Die reinigende Kraft der Reise

Die letzte Woche vor dem Tourstart bricht an. Es gibt ja noch sooo viel zu tun. Oder ist es so, dass man mit zunehmendem Alter das Leben mehr und mehr in den Kopf verlegt, dass Absichten zu Gedanken werden und es auch bleiben, dass man den Hals nicht voll kriegt und sein Leben zurümpelt mit Zu-tuns.

Der Impuls, eine geordnete Welt zu hinterlassen, in der alles, was man im Kopf angereichert hat, seinen Platz gefunden hat, ist mir erstmals bei einem lang verstorbenen Onkel und einer lange verstorbenen Tante aufgefallen. Als wir das Haus leerräumten, fanden wir ein pikobello geordnetes Etwas vor, so als hätten sie  monatelang aufgeräumt und hingearbeitet auf ihren Tod – Beide starben  kurz nacheinander innerhalb weniger Monate. Sie hatten keine Kinder. Sie waren weder reich noch arm. Sie hatten einfach gelebt ihr gemeinsames Leben in einem Bauernhaus in einem winzigen Weiler.

Normalerweise kommt der Tod plötzlich, bzw. setzt einen zeitlich unter Druck und wenn wir dann sterben, hinterlassen wir unweigerlich ein Chaos individueller Dinge, angefangener Baustellen, fast so wie ich nun mit meiner Reise: es gäbe bei Leibe genaug Arbeit hier auf dem einsamen Gehöft, ich dürfte eigentlich gar nicht drei Monate lang wegfahren und durch die Welt scharwenzeln.

Wie ein kleiner Tod bei lebendigem Leib? Du hinterlässt die Fäden deiner Ideen und Träume. Wirr. Für niemanden ist nachvollziehbar, was etwa die Bleistiftlinien an der Atelierwand bedeuten, dass dort ein Podest geplant ist, ein riesiger Bilderlagerschrank, am Besten klimatisiert. Irgendwo unter dem Vordach liegen die Fichtestämme, aus denen er gebaut werden soll. Wer könnte ahnen, dass sie längst schon auf dem Traktoranhänger liegen, rein gedanklich, und zum Sägewerk ein paar Dörfer weiter getuckert werden? Ha, und dort drüben unter dem Kirschbaum steht der gedanklich schon längst fertige Pizzaofen. Der Zement liegt direkt neben dem Platz, an dem ich die Zeilen schreibe. Verpackt in Mülltüten.

Die Dinge bleiben einfach liegen, wenn wir sterben und die Dinge bleiben auch liegen, wenn wir verreisen, wenn wir den Lebensfluss künstlich umlenken, die Dinge bleiben eigentlich immer liegen. Warum mussten wir zu solch komplexen Wesen heranwachsen, die rein gedanklich in der Lage sind, vieles gleichzeitig zu – ähm – planen, aber in der Realität viel zu wenig Zeit haben, das alles auch wahr und sichtbar zu machen?

Zumindest mir geht das so. Manchmal komme ich mir vor wie die Spitze eines Eisbergs: oben ein winziges Etwas, was tatsächlich geschieht, aber unter der Oberfläche ein zerklüftetes Gebilde aus Gedanken, Träumen und Ideen, die, wenn sie Glück haben, irgendwann einmal zur Ausführung kommen.

Die reinigende Kraft der Reise. Reise, zumindest so wie ich es begreife, ist ja ein guter Kanal, um für eine einfache, lineare Struktur zu sorgen. In den Gedanken Plänen ebenso wie im Tagesablauf. Vielleicht färbt das aufeinander ab? Weil man nicht mehr daheim ist im normalen Alltag, entsteht eine beinahe lineare Struktur. Die einfache, langsam vorantreibende Kraft der Außenwelt, die man mit dem Fahrrad mit 10-20 km/h durchquert gibt einem Halt und Struktur. So kommt das Innere ein bisschen zur Ruhe. Eben habe ich das Zuhauseleben im Alltag verglichen mit so einer Art Kondensatorplatten, bzw., dass es mehrere Kondensatorschichten sind, die man im statischen Leben daheim übereinander geschichtet sieht und die Spannung haben, die aneinander reiben, einander abstoßen oder anziehen, je nachdem. Hier der Beruf, da die Familie, dort die materiellen Sorgen und Wünsche, da unterschwellige Ängste vor was auch immer. Im Reisekanal kann man all das harmonisieren und ableiten. Ich weiß das. Ich habe es selbst ausprobiert. Wichtig ist, dass man sich frei treiben lassen kann. Dass man sich möglichst keinen Reisestress in Form von Terminen und Musst-Du-gesehen-habens macht. Dass man die Dinge auf sich zukommen lässt. Ich glaube, viele Menschen, die heutzutage denken, sie reisen, wissen gar nicht, was Reisen tatsächlich bedeutet. Sie buchen ein Paket mit Sehenswürdigkeiten, die sie abklappern und setzen ihren Termintaumeltanz, den sie im Alltag führen nahtlos fort. Zwei Wesenswelten, von denen ich spreche, und ja, vielleicht ist es ein bisschen das, was ich 1995 bei der ersten Kapschnittreise las, dieses Haben und Sein Ding von Erich Fromm. Wenn Du immer nur im Trott weiter machst, weil Du es nicht ertragen kannst, dass eine kleine Welt – nur auf Zeit – stirbt, kannst Du deinen herkömmlichen Alltag nicht verlassen.

Gerade daran knabbere ich im Moment, weiß ich. Den Kunstwerkeschrank, den ich auf die Atelierwand gemalt habe, kann ich immer noch bauen, wenn ich im Oktober wieder im Lande bin. Ich kann eigentlich alles fortsetzen, wie ich es hinterlassen habe. Im Gegensatz zum echten Tod, der hoffentlich noch ein bisschen auf sich warten lässt.

Geschrieben im heimischen Garten auf dem Smartphone. Möge die Nachwelt mir meine Fipptehler verzeihen.

Memoiren

Kürzlich hatte ich eine Mail im Postfach mit dem schlichten Betreff „Memoiren“. Absender war mein Freund und Künstlerkollege Sven Schalenberg. Im Anhang zwei Dokumente und ein Jpeg-Bild, die sein Leben darstellen (danke Sven, für das Vertrauen). Skizzenhaft, nicht ausformuliert, hastig geschrieben mit etlichen Zeitsprüngen, themenbedingten Reisen durch das eigene Leben. Die Dokumente von zwanzig dreißig Seiten stellten das Leben einmal als Künstler, einmal als Privatmann dar. Das Bild – Schalenberg ist ein großartiger Maler – zeigte das Leben auf grafisch-malerische Weise mit Prognose, wie es womöglich weitergeht. Definitiv ein guter Entwurf für Memoiren, so dass ich dachte, warum bist du nicht berühmt genug, dass sich ein Filmteam deiner annimmt, oder ein Biograf. Wie es sich für große Künstler geziemt.

Auf seiner Webseite erfährt man in der Vita über den Künstler auch dass 1988 MS bei ihm diagnostiziert wurde. Sowohl in den Memoiren, als auch für diese frühe Reaktion, „inmitten des gelebten Lebens“ schon daran zu werkeln, spielt die Erkrankung eine große Rolle.

Wir denken eigentlich viel zu selten an das eigene Ableben. Marcel Duchamp hatte einst gesagt: „Es sind immer die Anderen, die sterben„. Der eigene bevorstehende Tod wird einem immer nur dann ins Bewusstsein gerückt, wenn man auf eine Beerdigung geht, oder selbst einen gesundheitlichen Schicksalsschlag erleidet. Dabei kann es fast jederzeit und überall passieren. Zack und weg und was dann, mit den angesponnenen Lebensfäden? Ich weiß nicht, ob es bei uns Künstlern und Schreibern „unvollendeter“ vorgeht, als etwa in einem Beamten- oder Fabrikarbeiter- oder Hausfrauenleben. Vielleicht ist Leben und das eigene Werk stets unvollendet? Auch wenn man nur motivationslos den ganzen Tag vor dem Fernseher liegt? Ich weiß nicht. Man dürfte nicht über die Innenwelten anderer spekulieren. Wer weiß, vielleicht schlummert im scheinbaren Nichtsnutz ein wunderbarer Philosoph, der insgeheim, Sitcoms konsumierend an der Weltformel arbeitet?

Bei kaum einer Berufsgruppe wird das sogenannte Lebenswerk so bildlich und deutlich dargestellt wie bei uns Künstlern (weil es nun mal bildlich zu Tage tritt). Kann ich das so sagen, ohne dass es überheblich wirkt gegen etwa die Vereinsvorsitzende eines Vereins zur Völkerverständigung, gegen den Modellbauer, der ein Leben lang an einer riesigen Modellbahn arbeitet?

Mein Nachbar, habe ich mir sagen lassen, schreibt auch gerade an seinen Memoiren. Von hunderten Seiten ist die Rede. Er ist 86 Jahre alt, körperlich und geistig ungewöhnlich fit. Es ist unwahrscheinlich, dass Freund Schalenberg, ja selbst ich, einmal so alt werden. Wir alle sind angezählt, aber im Gegensatz zum Boxkampf hört das Zählen nicht auf, weiß man nicht, wie weit bei jedem gezählt wird.

Auch ich denke seit 2009 (da war es mal echt knapp mit dem Weiterleben) über so eine Art Memoiren nach. Vielleicht ist das ein menschliches Bedürfnis, noch einmal zu erzählen, das und das war mir wichtig. Vielleicht ist es auch nur künstlerische Eitelkeit? Oder der Versuch, auf diese Weise dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Ob wohl dieses Blog taugt Memoiren zu sein, war zunächst die naive Frage. Seit 2001 entstehen hier mehr oder weniger persönliche, selbstdokumentierende Texte und Bilder. Sie balancieren hart am Rande der Wahrheit, obschon Monsieur Irgendlink stets fest und steif behauptet hat, dass er und ich, nicht in einen Topf zu tun seien. Dass er der Schauspieler ist auf der Blogbühne, der wie in einem Schattentheater das spielt, was ihm die Regie aufgibt.

Ein großer Unterschied zu Memoiren dürfte wohl sein, dass viele Texte in (m)einem Blog direkt aus der Gegenwart heraus entstehen. In den Livereisen sind sie meines Erachtens sogar so direkt, dass sie fast exakt den gegenwärtigen Status, die gegenwärtige Befindlichkeit des Erzählenden wieder geben. Wie schrieb ich einst: „eine Operation am offenen Herzen der Literatur. Kaum gedacht und erlebt und schon gebloggt“, ich nähere mich in meinen Blogtexten der Gegenwart auf ein nahezu unüberbietbares Maß, dass – wenn wir Menschen wären, die Gegenwart und ich – wir gegenseitig den Atem auf unseren Wangen spüren könnten.

Vielleicht muss im Zeitalter des Weblogs und der sogenannten Sozialen Medien auch einfach die Geschichte der Memoiren neu geschrieben werden? Die Erinnerung wird ersetzt durch ein direktes Mitdiktat des gelebten Lebens und du hast einzig das Problem zu lösen, bei diesem Mitschnitt so ehrlich wie möglich zu sein, denn auch das ist ein Unterschied zu den herkömmlichen Memoiren: Ein Blogger, der im blühenden Leben steht und weiß, dass man ihm bei seinem selbstdokumentierenden Tun über die Schulter schauen kann, schreibt anders, als ein Mensch, der im stillen Kämmerlein in der Nähe des eigenen Todes seine Erinnerungen auf Papier rettet.

Ich werde in diesem Blog nun eine Rubrik „Memoiren“ einrichten. Nur für den Fall, dass sich Vergangenes in den Mahlstrom meines Erzählens einschleicht. Memorierenswertes.