Dauer, Kalender und UmsLänder

Ich füge den Schlagworten dieses Blogs „UmsLandSachsen“ hinzu. Neben den vielen unerledigten und halbfertigen UmsLand-Projekten liegt mir Sachsen besonders am Herz, wobei ich keine Ahnung habe, was da auf mich zukommt. Nuja, ein bisschen schon: Die ersten etwa 200 Radelkilometer ab der Bayerischen Grenze listen etwa 5500 Höhenmeter. So viel wie das gesamte Saarland auf seiner Runde. Dann jedoch folgt ein Stück von etwa 550 Kilometern Flachland im Osten und im Norden Sachsens und zum Abschluss gehts mit moderaten Höhenmetern noch einmal etwa 400 Kilometer weit zu meinem als Start- und Endpunkt ausbaldowerten Bahnhof in Gutenfürst. Ich weiß nicht, ob dort Züge halten. Ich weiß ohnehin so gut wie nichts über das östlichste Bundesland. Nichts plus X: Erzgebirge, Leipzig, Dresden, Oder, Landmarken zumeist und einige Dinge, die mir Künsterfreund DerEmil im Talk mitgeben konnte. Also schon einiges …

Es bleibt erst einmal eine Skizze, wie ich auch die beiden Bundesländer Hessen und Baden-Württemberg auf meiner Liste der zu umradelnden Bundesländer habe (und auch schon uMaps dafür angelegt habe).

Hier die uMap UmsLandSachsen. Wann das Projekt stattfindet ist offen.

Projekte skizzieren ist immer gut. Es ist der Anfang. Das Bereitstellen von Möglichkeiten.

Nach dem letzten Blogbeitrag, in dem mir dämmerte, dass ich mich so gut wie nie um meinen Beruf kümmere, Kunst und Schreiben, habe ich mich ein bisschen am Riemen gerissen und wieder Zeit investiert. Dabei ist der Moorlander-Kalender 2026 entstanden und eben dieses Tuning zukünftiger UmsLand-Reiseprojekte. Wie sehr ich „raus“ bin aus meinem Beruf, wurde mir klar, als ich feststellen musste, wie mir die Software praktisch unter dem Hintern weg geupdatet wurde. Gimp, Inkscape und Scribus: glatt vergessen wie ich die für den Kalenderbau notwendigen Programme bedienen muss. Die uMap und OverpassTurbo sind nötig, um Landkarten zu skizzieren; auch da hat sich viel getan …

Nebenbei kam mir das Thema Dauer in den Sinn, als ich einen Getränkedosenrückgabeautomaten mit Getränkedosen fütterte und darüber wäre auch noch ein Artikel zu schreiben, also über Dauer, nicht über Getränkedosenrückgabeautomaten.

PDF Download Moorlander-Kalender 2026

Dieser Tage – Verbuddeln des seit Jahren Unverbuddelbaren

Dieser Tage. Also Anfang März, das sei für die Akten gesagt, falls Zukunft A eintritt. Dieser Tage fiel die Entscheidung für eine Radreise mit Open End und Open Ziel. Grob ist die Richtung, nordwärts, angedacht. Grob ist der 17. Juni als Starttag angedacht. Nein, ziemlich exakt.

Der 17. Juni ist ein besonerer Tag für den Radareisenden in mir. Er ist die Wiege meiner Radtouren- Leidenschaft. Die ersten Radreisen von der Nordpfalz zum Bodensee, gemeinsam mit meinem Vater und Freunden, starteten wir meist in der 17.-Juni-Woche, also um jenen ehemaligen Feiertag der BRD, der sich Tag der Deutschen Einheit nannte.

Der 17. Juni ist eigentlich zu spät, um mein – grob – geliebäugeltes Ziel zu erreichen, den Polarkreis bei Mitternachtssonne zu überqueren. Aber egal. Ich habe in den letzten Monaten geübt, suboptimale Lebens- und Arbeits- und Vorankommensbedingungen zu durchstehen. Ein Springen über den inneren Schatten des Perfektionismus, der mich mein Leben lang schon ausbremst. Und wenn es nicht der 9. Mai werden kann, die Tour ohne Ziel und mit offenem Ende nordwärts zu starten, so bin ich auch mit dem 17. Juni zufrieden und ich bin sogar damit zufrieden, einfach daheim zu bleiben. Denn ich habe genug erlebt. Alle Ziele sind erreicht. Es gibt eigentlich nichts mehr zu tun für mich als das Leben so gut es geht zu genießen. Und Neugier. Aber ohne Gestaltungswillen.

Das Ende des Gestaltungswillens ist auch ein Neuanfang, in eine Laissez-faire Phase einzutreten und sich von der Gegenwart überraschen zu lassen. Ja, vielleicht ist so das echte, tiefe, unillusorische, nicht von anderen Zeitmodi verstellte Erlebnis von Gegenwart erst möglich? Ich weiß es nicht.

Ich glaube, ich bin seltsam in einem Zustand guten Vorankommens. Selbst wenn ich auf der Stelle trete und mich an Kleinigkeiten aufhalte, treffe ich Entscheidungen oder lasse sie einfach fallen und handele danach, mache dabei Abstriche an mein Selbst an meine im Lauf der Zeit angewöhnten Ansprüche, an die So-sollte-es-seins. Das ist gar nicht mal so übel. Im Tausch Schluderei-und-weiter gegen stehen-bleiben und grübeln, wie ich dieses oder jenes Problem am einfachsten löse, komme ich unversehens voran. Es fühlt sich gut an, längst liegen Gebliebenes einfach zu erledigen.

Letzte Woche war sicher ein Meilenstein. Seit Jahren steht ein Wassertank im Hof der Frau Mama, den wir schon immer mal eingraben wollten. Also eigentlich sollte ich das tun. Ein 6,5 Kubikmeter großes schwarzes Monster. Die Modalitäten, wie es begraben wird, sind schon seit Anbeginn klar: Bagger mieten Loch graben, Monster rein, zuschaufeln. Aber mach das mal, wenn du es noch nie gemacht hast und nur eine vage Idee hast, wie es geht. In Gedanken habe ich das Ding schon hundert mal vergraben.

Dieser Tage zog eine wandernde Baustelle am Hof der Mama vorbei. Fünf Männer verlegten Glasfaser mit zwei Baggern, Rüttler, kleinen LKWs. Brachiale Kerle, die ordentlich ranklotzen. Also frag ich mich samstags zum Polier durch, ob sie nicht Kapazität hätten, mal eben schnell ein Loch …? Zack. Nachmittags nach der Schicht rücken sie an, und verbuddeln das Ding.

Das Verbuddeln der großen scharzen Monsters, des seit Jahren Unverbuddelbaren bringt eine Art Lawine ins rollen. Von Fleiß und Ehrgeiz gepackt nehme ich weitere kosmetische Operationen am einsamen Gehöft vor, und auch in der Künstlerei bin ich fleißig. Schneide einen Kunstfilm, räume Datenspeicher auf, rette den PC der Liebsten und und und. Ich kann gar nicht glauben, wie flott das alles geht. Fast gerate ich in einen Schaffensrausch. So müssen sich Bluthunde fühlen, wenn sie das Eisen im Saft riechen. Runter zum Waldrand, zwei im Winter bereit gelegte Eichenstämme hochschleppen, Brennholz, Brennholz, Brennholz immer wieder.

Ich will nicht zu sehr ins Detail gehen. Wichtig ist, dass vieles geschieht auf engstem Raum und in engster Zeit und auf einer zweiten Schicht meines Daseins gaukelt auch wieder die Reisekunstlust. Ja ja. Anfang März wurde der Grundstein gelegt, so vermerke ich es hiermit als Aktennotiz. Der Sommer wird zeigen, ob ich tatsächlich aufbreche.

Vermutlich bin ich gerade in einem quantenphysischen Wechselzustand, in dem mehrere Zustände gleichzeitig stattfinden, bis sich einer am Ende durchsetzt?

Wichtig ist, einfach drauflos, merke ich.

Das gilt auch für diesen Artikel, den ich nicht beabsichtigte zu schreiben, der mir eigentlich zu grob und unreif scheint, aber im Nachhinein muss ich sagen, klar wird der veröffentlicht! Wichtig ist doch auch, für die eigene Dokumentation zu arbeiten. Falls einem doch einmal etwas Bahnbrechendes gelingt, man plötzlich gefragt wäre auf dem Markt, sind die Chronistinnen und Chronisten froh, auch solche Tagebucheinträge zu finden?

Ich hab nichts zu verlieren. Das Blog ist frei. Niemand muss es lesen und nur einer, nämlich ich, muss es schreiben.

Dir, der Du bis hierher last, sei gedankt.

 

Fehler vierundzwanzig – Irgendlink on Error

Diese Szene vor ein paar Tagen im Metalabor*, nicht dass ich sie nicht schon hundert Mal erlebt hätte, nicht, dass ich nicht wüsste, worum es geht und wie es funktioniert. Diese Szene war symptomatisch. Für das Leben und den ganzen Rest. Dabei habe ich nur die Geschirrspülmaschine ausgeräumt. Das alte Ding zeigte Fehler 15, die Pumpe schaltete sich von Zeit zu Zeit ein, pumpte Luft oder Unpumpbares, schaltete sich wieder aus, ruhte eine Weile, pumpte erneut, bis jemand den Stecker zog, ein anderer bemühte eine Suchmaschine, um sie vielleicht zu reparieren. Doch darum geht es eigentlich gar nicht.

Fremde Küche eines Seminarhauses. An den Schränken sind Aufkleber, was wo hinein gehört. Hier die Tassen, dort die kleinen Teller, da die großen, da die Schublade mit dem Besteck und nun das Problem. Dieser eine Gegenstand, der sich nicht einordnen lässt. Minutenlang irre ich in der Küche umher, suche Wände, Decke, Boden, alle Schränke ab, wo der nichteinordenbare Gegenstand hingehört. Ich hänge fest in einer Schleife des Suchens und Nachdenkens, während die Spülmaschine immer noch halb voller Teller, Tassen und Gläser ist. Der Prozess des Spülmaschineausräumens, der so fluffig laufen könnte, wenn nicht das Problem, die Wand, das Unüberwindliche aufgetaucht wäre, dieser Prozess steht still.

Drüben im Gemeinschaftsraum lungern die Dudes**, plaudern und philosophieren. Der Tisch würde gedeckt werden wollen, denke ich, halte den Gegenstand in der Hand, betrachte ihn. Der passt nirgends hin, aber so lange ich ihn in der Hand halte, kann ich nicht weiter ausräumen. So lange nicht ausgeräumt ist, kann niemand den Tisch decken. Solange der Tisch nicht gedeckt ist, gibt es kein Frühstück.

Fehler 24. Irgendlink on Error. Jemand müsste den Stecker ziehen. Jemand müsste mich resetten. Jemand müsste eine Suchmaschine bemühen, um herauszufinden, was mit mir nicht stimmt.

Die Dudes werden ungeduldig. Sie murren. Sie murmeln. Sie beraten sich. Sie entsenden Q., um Kaffee zu holen.

Q. sieht mich und den Gegenstand. „Das da bitte nicht wegräumen, das gehört mir“.

Reset Irgendlink

Und die Spülmaschine?

Wir spülten mit Hand.


* Das Metalabor ist ein jährliches Treffen verschiedenster Menschen. KünstlerInnen, PhilosophInnen, ganz normale Leute. Wir diskutieren zu einem Thema, zeigen Filme oder machen Präsentationen. Das Thema des Metalabors neun lautete „Der Zeit wieder zur Dauer verhelfen“.

** Die Teilnehmenden des Metalabors sind die Radical Dudes, egal ob männlich, weiblich oder divers. Ihre Gemeinschaft, die Radical Dude Society entstand vor Anbeginn der Zeit.

Mein Beitrag zum Metalabor neun:


http://metalabor.org/

https://www.knotenpunkte.net/

Sinnierend in der Niemandszeit

Nachts um vier hellwach, runter zur Südterrasse, Mond starren. Es ist hell und kühl, nicht zu kalt; so stehe ich unterm Nussbaum und begutachte die Welt. Aus dem Traum habe ich den Gedanken ans nahe Ende mitgenommen. Leise schimmert die Stadt, kein Auto unterwegs auf der Landstraße, die sich zweihundert Meter weiter östlich zur Sickingerhöhe schlängelt. Wie oft ich schon hier stand, genau an dieser Stelle unterm Nussbaum, der sozusagen mit mir gemeinsam groß wurde. Wir sind krumme, verbogene Genossen, wir beiden, Weggefährten durch eine rapid dahin galoppierende, sich stetig voran ändernde Welt.

Im Traum hatte sich meine zu erwartende Restlebenszeit komprimiert auf die Zeitspanne, die passiert, wenn einer aus einem Traum aufwacht, dessen innerer Chronometer noch nicht den Tagrhythmus gefunden hat, und dessen Zeitempfinden somit bei vollem Bewusstsein im Traumzeitrhythmus tickt: sprich schnell, mit blitzartig dahin zuckenden Zehntelsekunden, in denen selbst Verschiedenstes harmoniert, mit nichtmessbaren Momenten, die sich an andere nichtmessbare Momente reihen und eine verrückte Sequenz aus Bildern, Geschmäcken, Tönen und Gerüchen vermischen zu einem dennoch schlüssigen Etwas, das man als Wirklichkeit annimmt. Alles passiert gleichzeitig und das ist gut so und es ist auch verstehbar – nur in diesen raren Minuten, die sich manchmal ereignen, wenn man erwacht, noch nicht richtig da ist im Bewussten, aber auch nicht mehr dort drüben im Unbewussten.

Zehn Jahre noch, dachte ich, zehn gute Jahre, Junge, also solche Jahre mit funktionierenden Beinen, Armen, Hirn und Innereien; zehn Zipperlein freie Jahre … vielleicht auch fünfzehn oder zwanzig … manche meiner Freunde sind auch mit achtzig noch topfit, aber hey, ich hab bisher noch keine Ausnahme erlebt, dass aus der Sache mit dem Leben einer lebend und von Zipperlein ungepeinigt herauskommt. Irgendwann hatte es bisher jeden erwischt. Ich bin mittlerweile in dem Alter, in dem auch die ersten Freundinnen und Freunde sterben oder siechen. Schlaftrunken sinniere ich unterm Nussbaum, den man einst versucht hatte auszurotten.

Ich weiß nicht, warum man nicht die Kettensäge benutzt hatte vor vierzig Jahren und ihn einfach abgeschnitten hat. Mitleid? Ein Versehen? Keine Kettensäge parat? Der Baum steht viel zu nahe beim Haus. Ein ziemlich verstümmeltes Etwas mit ineinander verschränkten Ästen, von denen man dem einen oder anderen ansieht, dass er einmal angebrochen war durch Menschenhand, dessen Bruch sich erholte, der Ast groß und stark wurde, aber mit Narben. Die Äste ragen schon übers Dach. Jeden Herbst, wenn die Nüsse fallen, gibt es ein atonal-rhythmisches Konzert von willkürlich prasselnden Nüssen auf Blech. Manchmal plumpst sogar ein Eichhörnchen aufs Dach, was eher dumpf klingt und gefolgt ist von bedröppelndem sich Aufraffen, dahin Tappsen übers Dach mit anschließendem Hechtsprung zum nächsten Zweig. Nüsse raffen, Nüsse raffen, Nüsse raffen und durchkommen durch den Winter. So das Leben eines Eichhörnchens und so auch meines.

Die Stadt liegt sanft im Tal. Bis vor zehn Jahren kam sie immer näher, wurden Baugebiete erschlossen, wurde die ehemalige Kaserne konvertiert, wurden die Truppen- und Lagergebäude abgerissen, das Areal in schicke kleine Parzellen eingeteilt, gerade groß genug für ein Einfamilienhäuschen und Carport. Die Enge kriecht geballt den Berg herauf. Neue Straßen entstanden, die allesamt den Namen US-amerikanischer Bundesstaaten tragen: California, Missouri, Oklahoma und wie sie alle heißen, bis hin zum finalen Straßenzweig, einer Sackgasse. Die Sackgasse ist das letzte Aufgebot der Landnahme. Ein Gewerbegebiet am Rande der Stadt, das nie bebaut wurde. Welch wunderbare finale Brache. Wie so ein toter Ast an einem alten Nussbaum, wie so ein fehlfunktionierendes Traumhirn, das ein paar Minuten mitten in der Nacht gelüftet wird und dem Denken freien Lauf lässt, ohne sich ins gewohnte Zeitkorsett zu zwängen.

Für gewöhnlich ist in der finalen Sackgasse freitagsabends immer etwas los. Dann trifft sich die motorisierte Jugend zum Quatschen, Kiffen, Trinken, Spaß haben. Vorglühen für das Wochenende in einem Etablissement am anderen Ende der Stadt oder in der nächstgrößeren Stadt oder noch weiter weg in einer riesigen anderen Stadt und sie kehren nachts zurück zum Hupen, Reifenjaulen, Rennenfahren auf den zweihundert Metern Sackgasse, in der nie ein Mensch sein Gewerbe ansiedeln möchte.

Am Rande der Stadt – also rein theoretisch, also wenn ich eine Stadt wäre – passieren dunkle Dinge jenseits der streng getakteten Zeitzone des Bewussten, wird mir klar. Unkontrollierbares lässt sich aus auf den wenigen hundert Metern Freiraum, die die Stadtväter und -mütter im Bauausschuss einst schufen, in der Hoffnung, ein Steurzahler, eine Steuerzahlerin kommt daher und lässt sich nieder.

Stille herrscht in dieser Nacht, absolute Stille. Ein Samstag. Bei Vollmond, leichtem Frost und jeder Menge Niemandszeit, die in keinem Buch der Geschichte auftaucht.

Jahr ohne Termin

Letzte Woche gegen Abend irgendwann. Ich setze einen Punkt im GPS, ungefähr achtzehn Kilometer von daheim entfernt. Luftlinie. Der Punkt liegt in Frankreich und man kann zu dem Punkt prima hinradeln – durchs Tal nach Hornbach und dann weiter entlang eines Rinnsals, ich glaube namens Schwalbach, immer nach Süden, bis man hinter einem Motorcrossplatz über zwei drei Berge ackern muss und zwei drei weitere kleinere Rinnsäler überqueren muss, ehe man an meinem markierten Punkt anlangt.

Was ist dort Besonderes? Etwa ein Schloss? Ein Geldspeicher? Eine Sehenswürdigkeit?

Ein Radweg. Dort ist ein Radweg, den ich letzten Frühling per Auto überquert hatte und mich wunderte, sieh an, ein nigelnagelneuer Radweg. Woher er wohl kommt, wohin er wohl führt?

Recherchen ergaben, dass es sich vermutlich um den grenzübergreifenden Radweg Pirmasens-Bitche handelt. Französische Bauart, schließlich ist mein Stück, das ich entdeckt habe ja in Frankreich. Mit schönen hölzernen Leitplanken und Pfosten, dort wo er die Straße überquert.

Seither liebäugele ich damit, mir den Weg genauer anzuschauen. Wie oft denke ich mich hinunter in die Regionalbahn von Zweibrücken zum Pirmasenser Hauptbahnhof, wo ich dann den Beginn des Radwegs suche und ihm folge bis hoffentlich nach Bitche. Das müssen gut vierzig Kilometer sein, schätze ich.

Und wie oft denkt mein Hirn dieses kleine Abenteuer zu nichte, indem es weiter phantasiert: und dann, in Bitche? Da haste keine Bahn, die dich wieder nach Hause bringt und wenn du nicht gerade die Hauptstraße radelst, sind es noch einmal vierzig Kilometer zurück, ganz zu schweigen von den vielen Hügeln, die dazwischen liegen.

Menschen, die auf dem Berg leben, sterben im Tal.

Dann kam mir die Idee, nur mal schnell zu dem besagten Punkt zu radeln, an dem ich den Radweg zum ersten Mal gesehen habe. Der, den ich in meinem GPS markiert habe. Von dort entweder nach Pirmasens zum Bahnhof, oder wieder zurück. Sollten nicht mehr als fünfzig Kilometer sein.

Ihr seht, wie erodierende Alpenströme haben meine Gedanken tiefe Schluchten in mein Hirn gegraben – und was hat das alles jetzt mit dem Jahr ohne Termin zu tun? Das wurde mir klar, als ich endlich losradelte. 

Verbarrikadierte  Kellertür mit Fenster, in dem sich das Haus gegenüber spiegelt
Wie verbarrikadiert stehen wir manchmal vor Hindernissen, nicht wahr haben wollend, dass dahinter eine weitere Realität existiert
 Wie sehr wir uns in einer eigentlich offenen und losen Welt doch immer wieder auf die selben wenigen Möglichkeiten einlassen, wie sehr wir unser zeitliches und räumliches Konstrukt durch Termine fixieren, so dass die eigentlichen Lösungen und Möglichkeiten, die tatsächlich vorhanden sind, gar nicht sichtbar werden.

Die Tour war klar abgesteckt, ich radele exakt die und die Strecke bis zu dem Punkt in 18 Kilometer Entfernung, schaue mir den Radweg an. Die Strecke ist schön und durch die viele Computerschufterei kann ich ein paar entspannende Radlerstunden brauchen, es sollte ohnehin nur etwa drei Stunden dauern, bis ich wieder zurück bin und wenn ich schon runter ins Tal radele, kann ich auf dem Rückweg bei genau dem Supermarkt noch einkaufen, ich brauche Brot.

Die ersten zehn Kilometer läuft alles nach Plan. Es gibt nur eine gute radeltaugliche Strecke, um Zweibrücken von Nord nach Süd zu durchqueren. Daran lässt sich nicht rütteln. Außerhalb folgt man am besten dem Bahntrassenradweg nach Hornbach.

Wie ich so dahinradele. Kanalisiert. Auf einem schönen geteerten Weg ohne Entrinnen.

Drüben am Waldrand gibt es einen ungeteerten Weg. Den hättste eigentlich auch nehmen können. Es hat lange nicht geregnet. Der fährt sich wie auf Mürbeteig.

Hornbach voraus. Schon fast 17 Uhr. Düstre Wolken von Westen. Bis zu meinem Punkt, an dem ich den Radweg gesehen habe sind es höchstens noch eine halbe, dreiviertel Stunde.

Das Hirn baut Berge.

Und es baut kühle Abfahrten.

Überhaupt, Frankreich, da hab ich keinen Datenpass.

In Hornbach gibt es mehrere Möglichkeiten, um zum Ortsausgang zu kommen. Vorbei an Spielplatz und Feuerwehr zum Beispiel, oder auch quer durch das kleine Klosterstädtchen, alle Strecken sind ungefähr gleich lang. Hinter der Stadt führt der Radweg weiter bis zur französischen Grnze und verläuft dort auf beinahe unbefahrenen Departementsstraßenwinzlingen. Sehr schön anzuradeln.

Ich nehme den Weg durch die Stadt und lande vor einer Bäckerei. Brot. Ich muss es nicht bei meinem Supermarkt kaufen, es ist ohnehin besser, hier in der kleinen Bäckerei einzukaufen, die Leute zu unterstützen und wahrscheinlich ist auch das Brot besser und überhaupt, es regnet vielleicht bald, komm, schau mal, da steht auch ne Parkbank, kauf Dir ne Bretzel, setzt dich ein bisschen hin, ruhe, die Berge, die da kommen sind steil.

Das ist aber eine ziemliche Abweichung vom Plan, denke ich mir. Und wenn ich schon mal dabei bin, abzuweichen, kann ich auch gleich ganz woanders hin fahren oder zurück, oder hier bleiben auf dem Parkbank mitten im Klosterstädtchen. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Hinter mir steht ein grünes Motorrad. Jemand parkt direkt vorm Eingang der Bäckerei, geht hinein.

Es wurde vermutlich noch nie ein Buch geschrieben, in dem sich der Held auf einer Bank gegenüber einer Bäckerei einrichtet, ein paar Jahre lang dort lebt und darüber schreibt, was so vorgeht in und um den Bäckerladen.

Ich denke über ‚Jahr ohne Termin‘ nach. So eine Art eins und eins zusammenzählen. Mein Termin heute ist der Ort, den ich mir auf meinem GPS markiert habe, die Radwegkreuzung irgendwo in Lothringen, um zu schauen, was das für ein Radweg ist.

Es ist ganz normal, dass wir Menschen Termine und Verabredungen machen. Das strukturiert unser Leben. Das macht das Zusammenleben erst möglich. Kaum einer von uns mag Termine, aber alle sind darauf angewiesen.

Das kanalisiert unsere Lebensströme, die ansonsten wild mäandrieren würden und das gesellschaftliche Zusammenleben in eine urwüchsige Sumpfwiese verwandeln würden.

Ohne Termine geht es nicht. Das ist mir schon klar, wie ich da sitze auf der Parkbank, Nusseck, statt Bretzel schmatzend, hinter mir ein grünes Motorrad, dessen Motor noch stinkt vom kürzlich erst gelaufen sein.

Das Jahr ohne Termin gaukelt mir schon seit ein zwei Jahren im Kopf. Ich hatte tatsächlich überlegt, einmal alle Termine abzusagen, Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Arzttermine, Verabredungen usw. und die Zeit zu versuchen in ihren natürliches Flussbett zurückzubringen, oder sie ganz trockenzulegen.

Das Jahr ohne Termin scheiterte daran, dass es ja eines Termins bedurft hätte, es zu beginnen und dass es logischer Weise auch einen Endtermin, 365 Tage später gehabt hätte.

Auf meiner Bank, von der aus ich den Bäckerladen beobachte und die Turmuhr fünf schlagen lasse, wird mir plötzlich klar, dass es gar nicht darum geht, im Jahr ohne Termin keine Termine zu haben, dass es auch nicht darum geht, das kürzlich gesteckte Ziel auf genau dem Weg zu erreichen, den ich mir zurecht gelegt habe und dass das Ziel auch nicht zu dem Zeitpunkt erreicht werden muss, den ich dafür angepeilt habe. Mehr noch, ich muss nicht in dem Supermarkt einkaufen, es gibt zig Supermärkte in der Stadt, ich könnte sogar in dem Supermarkt in Hornbach einkaufen und meine Lebensmittel die fünfzehn Kilometer zurück nach Hause schleppen. Ein verlockender Gedanke. Der Hornbacher Lebensmittelladen ist viel schöner, als mein Stammsupermarkt.

Plötzlich werden mir die vielen Alternativen bewusst, die sich ergeben, wenn man nicht stur auf die geplante Route, den geplanten Termin, die eigene Vorstellung von dem wie das Leben sich bitteschön zu entwickeln hat, richtet.

Und das alles nur einen Steinwurf entfernt, parallel. Unter der Oberfläche.

Ich radele zurück. Nieselregen geht nieder.

Nun, da ich dies schreibe – der Text liegt mir seit der Radeltour auf der Zunge – weiß ich gar nicht mehr, in welchem Supermarkt ich eigentlich eingekauft habe und über welche Strecke ich zurück zum einsamen Gehöft kam. Ich erinnere mich, dass ich intuitiv irrend durch die Gegend radelte und am Ende etwa dreißig Kilometer auf dem Tacho standen.

Der Kühlschrank war voll und das Brot aus der Bäckerei im kleinen Klosterstädtchen schmeckte ungemein lecker.