blick. Ein Mann sollte gen Osten ziehen, dorthin wo die Sonne aufgeht. Er sollte sein Glück in einer fremden Stadt suchen. Aber in diesen Zeiten?

Leben ist ein Schlachtwerk, der Alltag ein Gletscher, der zwar langsam, aber mit ungeheurer Kraft sämtliche Ecken und Kanten zu Sand zermalmt. Sand geträumten Lebens – eines Sonderdaseins – jene speziellen Einblicke in das wie und warum die Welt funktioniert, Einblicke, die man nur dann hat, wenn man außergewöhnlich ist, also außerhalb des Gewohnten. Außerhalb des Gewohnten ist eine bedrohliche unheimliche Welt, düstere Masse durch die du dich frisst wie ein Holzwurm durch einen Balken, immer auf der Suche nach süßen Stellen.

Im Grunde ist es wie Kommerzradio hören in der Hoffnung auf ein gutes Lied.