Jetzt, jetzt und nochmal jetzt! Das ist das Credo des modernen Bloggens, hart am Wind der unmittelbaren Gegenwart, kaum erlebt und schon im Netz. Die mögliche Zeitempfindung auf einen einzigen Punkt konzentrieren und versuchen, sich der Gegenwart so weit wie möglich zu nähern. Aber gibt es das Jetzt überhaupt? Unser Hirn verhindert das angeblich (aber es kommt verdammt nah ran). Es mischt Erinnerungen und Hoffnungen zu einem berauschenden Gebräu, das uns nur vorgaukelt, wir leben im Jetzt, obwohl wir stets in unserem Erleben und Empfinden einen Sekundenbruchteil dem Jetzt hinterherhinken. Haben wir womöglich gar keinen Einfluss auf unser Handeln? Schalten wir eine Stelle weiter in die virtuelle Welt, in der wir ja auch eine Unmittelbarkeitsvermutung hegen, so geht die Gaukelei weiter und es mischen sich noch weitere Substanzen hinzu in dieser höchst modernen Form der Alchemie. Wahrheit und Unwahrheit, die in den Kommentarsträngen der sozialen Medien aufeinander knallen, wie Krieg auf Basis von Gerüchten, Geglaubtem und arglos als wahr Angenommenem. Der moderne Blogger im Allgemeinen und der Livereisende im Besonderen ist Teil eines Verwirrspiels, schlüpft, gewollt oder nicht, in die Rolle eines lebenden Avatars, einer Abenteuerfigur, die für Couchpotatoes oder Überarbeitete und Gelangweilte erlebt, filmt, berichtet und sie ein gut Stück mitleben lässt in seinem – es steht ja im Internet, es ist wahr – kleinen, subjektiv zusammengeschusterten Leben. Das Dasein als lebender Avatar, als selbst ernannter Held subjektiv erlebten Alltags, bietet ein unglaubliches Potential. Nicht nur, dass man der Sehnsucht nach dem Jetzt hart auf den Fersen ist, man ist auch dem Produkt, das man schafft, sehr nahe. Und das in einer Zeit, von der man sagt, dass der produzierende Mensch sich immer weiter von seiner Arbeit entfremdet.
Schon Schlegel hatte es prophezeiht: der Burgenblogger dokumentiert sich selbst
Bloggen ist eine sich selbst dokumentierende Kunstform. Durch die Vielfalt der zur Verfügung stehenden elektronischen Mittel (Video, Foto, Sound, Text) entsteht ein unmittelbarer und durchaus miterlebbarer Bericht. Vielleicht ist es so ähnlich wie einst Friedrich Schlegel mutmaßte, ein Produkt, das dazu dient, das Produzierende darzustellen. Anfang des 19. Jahrhunderts bereiste der Schriftsteller das Mittelrheintal. Er gilt als bedeutender Vertreter der Rheinromantik. Kaum vorzustellen, dass die sechzig bis siebzig Kilometer lange Engstelle zwischen Bingen und Koblenz einmal ein beschauliches, stilles Stück Gegend war, das Tausende von Sehnsüchtlern anlockte. Rau und wild. Auf der Suche nach Abenteuer, Ruhe und gleichzeitig auf der Flucht vor der einsetzenden Industrialisierung, wandten sich die Rheinromantiker der Natur und der Vergangenheit zu. Das verwunschene, damals kaum erschlossene Mittelrheintal, dem sich zudem die Niebelungensage gut andichten ließ, war der ideale Ort dazu. Der Romantiker vor 200 Jahren, wurde durch eine abenteuerliche Fahrt auf einem schwer schiffbaren Abschnitt des großen europäischen Stroms belohnt. Burgen, Stille und viel Grün inklusive.
Das Mittelrheintal, Brücke „zwischen zwei Romantiken“
Und heute? Der moderne Mensch will vor allem eins: Von A nach B. So schnell wie möglich. Und noch eins: Südfrüchte, Fahrräder, Autos und Energie und somit will er auch, dass diese Waren transportiert werden. Noch immer ist das Schiff das Verkehrsmittel Nummer eins, wenn es darum geht große, schwere Lasten zu transportieren. Tag und Nacht im Einsatz, ist es nicht einmal ein so langsames Transportmittel, wie man vermutet. Ihm zur Seite kreischt die Bahn und unisono im Chor jault Gummi auf breiten, wohlasphaltierten Bundesstraßen. Schluss mit ruhig. Als Nadelöhr zwischen Nord und Süd hat der Mittelrhein ein schweres Los. So schnell wie möglich will man hindurch; und verweilen, so wie früher, will kaum einer mehr. Wenn man näher hinschaut, ist das aber auch der Trend der Zeit weltweit. Die Hatz von A nach B, von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit.
Rheinromantik 2.0 – die Fortsetzung der Romantik mit anderen Mitteln
Auf die kürzlich ausgeschriebene Stelle als Burgenblogger (die Bewerbungsfrist endet am 14. September) haben sich mittlerweile schon mehr als 300 Bloggerinnen und Blogger beworben. Kurzerhand aufgesetzte Twitter und Facebookaccounts spriesen wie Pilze aus den sozialen Medien. Videofreaks, Twittericonen und alle möglichen Derivate von Webexistenzen rangeln um den ruhigen Posten auf Burg Sooneck im Welterbe Mittelrheintal. Der Sturm vieler vor der Ruhe eines Einzelnen. Irgendwie ist das signifikant für die Schizophrenie unseres Seins.
Ich fürchte, die Rheinromantik 2.0 hat mit der Rheinromantik vor 200 Jahren nicht mehr viel gemein, wie auch die Welt selbst sich gewandelt hat. Schneller, schneller, schneller und mehr, mehr, mehr sind die Zauberformeln, nach denen wir heute leben. Wir müssen uns beeilen, rangeln, müssen bestehen im täglichen Konkurrenzkampf um Jobs, Materielles und Begehrliches.