Never prell a Scherenschleifer

Pervers früh schon beim Arzt wegen des maroden Kreuzes. Im Wartezimmer lese ich Kinderbücher ohne jegliche Scham. Das ist besser, als in zerfledderten Automagazinen zu stöbern.

Zwischendurch fällt mir der Spruch ein: ‚Kommt ’n Mann beim Arzt.‘

Den schreibste mal ins Blog, nahm ich mir vor.

„Kannste aber nicht ohne Erklärung reinschreiben. Was sollen denn die Leute denken?“

Der Spruch geht zurück auf einen uralten Witz, den mein Erzfeind, Drucker Sch. immer erzählt hat: „Kommt ’ne Frau beim Arzt“, hat er die Rheinhessen gefrotzelt. Die sagen das wohl wirklich so und meinen: ‚Geht eine Frau zum Arzt.‘ Damit wird herkömmlicherweise ein rheinhessischer Arztwitz eingeleitet. Manchmal heißt es in diesen rheinhessichen Arztwitzen, in denen die Frau beim Arzt kommt, sie sage zum Doktor, ich habe eine grüne Katze auf dem Kopf oder so ähnlich und der Witz geht weiter bis zur Pointe.

Drucker Sch. hat den Witz stets auf das Minimum, ‚Kommt ’ne Frau beim Arzt‘, gekürzt.

Ich habe so lange nicht über den Witz lachen können, bis die Frau des Druckers eines Tages angenervt kommentierte: „Du immer mit deinem geht eine Frau zum Doktor.“

Der Erzfeind Drucker Sch. ist der einzige Mensch auf der Welt, dem ich wirklich böse bin. Er hat mir die Freundin ausgespannt. Nicht einfach so, dass die Liebe zu Ende geht und es kracht im Getriebe und der Eine wendet sich einem Anderen zu, was ja ganz natürlich und verkraftbar wäre. Über Monate hat er konsequent intrigiert und auf gut Freund gemacht. Die Sache hatte Plan. Er lud mich zum Trinken ein und horchte mich aus, er lud sie zum Trinken ein und machte sie gefügig. Zwischendurch erzählte er immer wieder den Witz: „Kommt ’ne Frau beim Arzt.“ Zuguterletzt hatte der Drucker zwei Frauen und ich keine.

Jahre später habe ich einen anderen Erzfeind des Drucker getroffen. Diesmal ging es um Geld, gerichtliche Auseinandersetzung wegen einer Druckmaschine. Dem Drucker war es gelungen, seine uralte Druckmaschine an einen Grafiker zu verkaufen mit einem zweifelhaften Vertrag. Der Vertrag bestand darin, dass die Druckmaschine beim Drucker bleibt und als Gegenleistung würde der Drucker kostengünstig die Erzeugnisse des Grafikers umsetzen.

Hat er aber nicht gemacht. So kam es, dass der Grafiker keine Druckmaschine und kein Geld hatte und der Drucker hatte Geld und Druckmaschine.

Nun, da ich dies schreibe, fallen mir noch viele weitere Geschichten zum Drucker ein. Beeindruckend waren die mannshohoen Hanfpflanzen, die er mitten im Dorf in seinem Garten gezüchtet hatte. Allererste Sahne. Oder die Malerin W., die er mir als Ersatz für die Freundin zuschanzte. Und das riskante Ding, einen fahrenden Scherenschleifer zu prellen. Wohl sein größtes Wagnis. Mache dir den fahrenden Scherenschleifer nicht zum Feind.

Leistungsbürgertum

Ein Tag geprägt davon, Dinge zu reparieren, Wogen zu glätten, weil eben doch das eine oder andere System zusammen gebrochen ist. Für die neue Stadtbusseite hat mir ein wildfremder Webmaster die Note Eins gegeben. Das hatte ich auch nicht anders erwartet.

Diese ewige Telefonie.

Abends Treffen mit dem Kunstclub. Man besprach die Jubiläumsausstellung. Da wurde mir bewusst, wie sehr ich Grenzgänger bin. Ich kenne fast alle Welten und fühle mich im Pennermillieu ebenso wohl wie in der Hotvollee. Das Pennermillieu ist mir sogar lieber, weil es ehrlich ist und sich die Menschen ohne Masken begegnen. Am Morgen dachte ich: Wer früh scheitert, erspart sich einige Mühen.

Nicht dass ich vor hätte zu scheitern, denn das Anliegen des modernen Leistungsbürgers ist es, zu funktionieren, alle zufrieden zu stellen und das Schiff um die rauhen Klippen der Diplomatie zu segeln.

Vielleicht bin ich ein Leistungsbürger. Trotzdem sah ich die Welt. Das Elend. Das Scheitern. Gestalten die aufgegeben haben begegneten mir am Canal du Midi, auf den Iles des Saintes, in Barcelona und sogar in Speyer und sonstwonoch. Sie alle trugen Geschichten in sich, die sich von meiner eigenen Geschichte nur darin unterscheiden, dass sie einen Schlussstrich gezogen haben, ich nicht.

Ein schlimmes Bündel, das man trägt, wenn man weiter macht, obwohl es sinnlos erscheint. Das ist eine Frage des Horizonts und der Neugier, was sich dahinter verbirgt, des immer wieder auf die Schnautze fallens, sich aufrappelns, weitermachens. Der Gescheiterte sieht den Horizont und denkt sich, oh, ein Horizont, na und. Der Nichtgescheiterte geht darauf zu und wird mit jedem Schritt neugieriger, was sich dahinter verbirgt. Somit gibt es auch viele Gescheiterte mitten im Leben. Menschen, die einfach stehen geblieben sind. Gefestigter Meinung erfreuen sie sich an einem scheinbar konsistenten Weltbild.

Ich gebe zu, Dinge festzuschreiben und zu akzeptieren, kann das Leben ungemein erleichtern, ja, für manchen sogar erst erträglich machen. Die wilden Berber auf der einen, der stillstehende Leistungsbürger auf der anderen Seite haben beide das gleiche Problem: sie stehen still. Nichts bewegt sich. Es herrscht die Stille, die einen das Leben ertragen lässt.

Vielleicht kommt auch für mich der Tag, an dem ich aufhöre zu träumen, zu beten, Ziele zu erreichen? Für welche Seite werde ich mich dann entscheiden?

Der Cycliste Chanteuer, Michel P., ist so ein seltsam gescheiterter Mensch auf der anderen Seite. Mit ihm kann ich mich identifizieren. Ich traf ihn vor sieben Jahren am Canal du Midi, die Pyrenäen reckten im Süden und ich wollte schauen, was dahinter ist. Michel P. war seit Jahren mit Hund und Fahrrad und Gitarre unterwegs, so sagte er, wobei er sich immer am Kanal aufhielt. Im Sommer zöge er nach Westen, sagte er, im Winter ginge er wegen der Kälte nach Osten ans Mittelmeer. Ernähren würde er sich von gelegentlichen Jobs auf Märkten in Castelnaudary oder Bordeaux, er sänge hin und wieder und die Leute gäben ihm Geld.

Wie er in diese Situation gekommen war traute ich mich nicht zu fragen. Er habe eine Schwester in Autun. Dort muss wohl all das geschehen sein, was ihn letztlich hier unten an den Kanal getrieben hat.

Er schien glücklich und froh, sich mit mir unterhalten zu können.

Nun, da ich dies schreibe, kommt es mir vor, als habe ich sein Ost-West ausgerichtetes Leben von Norden nach Süden durchstoßen. Der Leistungsbürger in mir hat aus Lust am Abenteuer mal kurz den Penner simuliert und ist nach Andorra geradelt. Michel P. ist seit sieben Jahren als seltsame Gestalt in meinem Kopf, von der ich gerne mehr wüsste und nur an Hand meines eigenen Lebens versuche zu rekonstruieren, wie es so weit kommen konnte, dass er aussteigt und kein Dach über dem Kopf hat und von Saucisson Sec und Baguette lebt. Er und sein Opinell und der Hund. Wovon er wohl geträumt hat in seinem früheren Leben, dem wohl geformten? Welche Niederlagen er erlitten hat, bis er eines Tages sagte, genug, ich steige aus?

Mir kommt das auch manchmal in den Sinn. Und stets denke ich an Michel P. Ob diese oder jene Niederlage, die ich erleide wohl ein Archetypus ist, der die Menschen dazu bringt, den schmalen Grat in die „falsche“ Richtung zu verlassen? Sei es eine Liebe, die zu Ende geht, oder ein Job, den man verliert. Wir Leistungsbürger stehen näher am Abgrund, als uns lieb ist. Ein falscher Schritt und wir stürzen ab.

Ich bin schon so vielen dieser seltsamen Gestalten des Straßengrabens begegnet. Sie alle haben früher ein ganz normales Leben geführt. Menschen wie Du und Du und ich. Manchmal glaube, ich bin wie sie. Eben im Frühstadium. Ein Tag vor dem falschen Schritt. Nur noch ein winziger Faden, genannt Ziel hält mich. Wenn das Ziel nicht mehr ist …

Vermutlich war der heutige Tag des Cycliste Chanteur dort im Süden leichter als meiner. Schließlich musste ich Wogen glätten, Menschen beschwichtigen, und dass ich eine Eins gekriegt habe, naja, das ist doch nur eine Erfindung des Leistungsbürgertums.

Es ist wieder Fu77

Heyho, ich bin zurück. In Zweibrücken auf dem Hallplatz steht die Uhr immer noch auf Fu77. QQlka hat das letztes Jahr bei einer Kunstaktion entdeckt und ich finde es wirklich klasse, dass es in Zweibrücken eine Uhr gibt, die konsequent Fu77 zeigt. Ja, genau, die Uhr am Eckhaus mit der Apotheke.

Somit verkommt die Zeit zu einem steinernen Etwas, fast schon ein Monument im Atomuhrenzeitalter.

Und was ist sie gerannt, die Zeit, und wie sehr war sie zerschnitten (gesliced) vor dem Urlaub. Hier ein Termin, dort ein Termin, und dazwischen kaum Raum, um Luft zu holen.

Schon am ersten Urlaubstag war alles vergessen, als wir in Biel/Bienne aus dem Bahnhof traten, mit Marc Kuhn, bei dem wir übernachten wollten, telefonierten und er sagte, es wird gleich regnen.

Und es ward Regen. Was für ein Regen. Ein exorbitantes Gewitter schob sich über die nördlichen Juraausläufer. Die Gullies quollen über. Schirme wurden zerfetzt. Neben uns unter dem Vordach eines seltsamen Ladens drängten sich Menschen, schauten auf die Uhr, dann hinüber zum Bahnhof, nur 60 Meter entfernt, aber wer da durch muss, wird bis auf die Knochen nass, egal, ob mit oder ohne Schirm. Die Taxifahrer waren unwillens, das Auto zu verlassen und den Gästen beim Einsteigen zu helfen. Ein cooler Junge lief ganz langsam über den Platz, ich würde sagen, würdevoll langsam. Die logische Idee hinter seiner Tat: laufe ich schnell, werde ich genauso nass, wie wenn ich langsam laufe. Nässer als nass gibt es nunmal nicht. Da offensichtlich sein Zug bald abfahren würde, hat er sich für den coolen würdevollen Gang entschieden.

Mit einem Kawumm, wie es nur Gewitter in den Bergen vollbringen hatte unser Urlaub begonnen.

Fu 77, Sommerzeit

Als wären wir schon Wochen unterwegs. Diese staubigen Packtaschen, die abgewetzten Räder. Ein Stück freies Land voraus und Nudeln und Fertigsuppen im Gepäck. Die letzten Wochen waren komisch. Also nicht wirklich komisch, sondern komisch.

Höhepunkt war wohl der Hinfälligkeitsgau gepaart mit der Überzeugung, man sei sterblich. Das klingt verrückt. Aber Menschen mitten im Leben denken nicht an den Tod, außer etwas rüttelt sie wach, piesackt sie, zeigt mit dem Finger.

Süße arabische Musik dudelt. Auf dem Hof sieht es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. (Die Kombination arabisch – Bombe ist rein zufällig, lieber Verfassungssschutz).

Zettel mit wichtigen Rufnummern vor mir und einer Skizze mit Zugverbindungen. Die nächste Woche wird aus dem wohl-gefesligten Leben ausgeklinkt und am liebesten würde ich auch die Phase 3. Juli bis 24. August ausklinken. Theoretisch wäre das möglich. Flug Teneriffa und zurück würde gerade mal 190 Euro kosten. Das ist geschenkt. Ich weiß nicht, ob ich mich das traue. So lange weg und so viel zu tun.

Es bedeutete das Ende des Slicens.

Ich rede wirres Zeug und schweife ab.

Wie Wochenunterwegs sehen wir aus – und erkläre das mal einem Passanten: „Nein, ich komme direkt von zu Hause. Meine Hose ist immer etwas schmutzig und das Fahrrad ist schon alt weil es alt ist, neinein, ich war mal ein ehrbarer Mensch, ja wirklich, bis gerade eben, aber nun bin ich wieder draußen, draußen in der Welt, wo der Himmel bläut oder gräut oder rötet und die Regenwolken von Westen heranziehen und sich um alles, was unter ihnen vorgeht nicht das Geringste scheren.“

Erklär das mal einem alten Mann im weißen Anzug an irgendeinem Bahnhof in der Südpfalz, er wird es nicht verstehen.

Für den Katzter ist gesorgt. Journalist F. hat wieder zugeschlagen und einen Wolkenkratzer Sheba mitgebracht.

Journlist F. wir danken Dir!

Vielleicht sollte man das, was kommt immer unter dem Aspekt sehen: verändert es mein Leben? Will ich, dass etwas mein Leben verändert oder mein Leben sich?

Die Zone hinter dem Horizont ist ungewiss, aber das sollte einen nicht erschrecken.

Vielleicht sollte man weiters fragen: will ich sehen, was sich dahinter verbrigt, muss ich wissen, was als Nächstes kommt? Wird überhaupt etwas Nächstes kommen? Will ich, dass etwas Nächstes kommt?

Ja.

Ohne Nächstes macht das Vorhergehende keinen Sinn.

FU 77

Geslicte, zerstückelte Zeit.

QQlka sagte vorhin: „Mache ein Buch über die Kunststraßen“.

Und das wäre nun gut und gerne 12 Jahre Künstlerleben, die man da verpacken müsste. Ja, mein Gott, mit ein bisschen Geld und einem halben Jahr Arbeit müsste sich das doch realisieren lassen.

So träumt man von dem dicken schwarzen Buch, das den Weg dokumentiert.

Vieles im Leben funktioniert wie eine lange Fahrradreise. Tag für Tag ein bisschen mehr – so wächst der Horizont, ohne dass man es merkt. Scheinbar ständig bewegt man sich auf bekanntem Terrain und stößt trotzdem ins Unbekannte vor.

Ein, für viele unerträglicher Zustand ist womöglich die Ungewissheit: wird genug Geld auf dem Konto sein, finde ich einen Parkplatz, kriege ich den Job, reicht die Rente, gibt es Krieg, verliere ich den Job, was kommt als Nächstes?

So gehts dem Künstler mit den ungeschaffenen Kunstwerken. Irgendwie sind sie da, trotzdem nicht zu fassen. Von außen betrachtet ganz klar, dass die Dinge wahr werden in den Lücken der zerschnittenen Zeit.

Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht schreiben, sondern nur mich einfach mal wieder melden.

Neues vom Katzter gibts übrigens bei Journalist F.