Unbekannt > Bekannt

Die Sache mit den Käfigen, paar Einträge zuvor. Sicher überspitzt. Das Wort Käfig ist negativ konnotiert. Besser wäre: Raum mit eingeschränkten Bewegungsmöglichkeiten. Ich gehe vom Schreibtisch zur Kaffeemaschine, hole einen Kaffee. Es gibt nur diesen einen Weg zur Küchentür. Wenn ich wollte, könnte ich in der Küche einen Schlenker machen zum Schrank, Zucker holen. Aber ich trinke keinen gezuckerten Kaffee. Einmal bin ich in der Wohnung im Kreis gelaufen. Etwa im Mai, als der Prolaps mich quälte. Nur gehend oder liegend hatte ich kaum Schmerzen. Da es regnete, wollte ich nicht auf dem Weg vor dem einsamen Gehöft auf und ab spazieren. Also lief ich in der Wohnung im Kreis. Zuerst linksrum, dann rechtsrum. Nach einer Weile formte ich den Kreis in eine Acht, um schließlich Dreiecke, Sechsecke und Quadrate zu laufen. Ich hatte viel Zeit im Mai, verbrachte die Stunden mit lesen, liegend oder gehend mal drinnen mal draußen, in der Hoffnung, dass der Prolaps endlich weg geht.
Das kann dauern, hatte man mir von vieler Seite gesagt. Ich traf Männer meines Alters, gar jünger, die behaupteten, sie litten schon seit über einem Jahr an der Sache, sie seien im Krankenhaus gewesen, hätten gelegen, gelitten, geheult, gebetet. Man solle sich keine Hoffnung machen, stattdessen an einer Berufs- oder Arbeitsunfähigkeit werkeln. Gebeugt gingen sie dahin.
Ich wollte wieder jung sein. Jung ist ein relativer Begriff. Alt auch. Selbst mittelalt ist relativ. Im Grunde ist alles relativ. Also deklarierte ich mich jung.
Mitte Mai fing ich in der Loungemöbelwerkstatt an. Ein typisches Irgendlinkding. Es passiert immer aus heiterem Himmel. Die Liebe, das Glück und das Unglück. Das einzige Lebensgeheimnis besteht darin, im Unglück an das Glück zu glauben, im Glück nicht an das Unglück zu denken und die Liebe einfach zu leben, sowie in den lieblosen Zeiten nicht zu verzagen.
Ich laufe rüber zur Kaffeemaschine, denke an meine Käfig-Behauptung, sowohl Wohnung, als auch Arbeitsstelle seien Käfige, Orte beschränkter Bewegungsmöglichkeit. Nehme diesmal den Weg um den runden Tisch, wobei ich mich unter der Dachschräge hindurch zwänge, an Kabeln hängen bleibe, den Desktoprechner beinahe vom Tisch reiße und das Fotostativ umwerfe. Fein gemacht. Muss das sein? Ja, muss es. Denn das Experiment ist grundsätzlich ein Ausweg aus eingefahrenen Situationen. Das Experiment ist ein Scheideweg zwischen Erfolg und Misserfolg. Wer experimentiert, lässt sich auf ein Roulettespiel ein. Im Experimentieren mit Wegen habe ich unter dem Strich gute Erfahrungen gemacht. Ziel ist einerseits den besten Weg von A nach B herauszufinden, andererseits aber auch, der Langeweile vorzubeugen, die sich unweigerlich einstellt, wenn man immer wieder das Gleiche tut.
Eine weitere meiner unumstößlichen Lehren heißt: Das Unbekannte ist immer größer als das Bekannte. Das Unbekannte zu erforschen bedeutet, es zu schmälern, denn Erforschtes wird zu Bekanntem. Es macht dir dann keine Angst mehr. Es langweilt aber schnell.
Die Liebe. Die Liebe ist eine Ausnahme. Kürzlich habe ich mir überlegt, ob es Analogien im Verlauf von neuen Lieben und neuen Arbeitsstellen gibt. Gemeint ist die etwa vier bis sechs monatige Hochphase, die am Anfang aller Liebe steht, die man durchaus vergleichen kann mit dem materiellen Glück, das man zu Beginn einer neuen Arbeit erlebt. Nach sechs Monaten hat man sich im Aufgabenbereich der Arbeit eingerichtet. Dann wird es Routine. Dann wird es langweilig. Dann kann man gerne noch ein bisschen experimentieren mit den beschränkten Wegen im Käfig Arbeit.
Die Liebe ist anders. Es gibt vermutlich mehr Wege, mehr unentdecktes Terrain. Vielleicht ist das Terrain gar unendlich? Unendlichkeit macht Angst. Wohl deshalb geht der Mensch gerne immer wieder die gleichen Wege. Man könnte ja versehentlich einen Desktoprechner vom Tisch reißen, wenn man etwas Neues probiert.
Beinahe hätte ich vergessen, dass es jenseits des Bekannten auch Unbekanntes gibt. Ich muss mir das immer wieder vor Augen führen. Mein verquerer Weg zur Kaffeemaschine, gerade eben, soll mich daran erinnern.
Ist die Unendlichkeit auf engstem Raum? Gibt es, wenn man alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben glaubt etwa doch noch Möglichkeiten? Was kann ich heute anders machen, was ich schon seit Jahren immer gleich tue? Wird es etwas nützen? Bringt es mich weiter? Erschließt es neue Möglichkeiten? Sollte ich stehen bleiben, warten, beobachten? Würde Verharren etwas verändern? Könnte ich hier sitzen bleiben und mir vorstellen, Kaffee zu holen, ihn zu trinken, weiterzuschreiben und das wäre genauso, als würde ich das wirklich tun? Ist die Welt im Kopf, oder ist sie da draußen, oder ist sie beides: im Kopf und draußen – kann eine Welt im Kopf, die perfekte Simulation, die Welt da draußen ersetzen?

begriffswolke

wollen wille gewolltsein
zukunft ?
gegenwart da
vergangenheit vergessen
gewohnheit
liebe liebe liebe
zerlegen
kennzeichnend
streben
überwinden
kälte innen außen
verhindern
landkarte seele
orientierung
weggehen ankommen
suchen
versuchen finden
irren
unbekanntes größer bekanntes
glück illusion
gegenpole
kraftfeld
strömung treiben lassen
nicht widersetzen
widerstand kraftverschwendung
passieren
zulassen
analysieren erkennen auswerten
nichts denken
denken
wege zwischen nichtsdenken und denken
hohlräume unbekannt
liegen bleiben
liegenbleiben
warten
handeln
beeinflussen
unbeeinflusst sein
nicht hinsehen
schutz
neutralität
wertungslos
du
interesse
ahnung
weiter weiter weiter
hoffnung
steuern
etc.

Imaginäre Betriebsferien

Die Weihnachtsfeier letzten Donnerstag: zunächst würfeln wir um die vielen Geschenke, die man auf dem Tisch aufgebahrt hat, 7 Bierkisten, technischer Schnick-Schnack, Feuerzeuge, Schnaps, Wein und etwas ganz schlimmes namens Toifelsperle, das keiner haben will, sehr viel Toifelsperle. Auch gibt es Männerkalender für Männer, die Frauen mögen und Männerkalender für Männer, die Männer mögen. Zweitere sind auch bei Frauen, die Männer mögen begehrt und erstere sind bei Frauen, die Frauen mögen begehrt. Ich würfele: eins, drei, eins, eins, vier, fünf, eins, zwei und so weiter, nie jedoch eine Sechs. Da aber immer mindestens einer eine Sechs würfelt, gehe ich bei der Weihnachtstombola leer aus. Macht nichts, das hole ich später beim Essen in einem hippen Schuppen in der Kreisstadt H. wieder rein, werde viel Bier trinken und Cocktails …

… Filmriss …

Freitag Abend, Dinnershow Zirkus F-F. Gerade liefern sie den ersten Gang, während auf der zentralen Bühne ein Artist auf fünf verschiedenen Einrädern, von denen das größte fast drei Meter hoch ist, waghalsige Kunststücke vollführt. Chef hat Plätze in der zweiten Ebene gebucht, also nicht direkt vor der Bühne, wo man Gefahr läuft von stürzenden Athleten erschlagen zu werden oder in einem feinen Regen der Spucke des Moderators zu sitzen oder im Schweiß, der manchmal von einem Athleten spritzt.

Ich sitze am Looser-Tisch. Da hocken alle, die bei der Weihnachtsfeier Donnerstagnacht das Gedächtnis verloren haben. Wie Zombies schauen wir den grandiosen Kunststücken zu und genießen unser Vier-Gänge-Menü. Bezahlt alles der Chef. Mein Handy sagt, dass ich gestern um 3:49 Uhr das Taxi bestellt habe. „Zwei Monate meines Lebens …“ raune ich meinem zombiehaften Kollegen P. zu, „hat mich diese Weihnachtsfeier gekostet.“ „Zwei Monate nur“ höhnt er, „mich hat sie mindestens ein Jahr gekostet.“ Er sieht nicht gut aus. Bleich und zittrig. „Du kannst es verkraften,“ lüge ich, „du bist ja noch jung.“

zombiesDer Tisch der Zombies

ff-buehneDie winzige Zentralbühne im Zirkus F.-F.

handstandArtist E. aus der Hauptstadt B. kann das, was Herr Irgendlink noch nichtmal auf einem Bein kann.

trapezTrapezikone R., nachdem sie in einem Becken von 2 m Durchmesser getaucht war. Die Gäste in der ersten Reihe blieben nicht trocken.

Nun hier, an meinem Schreibtisch sitzend, rekapituliere ich die letzte Woche. Mit der Weihnachtsfeier sollte eigentlich das Arbeitsjahr enden und alle Angestellten in ihren wohlverdienten Urlaub gehen. Der Betrieb sei dicht, hat man uns versichert. Nur die Tacker dürfen arbeiten, wenn sie wollen. Da ich vor Weihnachten nichts vorhabe, bin ich heute mal rüber gefahren. Ob ich nun Holz in die Wohnung schleppe, um warm zu machen, oder in unserem nigelnagelneuen Container mit super Elektroheizung ein paar Loungemöbel baue … die Wahl fällt nicht schwer. Zudem, es wird ja bezahlt. Erschreckend: als ich gegen 10 Uhr in der Firma aufschlage, herrscht reges Treiben, mindestens die Hälfte der Belegschaft ist hier. Schmutzige Loungemöbel werden angeliefert, neue Paletten verlassen das Haus. Chef wuselt umher. „Gut dass du kommst. Morgen kommen noch vier weitere  … wir müssen dies und das und am Besten bis gestern.“

Theoretische Betriebsferien taufe ich das Syndrom. Kollege T., natürlich auch da, erklärt: „Das ist Veranstaltungstechnikerlogik. Betriebsferiensimulation heißt das Schlagwort, und siehst ja, wie es dem guten H. geht. Er arbeitet bis Mitte Januar täglich von 17 bis 2 Uhr nachts, damit der Zirkus F.-F. immer schön Strom hat. Die Veranstaltungstechnikerlogik sagt: feiere deine nächtlichen Überstunden am Tag ab.“ „Ne, echt?“ frage ich. „Wenn ich’s dir sage. Sie haben ihm angeboten, er könne auch noch tagsüber arbeiten, wenn er wolle.“

Tja, meine Lieben, das sind Dinge, die ungefähr so tatsächlich geschehen.

Ich konzentriere mich derweil darauf, dass unsere Weihnachtsfeier zwei Nächte und einen Tag gedauert hat und mich nur 2 Monate meines Lebens und sonst keinen Pfennig gekostet hat. Man muss die Dinge positiv sehen.