Drei Wochen Rheinwandern und ein bisschen reisemüde – oder auch nicht | #flussnoten #ibcoco

Daheim. Endlich wieder daheim in der Schweiz. Der Rucksack ist voller schmutziger Wäsche und leer von Lebensmitteln. Das letzte Wasser nur einen halben Kilometer vor Frau SoSos Wohnung, ein Genuss, wie die Plastikflasche leerläuft, Schluck um Schluck, wohl wissend um den Dorfbrunnen direkt vorm Haus, die Wasserhähne in der Wohnung, das Badezimmer, die Badewanne, wo alles fließt, wenn man es will. Von einer ressourcenbeschränkten Welt des Unterwegsseins trennt uns nur noch die Haustür. Aufschließen. Rein. Fallenlassen. Nicht so wie man es in den letzten Tagen gewohnt war, sich unter eine Brücke zu retten vor Sonne oder vor Regen, sondern auf ein echtes, weiches, sauberes Sofa fallen, alle Viere von sich strecken, die Decke anstarren und sogleich den Wunsch zu verspüren, die Decke wäre Sternenhimmel, Naturgewalt, Wolken, die sekündlich ihr Aussehen ändern und der Phantasie einen Spielplatz bieten. Oder wenigstens der graue Beton einer jener vielen Rheinbrücken, wie sie ab etwa Liechtenstein im Abstand weniger Kilometer den breit gewordenen, kanalisierten Fluss überspannen.

Die dritte Reisewoche führte uns durch ein von Menschen kultiviertes Land mit zunehmender Bebauung, Straßen, Bahnlinien, Autobahnen, Grenzübergängen. Wir denaturieren wieder, sagte Frau SoSo.

Etwa 160 bis 200 Kilometer sind wir in den 21 Tagen über Stock und Stein gewandert.

Nachdem wir wild in den Hochalpen die Wanderung begonnen haben und den Planeten ein bisschen so erlebten, wie er aussehen würde ohne uns Menschen, wie er sich anfühlen, anriechen, anhören und anschmecken würde, wenn wir Menschen nicht wären, dreht die Uhr der Reise alles wieder auf Anfang. So wie wir das Land verlassen haben, finden wir es auch wieder vor.

In der Zwischenzeit, so konnten wir in den Sozialen Medien, meist auf Twitter, mitlesen, ereignete sich Weltbewegendes. Vom Massaker in Nizza über den Putschversuch in der Türkei, die US-Wahl-Schmutzschlacht und die Amokläufe in Bayern waren wir stets dabei. Einer der ungeschrieben Blogeinträge des Flussnotenblogs trägt den Titel „Putschversuch am Gebirgsbach“. Er handelt von unserer alltäglichen Welt als Menschenvolk und wie wir virtuell und per Kurznachrichten über fast alles und überall auf dem Planeten informiert werden. Polarisiert, manipuliert, dahingeworfen in einem wilden Meinungsmeer.

Was geht es uns an? Uns persönlich, die wir hier draußen wandern? Die Antwort, die ich mir selbst gebe, wenn ich mitkriege, dass da einer mit Machete eine Ubahn aufmischt, dort ein Spinner mit dem LKW durch eine Strandpromenade rast und fast hundert unschuldige Menschen tötet, am Bosporus ein paartausend Andersmeinende versuchen, das unbequeme Staatssystem mit Gewalt zu ändern, die Antwort rangiert zwischen den beiden Extremen Nichts und Alles.

Du kannst dich in dieser Welt nicht entziehen. Du gehörst als Mensch unweigerlich und immer dazu, wenn du unter Menschen lebst. Alles gehört dazu. Alles gehört zusammen. Die armen Schweine, die hie und da in einem Stall am Alpenrhein gemästet werden, damit wir etwas zu fressen haben, gehören genauso zum System Menschengesellschaft, wie der Enzian, der einsam auf über zweitausend Metern am Pazzolastock wächst und per Gesetz unter Naturschutz gestellt wurde.

Wenn mir auf dieser Reise eines live vor Augen geführt wurde, was ich über die Menschen, über uns Menschen wissen muss, dann, dass wir alles bis ins Letzte vereinnahmen, es uns zu eigen machen, es mit Regeln schützen oder zerstören, sei es nur, dass man weit unten am Rhein, dort wo das Land lebbar und nutzbar geworden ist, ein Gewerbegebiet in die Kiesbänke baut und als Entschuldigung an die Natur andernorts ein Biotop für die enteigneten Frösche gräbt. Wie ein Indianerreservat. Das schlechte Gewissen, das wir, wenn wir unsere Eingriffe in die Natur anschauen hin und wieder entwickeln, bringt auch ein bisschen den Willen zur Sühne mit. Vielleicht ist es aber auch nur ein Funke Erkenntnis, dass es uns selbst an den Kragen geht, wenn wir so weiter machen.

Der Rhein war mal eine richtige Kloake. Ein ungenießbares, dreckiges Stück Gülle, das dem Meer entgegen trieb und das kaum noch Leben zuließ. Die Erkenntnis, dass wir auf das Wasser in Form von Uferfiltrat angewiesen sind, führte in den 1980er Jahren zu gemeinsamen Anstrengungen der acht Rheinanrainerstaaten, die Wasserqualität per Gesetz zu verbessern. Kläranlagen, Fischtreppen, Grenzwerte. Ein Minister, der im Tauchanzug den Fluss bei Mainz durchschwamm. Gutso.

Wir sind da, sagte Frau SoSo vorgestern und wies mit dem Kinn den Damm hinauf, weg von dem breiten Kiesweg, dem wir in glühender Hitze gefolgt waren zwei drei vier fünf Kilometer weit. Da hinter dem Damm ist der Bodensee, sagte sie mit Blick auf das GPS im Smartphone. So ächzten wir den vielleicht fünf Meter hohen Damm hinauf, kindlich naiv darauf bedacht, die Flora in dem befestigten Menschenwerk nicht zu sehr in Mitleidenschaft zu ziehen. Bunte Blumen, Gräser, die voller Samen und halb vertrocknet ihre Ähren neigten, bloß keine Schnecke  zertreten, bloß keine Ameisenstraße zerwühlen. In gewisser Weise sind wir achtsam, wohl wissend, das jeder unserer Schritte, von uns nicht wahrgenommene Kollateralschäden in der Natur hinterlässt. Fast wie der Buddhist, von dem man sich erzählt, er bete jeden Abend für alles, was er in der Natur zerstört hat, jeden Käfer, jede Schnecke, jeden Grashalm, den er durch pure Existenz und des eigenen Vorankommens willen versehenlich aus dem Leben reißt.

Wir sind da. Der Rhein mündet in einem drei vier Kilometer langen, künstlichen Bett, das von Dämmen umgeben ist bei Fußach in den Bodensee. Sein eiskaltes Wasser taucht sofort ab, strömt unterseeisch weiter nach Norden, mischt sich auf vielleicht achtzig Kilometern mit dem warmen Seewasser, bis er als Seerhein in Konstanz weiterfließt.

Wir lassen uns unter einer Weide fallen, neben uns zwei Angler, mit denen wir uns anfreunden. Sie fangen einen winzigen Barsch, schuppen ihn, nehmen ihn aus. Das Fischlein zuckt auch noch im geschuppten und ausgenommenen Zustand. Barsche darf man bei jeder Größe aus dem See angeln, sagen sie. Es gibt genug davon. Zu viele. Der Barsch gehört eigentlich gar nicht hierher, so will es die Natur. Wir Menschen haben den Zierfisch einst hier ausgesetzt. Nun plagt er.

Die Weiden regnen. Die Welt schwitzt. Libellen fliegen und Zeppeline und auf dem See liegen hunderte Motorboote vor Anker. Menschen baden, kühlen sich. Sie haben sich selbst hier ausgesetzt und nun sind sie eine Plage.

Wir wissen es nur nicht.

 

Flussnoten – Wandern am Rhein, zweite Woche | #flussnoten #ibcoco

Wenn Ihr mich fragt, wo warst du heute vor einer Woche, ich müsste passen. Tage, Stunden und Minuten spielen keine Rolle mehr. Der Alltag hat sich völlig aufgelöst und ist einem wandernden Dahintreiben am Rhein gewichen. Auch die Alltagszipperlein, die einen hin und wieder plagen, Verspannungen, Kopfweh, brennende Augen, sind wie weggeblasen. ‚Die heilsame Kraft der Reise‘, titelte Mitbloggerin und Mitwanderin Sofasophia gestern in unserem gemeinsamen Blog Flussnoten. Wie der Rhein, ist es gewachsen Eintrag um Eintrag, Seite um Seite. Stark geworden ist es. Ein richtiges Buch in Blogform.Wir sitzen gerade am Rheinstrand fast schon in Liechtenstein. Hinter uns ragen zig Meter hohe Felsen, um uns abgestorbene Bäume, Efeu, Beerensträucher, Gras, Sand und Kies, eine Feuerstelle. Unser Trinkwasser haben wir aus dem Rhein geschöpft und abgekocht. Es ist sandig. Seit Chur, der Kantonshauptstadt von Graubünden, wollen wir es nicht mehr einfach so trinken, obwohl man das wahrscheinlich gefahrlos tun kann.

Die Woche war unheimlich anstrengend. Ab Ilanz brachte die Rheinschlucht auf schmalen, teils gefährlichen Wanderpfaden ein einziges Auf und Ab mit sich, so dass wir wohl mehr Meter kraxeln mussten, als am allerersten Reisetag. Allerdings in Raten. Hier mal 200 Meter aufwärts, dort wieder runter zum Fluss, zum Einkaufen hoch ins nächste Dorf usw. In der Schlucht gibt es keine Läden, aber Bahnhöfe, die die Rhätische Bahn bedient.

Ilanz am letzten Sonntag. Erste größere Siedlung, eine Stadt sogar.

Richtig geschäftig wird das Rheintal aber erst ab dem Zusammenfluss von Vorder- und Hinterrhein bei Reichenau. Das Tal ist nun breiter. Es gibt Felder. Einzelne Gehöfte. Monströse schwarze Silos. Kieswerke. Stromleitungen. Die Autobahn summt, übertönt gar den gebändigten Fluss, der immer gerader wird, Begradigungen sei Dank. Spätestens ab Chur hat der Mensch die totale Kontrolle über Fluss und Tal übernommen. Stauwehre. Noch mehr Kieswerke, Industrie und Handwerksgebiete, Motorradhändler, Baufirmen, Dienstleister, ein Biotop bei Zizers, das per Menschengesetz eigens gebaut werden musste, um die Fläche zu entschädigen, die ein Gewerbegebiet nahe Landquart vereinnahmt.

Heute war der erste Tag, an dem wir nur am Fluss wanderten. Er heißt hier Alpenrhein bis zu seiner Mündung in den Bodensee. Schnurgerade gings auf dem Rheindamm flott voran. Rheinüberquerung 18 bei Landquart und 19 bei Bad Ragaz. Das Flussbett ist vielleicht dreißig, fünfzig Meter breit. Vorbei an Heidiland und der Heidigemeinde Maienfeld wanderten wir und landeten unerhalb Fläch in einem wunderbaren Naturgebiet. Ein Fest für Vogelkundler. Rechtsrheinisch steigen Felswände senkrecht auf. Hier hört man keine Autobahn, nur Vögel, Insekten und den Fluss.

Schätzungsweise hundert Kilometer, vielleicht hundertzwanzig oder noch mehr sind wir schon gewandert. Noch eine Woche bleibt uns für die etwa sechzig Kilometer bis zum Bodensee.

Flussnoten ein live gebloggtes Buch vom Rheinwandern | #ibcoco #flussnoten

Die erste Reisewoche am Rhein von der Quelle bis zur Mündung. Eine Zusammenfassung.

Die offizielle Rheinquelle entspringt im Tomasee, ein paar Fußballfelder großer Gebirgssee in den Alpen. Unweit des Gotthards. Unweit von Andermatt. Man erreicht den ca 2300 Meter hoch gelegenen See nur zu Fuß über holprige Gebirgspfade. Die nächste Bahnstation ist der Oberalppass, etwas über 2000 Meter hoch. Ein schlichtes Wartehäuschen, Fahrkartenautomat, paar Sitzbänke. Kreischend keucht die Gotthard-Matterhornbahn hinauf. Am Bahnhof weisen gelbe Wanderwegschilder verschiedene Routen aus. Bis zum Tomasee kraxelt man 1:40 Stunden.
Soweit die Theorie. In der Praxis verirren wir uns, Frau SoSo und ich auf die Profiroute, die über den mehr als 2700 Meter hohen Pazzolastock und die Badushütte zum Tomasee führt. Nicht ungefährlich. Ein Fehltritt und man purzelt zig Meter den Steilhang hinab. Im oberen Teil müssen wir sogar Schneefelder durchqueren und über einen hunderte Meter langen Grat balancieren. Das Ganze mit je ca. 15 kg Gepäck im Rucksack.

Am zweiten Tag erreichen wir, nach Zeltübernachtung neben der bewirtschafteten Badushütte endlich die Rheinquelle. Steigen über Geröll und durch Matten weiter ab. Enzian. Es gibt ihn noch! Die Alpenflora ist exorbitant schön.

Nicht immer am Rhein verläuft der Trail, macht Windungen, aber ab etwa Tschamut folgen wir mehr oder weniger dem berühmten Fluss, den man auch Vater nennt.

Die Rheinquelle ansich gibt es eigentlich gar nicht. In der Gegend östlich des Oberalppasses heißen fast alle Rinnsäler, die sich im Tal vereinen irgendwas mit Rein oder Rain.

Wir sind mit Zelt und Kocher unterwegs, zelten meist wild, was bei Campingplatzpreisen um 40-50 Franken den schmalen SchriftstellerInnengeldbeutel schont. In der Schweiz gibt es in den meisten Kantonen eine Art Jedermannsrecht, das Wildzelten für eine Nacht erlaubt. Pauschalisieren kann man das allerdings nicht. Wie sagt man so schön hierzulande: Es ist von Kanton zu Kanton verschieden.

Als sich das Wetter verschlechtert, vier Tage lang von Dienstag bis zum gestrigen Freitag, buchen wir uns doch auf Campings ein. Der erste Campingplatz am Fluss liegt in der Nähe von Sedrun mit Blick auf die Baustelle des Gotthard Basistunnels. Kaum vorstellbar, dass noch vor wenigen Monaten unterhalb des Dorfs auf einer Wiese ein Containerdorf für 600 Gastarbeiter stand. Nun ist die Wiese wieder grün. Die Baustelle vernarbt. Nur vereinzelt fahren Transportlaster und Raupen. Den Abraum, der nicht verwertbar war hat man auf Geländen östlich Sedruns ausgebracht und allfällige Mulden in den Bergwiesen verfüllt.

Innerhalb von etwa zwanzig dreißig Kilometern steigen wir gut 1500 Meter ab. Der Rhein nimmt langsam die Gestalt eines Gebirgsflusses an. Erste Stauwehre, Kraftwerke. Dichter Föhrenwald. Klare Luft. Am vergangenen Donnerstag überraschte uns ein Gewitter nahe Mompé Medel. In dem Bergdorf gibt es weder Gasthof, noch Unterkunft, so dass wir in unserer Not bei einem Bauern fragten, ob wir neben der Scheune im Windschutz zelten dürfen. Glücksgriff. Er habe gerade erst die Kühe auf die Alm gebracht und den Stall mit Hochdruckreiniger gesäubert. So verbringen wir eine eiskalte Nacht im Kuhstall.

Es sei erwähnt, dass der Stallgeruch nur sehr langsam aus der Kleidung und den Schlafsäcken verfliegt.

Seit heute ist das Wetter besser. Sonne pur. Wir lagern bei einem Grillplatz nur etwa 850 Meter hoch. Auch die Temperatur steigt. Die Schneefallgrenze lag kurzfristig bei ca. 1500 Metern. Nicht auszudenken, unter diesen Bedingungen den Pazzolastock überwinden zu müssen.

Aktuell bloggen Frau SoSo und ich live und täglich in dem eigens für das literarische Projekt eingerichteten Blog http://flussnoten.de Außerdem gibt es mehrmals täglich Statements und Kurioses von uns auf Twitter zu lesen. Die Twitteraccounts sind in das Blog integriert und aktualisieren automatisch.

Ziel der Wanderung ist der Bodensee, der Luftlinie nur noch knapp 100 Kilometer entfernt ist. In Tagesetappen von etwa 10-15 Kilometern Länge werden wir etwa Ende Juli das große schwäbische Meer erreichen.

In einem weiteren Schritt werde ich dem Rhein per Fahrrad bis zur Nordsee folgen.

Aus den Reiseberichten machen wir im Herbst ein eBook.

Kanufahrer auf dem Vorderrhein nahe Trun
Kanufahrer auf dem Vorderrhein nahe Trun

All die Menschen, ach all die herrlichen Menschen. #flussnoten #ibcoco

Durchs Fliegengitter des Innenzelts kann ich in die Luft schauen. Das Außenzelt dient mir als Kopfkissen. Die Nacht ist mild. Ich habe das Lager unter zwei riesigen Eichen aufgeschlagen. Neben mir murmelt der Altrhein. Ich bin alleine. Niemand benutzt den Radweg, der durch die Auen führt. Das nächste Dorf ist etliche Kilometer entfernt. Gegen Dunkelheit begegnete mir als letzter Mensch des gestrigen Abends ein Radler mit viel Gepäck, der nur kurz stoppte, eine Zigarette rauchte, meinen Gruß mit einem knappen Hallo erwiderte, das Licht einschaltete und weiterradelte. Vielleicht hatte er Angst vor mir, wie ich so auf einem Flecken Beton ohne ersichtliches Sonstwas den Trangia-Kocher aufgestellt hatte und mir mein Abendessen kochte. Männer ohne alles im Schneidersitz vor Spirituskocher, das ist schon seltsam. Wie ein Mensch, der hier nicht hingehört und somit stimmt auch etwas nicht an der Situation. Hätte er mein Zelt und das Radel, hundert Meter weit weg unter den Eichen gesehen, hätte er vielleicht mehr Vertrauen geschöpft?

Gegen acht Uhr breche ich auf. Junger Morgen, erste Radlergruppen. Es war ein guter Entschluss, vom Illkanal herüberzuqueren an den Rhein. Die Wucht es Flusses, seine Schiffe, das dumpfe, behäbige Brummen der Dieselmotoren, garniert mit dem Summen von Insekten und dem Gezwitscher der Vögel, strahlen eine unheimliche, zeitgenössische Magie aus. Was auf dem Strom alles transportiert wird! Man spürt die Lebensader. Kanalisiert von fünf oder noch mehr Meter hohen Staudämmen drängt der Rhein vorbei an Städten und Dörfern, kühlt  Kernkraftwerke, trägt unsere Waren und, wie ich schon früh an den zahlreichen Begegnungen erkenne, ist er ein Transportmedium für die Phantasien zahlreicher internationaler Langstreckenradler. Wenn das Buch ‚Flussnoten‘, das ab Samstag in dem Blog http://flussnoten.de gemeinsam mit Frau SoSo live geschrieben wird, ein Thema hat, dann ist es der Mensch, wird mir an diesem Morgen klar. Verflogen ist die schleppende Tristesse des vorgestrigen ersten Tags, an dem es mir beinahe unmöglich schien, das einsame Gehöft zu verlassen. Der unterschwellige Nihilismus, der mich manchmal befällt, die Kraftlosigkeit, die sich in den Knochen etabliert und mir suggeriert, es wird nie wieder aufwärts gehen, verfliegt im Nu – vielleicht sind es die vielen Menschen, die mir innerhalb weniger Stunden an diesem gestrigen dritten Reisetag begegnen und mich beflügeln sollten. Sie sind mir ein Fingerzeig, dass es immer weiter geht und ich könnte wahrlich einige Blogartikel füllen mit der ein oder anderen Begegnung, war sie auch noch so kurz – ja, vielleicht hole ich dies irgendwann nach. Hier erst einmal in Kürze und in Form einer Liste all die Menschen, ach all die herrlichen Menschen des gestrigen Tages.

  • Ein Frühradler huscht am Zelt vorbei, in der Dämmerung scheint er mich gar nicht zu bemerken und ich bleibe still, kaffeeschlürfend, um ihn nicht zu erschrecken.
  • 17 Radler mit leichtem Gepäck, morgenmufflig, stoisch nicht zurückgrüßend, die ‚Vierzig Wagen westwärts‘ des kleinen Mannes, nur ohne Schnaps an Bord, winzige Taschen baumeln an ihren stählernen Mulis. Ich dichte ihnen Ruhrpottcharme an,
  • Bagger, allüberall in den Kiesgruben jenseits von Neuenburg. Manchmal sieht es aus wie Tanz, wenn sie LKWs beladen oder einander liebevoll zu waschen scheinen wie hier in Heiko Moorlanders berühmtem Werk The Elephant Shower
  • Steinmännchen. Und was für welche. Zehn fünfzehn Stück neben einem Katarakt, der den Altrheinarm wie ein naturbelassenes Idyll wirken lässt. Erst als ich hinunter tappe ans Ufer bemerke ich die zwei Männer, die im Schatten der Weiden sitzen. Aus ihrem Radio tönt Led Zeppelin. Sie trinken Bier. Verflixt, ich stehe mitten in ihrem Wohnzimmer. Am sandigen Hang haben sie mit Planen ein Lager eingerichtet. Der eine zeigt mir sein T-Shirt, auf dem groß Polzilei steht und er fragt mich, ob ich der Panzerknacker sei, hä?, na mit der komischen Nummer auf deinem T-Shirt. Ich hebe die Hände, erwischt, fünfzig Cent koste die Fotogenehmigung, scherzen sie. Der größte der Steinmänner ist vierzehn Steine hoch. Nachts hatten sie ihn beleuchtet und er sah aus wie der Eifelturm. In der Sonne brutzelt eine Solarzelle die Akkus für das Radio voll. Aus der Fahrradpacktasche krame ich eine Dose Weißbier, noch morgenkühl, Freude bereitend.

  • Grimmige Großmutter schimpft ihren kaum fünfjährigen Enkel vom Radweg, wie ein Hund behandelt sie das Kind, das im Zickzack auf mich zusteuert. Perplex schaue ich den beiden hinterher und denke, das arme Kind.
  • Die Bullen. Mit Warnwesten bekleidet lauern sie hinter einer Hecke in einer Radwegumleitung – die Strecke ist für Radler und Fußgänger aus unerfindlichen Gründen gesperrt und ich nehme demütig den Weg über die Straße bis nach einigen hundert Metern zurückgeleitet wird auf den Radweg, gerade noch rechtzeitig …
  • … um ein tätowiertes Mädchen ohne Licht und Helm mit nur einer funktionsfähigen Bremse, Achtung die Bullen, davon abzuhalten, den verbotenen Weg einzuschlagen. Mit ihren vielen Tatoos ist sie ohnehin eine Reizfigur für alles was mit Ordnung zu tun hat, glaubt sie, kehrt um, gondelt ein Stück neben mir her, schleicht sich in einem Feldweg hinunter zum Rhein auf den Wanderweg. Ich habe ihren Nachmittag gerettet, puuuh, sagt sie.
  • Zwei Frauen aus Cherbourg mit schwerbepackten Fahrrädern. Frankreichwimpel und, ja, was ist das für eine komische andere Flagge? Vielleicht die der Heimatregion, wir schwadronieren französisch, sie wollen nach Konstanz und essen wollen sie, das sagen sie auf deutsch, jetzt, dort bei der Bank unter dem Baum am Fluss.
  • Zu wenig Geld in der Tasche im grenznahen Aldi hat das junge Paar, nur ein paar zig Cent fehlen und unisono bieten sich alle in der Schlange hinter ihnen an, den Rest zu bezahlen, fummeln in ihren Geldbeuteln. Einfach so.
  • Wildgelockter Reiseradler, dreitagebärtig in der Fußgängerzone Rheinfelden, kurz der Gruß. Es ist elend heiß. Später treffe ich ihn bei der Badi (beim Schwimmbad) in Möhlin, Schweiz wieder, ihn und seinen Kumpel, die Räder zerlegt, der Kofferraum des Autos offen, und wir halten ein Schwätzchen. Aus Gouda kommen sie und sie haben gerade in elf Tagen die Schweiz umradelt, was auf dem Schweizer Fernradwegenetz über die drei Routen Jura, Rhone und Rhein prima möglich ist. Stolz zeigt er mir die Karte, Knapp zwölfhundert Kilometer. Höchster Punkt ist übrigens der Oberalppass, ab dem Frau SoSo und ich morgen unsere Rheinwanderung starten werden. Ich frage mich, wie sie es geschafft haben, das Auto für anderthalb Wochen beim Schwimmbad abzustellen, ohne dafür eine saftige Buße erhalten zu haben. Sie sind glücklich.
  • Der unbekannte Bauarbeiter, der in Effingen ein Baustellenschild vor das Radweghinweisschild gestellt hat, wenn ich dem jemals begegne. Er bescherte mir ein doppeltes Bözbergchen und die Grundlage für eine Geschichte mit dem Titel ‚Bözberg-Gate – Skandal um Radweg 56‘ (bald hier in diesem Blog (falls ich nachher noch die Muse habe, sie aufzuschreiben)).

Laaangweilig! #flussnoten #ibcoco

Was habe ich geflucht, dabei wusste ich doch genau, dass der Radweg schnurgerade an einem Kanal aus Straßburg hinaus führt, zwanzig, dreißig, vielleicht vierzig Kilometer weit. Laaangweilig stöhnte ich wieder und wieder und begab mich für einige Stunden auf Forschungsreise im eigenen Seelengewebe. Wenn man genau in sich hört, kann man die Kräfte hören, die während des Haderns mit Unabänderlichkeiten in einem malmen und wirken. Wie ein Reiben von Knochen auf Knochen, schmerzhaft, unsichtbar, unheimlich, die Umstände da draußen passen dir nicht, dein Hirn schaltet in den Hadermodus und versetzt den armen, unschuldigen Körper in eine sklavische Situation, in der er mit seinen beschränkten Mitteln tunlichst machen soll, dass das aufhört. Das unheimlich flache Land. Der schmale Kanal, der sich immerhin nach einigen zig Kilometern in ein renaturierndes Etwas verwandelt, das nicht mehr schiffbar ist, das sich selbst überlassen wurde, in dem Vögel dümpeln, Wasserratten, allerlei Getier, gesäumt wird das unnatürliche Rinnsal, das vor hunderten von Jahren als Wasserstraße gegraben wurde, von dichtem Auwald. Insekten allüberall, bunte Libellen, eigentlich ein Wunderland, das durchaus sehr schön ist, aber dein Hirn klammert sich an dem Begriff Laaangweilig fest und es erklärt das Außen als Nichtachtenswert, als unbedingt so schnell wie möglich zu durchqueren, damit die Einheit, Körper Geist bald wieder in „schöneren“ Gefielden wandeln kann. Und so trittst du rein und gibst alles. Der Radweg ist durchweg geteert. Nur ab und zu wird er für einige hundert Meter etwas unbequem, weil Wurzeln sich dicht unter dem Teer voranbohren und eine Art Wellblechpiste verursachen. Die Vorhut von Bautrupps hat die Wurzelwellen mit neongelbem Spray markiert, was aussieht wie Kunst. Platanen manchmal, mit solllchem Durchmesser. Und Angler. Hun-der-te. Die Elsässer kennen mehr Ausprägungen von Anglern, als die Eskimos Worte für Schnee haben: Angler mit Baskenmütze, Angler mit Camouflage-Anzügen, mit Schirm, Bierbauch, Pfeife, Gauloise Caporal, Zopf, rotnasige Angler, weintrinkende Angler, welche mit Pastis, im Illkanal gekühlt, Angler ohne Oberkleidung … an solchen Sachen ergötzt sich das Hirn und vergisst manchmal, den armen Körper anzutreiben. Die Oberschenkel schmerzen. Sie sind müde. Immer wenn die Laaangeweile durchdringt, wird das Kräftepaar, los, voran, weiter weiter weiter und der Schmerz, der aus dem Unvermögen, es geht nunmal nicht schneller rührt, unerträglich. Dann sucht sich das Auge Anhaltspunkte. Die Beschilderung wurde ausgebaut am Radweg, seit ich ihn 2014 radelte. Es gibt nun Hinweisschilder auf die Orte abseits. Der Kanal führt nie direkt durch ein Dorf. Auch gibt es mittlerweile Tafeln, auf denen man Hinweise auf Sehenswertes, Übernachtungsmöglichkeiten und Infrastruktur findet. Es geht voran. Aber immer noch dieses verflixte Marckolsheim! Schon 2014 fiel es mir auf. Zuerst ein Schild, auf dem steht, es sei 26,5 Kilometer entfernt, ein paar Kilometer weiter eines, auf dem 29 Kilometer steht, dann 30, irgendwann kommt dann eine Serie von Schildern, auf denen der Ort 4 Kilometer entfernt ist. Als ob es die Hinweisschilder im Zehnerpack billiger gab und ein findiger Radwegebaubeamter sich sagte, hey, da sparen wir dem Steuerzahler Geld. Die schwimmenden Siedlungen des Elsass. Marckolsheim eines der großen Mysterien unserer Zeit.Schließlich erreiche ich es dann doch, dieses Marckolsheim. Der Kanalradweg endet dort. Bzw. er biegt nach Westen ab hinauf in die Vogesen bis nach Colmar. Ich will aber nach Süden. Entweder radele ich durch die Dörfer nach Neuf-Brisach … das Hirn warnt, das war laaangweilig, damals 2014, okay okay, so schuftet sich der Körper also fünf Kilometer weit auf der Hauptstraße bis zur Schleuse bei Sasbach, rüber nach Deutschland, weiter am Rhein. Eine gute Wahl! Es läuft besser. Die Kräfte im Innern haben sich geeinigt, wirken nicht mehr gegeneinander. Es geht mir besser, im ruhigen Einklang drifte ich auf einem Kiesradweg am Rheindamm.

Der zweite Reisetag. Zwischen Breisach und Neuenburg findet sich ein feines Lagerplätzchen unter uralten Eichen. Die Autobahn rauscht auf der einen Seite und jenseits des Altrheinarms hört man die Rheinschiffe brummen.