Elementares

Zwischen Küche, Garten und Server. Was für ein (All)tag. Aber genau das Leben, wie ich es mag. Von allem ein Bisschen und nichts für die Abhängigkeit vom Willen anderer. Sieht so Freiheit aus? Das bisschen lebbare Freiheit, das man sich im Laufe der Lebensprozesse mühsam erkämpft und sich dabei durch ein kataraktisches Labyrinth aus Verlockungen schuftet, Verlockungen materieller Natur, denen man, über die Jahrzehnte hinweg gelernt, die kalte Schulter zeigt. Harte Schule, die sich lohnt.

Ich packe eine dicke Kartoffel in den Rucksack, dazu den Laptop, den WLAN-Router, auf dem Weg zu Kollege T., der ein Restaurant betreibt in der Nachbarstadt. Zwischen Küchentür und Terrasse schwadronieren wir über dies und das, das Leben, eine zu bauende Homepage. Zur Präsentation, die ich eigentlich vor hatte mit PC und Router, kommt es gar nicht, sondern ich male ihm in blumigen Worten die Optionen auf, die er bzw. seine Bekannte hat, für die die Homepage erstellt werden soll. Ein CMS wäre gut für sie, sage ich, höre näher hin und komme schließlich zu dem Schluss, die Frau braucht eigentlich gar keine Homepage. Wenn ich Vertreter für Mobilfunkverträge wäre, würde ich auf diese Weise nichts verdienen. Die Leute brauchen keine Mobilfunkverträge. Brauchen sie Homepages? Muss man ihnen etwas aufschwätzen, was sie nicht brauchen? Man muss, wenn man in dieser Gesellschaft existieren will. Ich hätte sogar die Argumente, der Dame eine Webseite schmackhaft zu machen, ich könnte sie vielleicht auf einen Job überreden, wenn da nicht das Gewissen wäre und die Gewissheit: die Frau braucht keine Homepage und nur, weil ich mit Homepagegestaltung ein paar Kröten dazu verdienen kann, soll ich ihr eine aufschwätzen?

In der tiefen Gewissheit, dass es A möglich wäre, den Auftrag zu kriegen und B der betuchten Dame nicht weh tun würde, packe ich die dicken Kartoffel aus. T. wiegt sie. 570 Gramm. Butterzartes Ding. Wir schneiden sie in Stücke, tun sie in einen Topf, garen sie, trinken nebenbei ein Glas Hauswein. Die Menschen brauchen Kartoffeln. Sie brauchen Wasser, Oliven meinetwegen und Bier, Käse, Milch, Brot, Luft, aber sie brauchen keine Webseiten, keine Fernseher, keine Smartphones, keine Tablets, keine Autos, Kaffeemaschinen. Mittlerweile hat sich Freund Sch. zu uns gesellt, ein Mann ohne Handy und er erklärt eindringlich, dass Tablets und Smartphones und überhaupt alles Irgendwas-mit-Computer eigentlich völlig überflüssig ist. Wenn man es genau nimmt, sind diese Dinge für vielleicht eine handvoll Leute recht sinnvoll, aber die große Mehrheit, der sie aufgeschwätzt werden, richtet damit nur Schaden an, verseucht sich selbst, degradiert sich letztlich zu Kaufvieh. Der moderne Konsument ist für den modernen Produzenten ungefähr so viel wert, wie ein Sack Steckzwiebeln für einen Zwiebelbauern. Reines Saatgut.

Weil es im Restaurant hoch her geht, packe ich hie und da mit an. Dinge hin und her schleppen, dies und das und ich bewundere Kollege T., wie er die Lebensmittel veredelt, Köstlichkeiten kredenzt, die Menschen satt macht. Elementares. Nicht Wegzudenkendes. Eine sinnvolle Arbeit. Genau wie mein Gartenschuften, das ich seit diesem Frühling intensiviert habe. Verlockend die Vorstellung, eine hohe Mauer um das einsame Gehöft und den Garten zu ziehen, die Stromleitung zu kappen und gemeinsam mit Kartoffeln, Gurken, Tomaten, Hühnern, der Katze ein friedliches Leben zu führen.

Nicht weit eigentlich bis zu Marlen Haushofers Roman Die Wand.

Schlagartiger IQ-Verlust

Die Geschichte der Dummheit muss neu geschrieben werden. Ein Hieb mit der Hacke hat genügt, um jeglichen Traum vom Nobelpreis für Philosophie, Kernphysik, Medizin usw. zu Nichte zu machen. Mit einem Schlag ist Monsieur Irgendlink rotzdumm. Dabei hatte alles so gut begonnen: den IQ von Goethe potenziert mit dem von Einstein mal Newtons IQ unter Berücksichtigung der Eulerschen Zahl und Einberechnung der Fibonaccifolge … Dann Pi bis zur letzten Nachkommastelle ausgerechnet. Aber nein, es hat nicht sollen sein. Der Pfälzer sagt, die dümmsten Bauern ernten die dicksten Kartoffeln. Das Bild zeigt Monsieur Irgendlink mit seiner Tagesernte, nachdem er die Hacke testweise in den Kartoffelacker gerammt hatte: links 450 Gramm, rechts 650 Gramm.

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Die Früchte hingen an einer Pflanze, die vom letzten Jahr noch im Acker war und die ich im April verpflanzt hatte. Somit steht fest: Kartoffeln lassen sich auch, nachdem sie schon zehn Zentimeter hoch gewachsen sind noch verpflanzen. Zum Abschluss noch eine pfälzer Weisheit: Wenn se owe bliehn, kannsch se unne krien.

Im Würgegriff von Zeit und Geld

Rückkehr nach Zweibrücken nach fast einem Monat per Radel und zu Fuß durch Deutschland, Frankreich und die Schweiz. Sofort stehen Termine auf dem Plan. Die Zeit, die auf der Wanderung nur in Form von Tag und Nacht spürbar war, wird wieder feingliedrig. Wie ein Tausendfüßler durchwandert sie das Leben. Was für ein Tag ist heute? Haben die Geschäfte noch auf? Sind Zeit und Geld von Menschen gemachte Werkzeuge, um Menschen zu beherrschen?, durchzuckt mich eine Frage. Irgendwo auf einer lothringischen Landstraße, nicht mehr weit von daheim. Ich bin verträumt vertieft und erschrecke deshalb umso mehr, als ich in den Rückspiegel schaue und ein Tsunami von LKW auf uns zu rollt. Ein Actros. Blau. Dämonisch. Die Szene erinnert an den frühen (ich glaube Spielberg?) Film, in dem kaum ein Wort gesprochen wird. Ein Handlungsreisender in den USA wird von einem Truck verfolgt, bedrängt, gerammt. Scheinbar ohne jeglichen Grund gejagt, gehetzt. Blick auf den Tacho. Knapp neunzig. Eigentlich genau das Limit auf französischen Landstraßen. Selbst LKW-Fahrer, kenne ich aber das Problem. Die Dinger sind auf exakt neunzig getrimmt und man fährt dann auch exakt neunzig. Kleinwagenfahrern, die einen mit neunundachtzig ausbremsen, gibt man am besten durch dichtes Auffahren zu verstehen, dass sie zur Seite fahren sollen. Zeit ist Geld.
Zurück im streng getakteten Alltag. Kaufrausch in einem französischen Supermarkt. Käse. Baguette. Belgisches Bier. Wurst. Drei Schreibkladden. Europäisch billig nach dem schweizerischen Hochpreishorror der letzten Wochen. Die Grenze. Die Stadt. Meister. Welt. Alltag. Das einsame Gehöft. Zwei Briefe im Briefkasten. Eine vergangene Ausstellungseinladung und die Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärung. Verflixt.

Von Linescio nach Brugg

Wenn man in der Suchmaske der SBB, der Schweizer Bahn, nach einer Verbindung von Linescio im Tessin nach Brugg im Aargau sucht, wird man schnell fündig. Mit dem Bus geht es hinunter ins kaum fünf Kilometer entfernte Cevio im Vallemaggia, weiter nach Locarno und von dort per Bahn via Bellinzona, Arth Goldau und Zürich nach Brugg. Fünf Mal umsteigen in gut fünf Stunden. Man könnte die Tickets online buchen, per Kreditkarte bezahlen und den Busfahrer den erzeugten QR-Code vom Smartphone scannen lassen.
Das grüne Stück Wildnis jenseits des Friedhofs von Linescio sieht nicht danach aus, als ob man dort überhaupt Handyemfang hätte, geschweige denn komplizierte Tickettransaktionen zu unternehmen. Nur die nicht gedeckte Kreditkarte hält uns davon ab. Schlapp hängt das kilometerlange Stahlseil der Lastseilbahn nach Morella. Strahlender Himmel. Die Kirchturmuhr schlägt Elf. Wir lungern spiel-mir-das-Lied-vom-Tod-esque herum. SoSo die Mütze ins Gesicht gezogen vor dem Leichenkapellchen. Ich inspiziere das Dorf. Der Bus sechsunddreißig Minuten entfernt. Eine Bremse sticht mich ins Knie. Mit dem Handrücken wische ich sie weg, zertrete das torkelnde Tier. Luftmundharmonika spielend, jammernd, schwitzend, ungeschlacht aussehend. Wie ein Panther streife ich die enge Dorfstraße auf und ab. Ein Handwerker macht Pause. Der Postbote leert den Kasten, erbietet den Gruß. Dann der Bus. SoSo kauft die Tickets bis Brugg. Ich hätte nicht geglaubt, dass man in einem Provinzbus eine derartige Verbindung buchen kann. Aber in der Schweiz ist scheinbar alles und jeder immer und überall ans Internet angeschlossen. Die große Rutsche zurück nach Hause kann beginnen. Souverän steuert der Kondukteur den vierzig Personen Bus durch die Haarnadelkurven hinunter ins Tal. Dieses Mal ist die Fahrt noch spektakulärer, als auf dem Weg herauf, weil das Fahrzeug in den Wendepunkten mit der Schnauze press am Abgrund steht. Zerbrechlich wirken die rostigen Geländer, an denen ich mich garantiert nicht festhalten würde mit dem schweren Wanderrucksack auf dem Rücken. Locarno. Ein Trinkwasserbrunnen direkt auf dem Bahnsteig. Zwei drei Schlucke. Bellinzona, fünf Minuten Umsteigezeit und ein knallgelb lasierter Bauzaun, den ich schon in dem Artikel Mehr Astloch gezeigt habe. Den Gotthard von unten betrachten zehn, zwanzig oder dreißig Kilometer weit. Regnerisch ist es im Norden. Die berühmte Kirche von Wassen. Auf dem Wanderweg, der mitten durchs Dorf führt, hatten wir sie gar nicht gesehen. Wie lang ist das jetzt her? Eine Woche? Die Kehrtunnel um Wassen ermöglichen multiple Blicke auf die Kirche. Spiralförmig führen sie spieleisenbahnartig immer wieder in den Berg, rein und raus und wenn der Zug lang genug wäre, könnte man vom letzten Wagen hinunter schauen zum Tunnelausgang, wo die Lokomotive herauskommt. Charles Bukowsky kommt mir in den Sinn. Seine humorig derbe Geschichte, in der er philosophiert, dass, wenn er nur gelenkig genug wäre, er sich selbst einen blasen könnte. Ob der Zugschaffner manchmal auch solche Dinge denkt? Ich meine, das Ende des Zugs im Tunnel verschwinden zu sehen, wenn er vorne rauskommt. Zürich. Kopfbahnhof. Unvorstellbar viele Gleise nebeneinander. Wir landen im falschen Zug, würden durchrauschen bis Genf. Nur die frühzeitige Ansage im Abteil rettet uns. Schnell raus. Von Gleis Vierzehn nach Gleis Achtzehn. Gemächlich. Dann Brugg. Der Grüezigraben, der mitten durch die Unterführung führt, die das Dorf Windisch mit der Stadt Brugg verbindet. SoSos Wohnung. Dunkel, kühl, trocken, sauber, keine Stechmücken. Ausbreitversuch zweier Wanderrucksäcke. Es gibt selbstgemachte Pizza.
Bushaltestelle Linescio Paese

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Kirche in Wassen beim zweiten Vorbeifahren, wenn man mit dem Zug von Süden passiert.

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