Jahr ohne Termin

Letzte Woche gegen Abend irgendwann. Ich setze einen Punkt im GPS, ungefähr achtzehn Kilometer von daheim entfernt. Luftlinie. Der Punkt liegt in Frankreich und man kann zu dem Punkt prima hinradeln – durchs Tal nach Hornbach und dann weiter entlang eines Rinnsals, ich glaube namens Schwalbach, immer nach Süden, bis man hinter einem Motorcrossplatz über zwei drei Berge ackern muss und zwei drei weitere kleinere Rinnsäler überqueren muss, ehe man an meinem markierten Punkt anlangt.

Was ist dort Besonderes? Etwa ein Schloss? Ein Geldspeicher? Eine Sehenswürdigkeit?

Ein Radweg. Dort ist ein Radweg, den ich letzten Frühling per Auto überquert hatte und mich wunderte, sieh an, ein nigelnagelneuer Radweg. Woher er wohl kommt, wohin er wohl führt?

Recherchen ergaben, dass es sich vermutlich um den grenzübergreifenden Radweg Pirmasens-Bitche handelt. Französische Bauart, schließlich ist mein Stück, das ich entdeckt habe ja in Frankreich. Mit schönen hölzernen Leitplanken und Pfosten, dort wo er die Straße überquert.

Seither liebäugele ich damit, mir den Weg genauer anzuschauen. Wie oft denke ich mich hinunter in die Regionalbahn von Zweibrücken zum Pirmasenser Hauptbahnhof, wo ich dann den Beginn des Radwegs suche und ihm folge bis hoffentlich nach Bitche. Das müssen gut vierzig Kilometer sein, schätze ich.

Und wie oft denkt mein Hirn dieses kleine Abenteuer zu nichte, indem es weiter phantasiert: und dann, in Bitche? Da haste keine Bahn, die dich wieder nach Hause bringt und wenn du nicht gerade die Hauptstraße radelst, sind es noch einmal vierzig Kilometer zurück, ganz zu schweigen von den vielen Hügeln, die dazwischen liegen.

Menschen, die auf dem Berg leben, sterben im Tal.

Dann kam mir die Idee, nur mal schnell zu dem besagten Punkt zu radeln, an dem ich den Radweg zum ersten Mal gesehen habe. Der, den ich in meinem GPS markiert habe. Von dort entweder nach Pirmasens zum Bahnhof, oder wieder zurück. Sollten nicht mehr als fünfzig Kilometer sein.

Ihr seht, wie erodierende Alpenströme haben meine Gedanken tiefe Schluchten in mein Hirn gegraben – und was hat das alles jetzt mit dem Jahr ohne Termin zu tun? Das wurde mir klar, als ich endlich losradelte. 

Verbarrikadierte  Kellertür mit Fenster, in dem sich das Haus gegenüber spiegelt
Wie verbarrikadiert stehen wir manchmal vor Hindernissen, nicht wahr haben wollend, dass dahinter eine weitere Realität existiert
 Wie sehr wir uns in einer eigentlich offenen und losen Welt doch immer wieder auf die selben wenigen Möglichkeiten einlassen, wie sehr wir unser zeitliches und räumliches Konstrukt durch Termine fixieren, so dass die eigentlichen Lösungen und Möglichkeiten, die tatsächlich vorhanden sind, gar nicht sichtbar werden.

Die Tour war klar abgesteckt, ich radele exakt die und die Strecke bis zu dem Punkt in 18 Kilometer Entfernung, schaue mir den Radweg an. Die Strecke ist schön und durch die viele Computerschufterei kann ich ein paar entspannende Radlerstunden brauchen, es sollte ohnehin nur etwa drei Stunden dauern, bis ich wieder zurück bin und wenn ich schon runter ins Tal radele, kann ich auf dem Rückweg bei genau dem Supermarkt noch einkaufen, ich brauche Brot.

Die ersten zehn Kilometer läuft alles nach Plan. Es gibt nur eine gute radeltaugliche Strecke, um Zweibrücken von Nord nach Süd zu durchqueren. Daran lässt sich nicht rütteln. Außerhalb folgt man am besten dem Bahntrassenradweg nach Hornbach.

Wie ich so dahinradele. Kanalisiert. Auf einem schönen geteerten Weg ohne Entrinnen.

Drüben am Waldrand gibt es einen ungeteerten Weg. Den hättste eigentlich auch nehmen können. Es hat lange nicht geregnet. Der fährt sich wie auf Mürbeteig.

Hornbach voraus. Schon fast 17 Uhr. Düstre Wolken von Westen. Bis zu meinem Punkt, an dem ich den Radweg gesehen habe sind es höchstens noch eine halbe, dreiviertel Stunde.

Das Hirn baut Berge.

Und es baut kühle Abfahrten.

Überhaupt, Frankreich, da hab ich keinen Datenpass.

In Hornbach gibt es mehrere Möglichkeiten, um zum Ortsausgang zu kommen. Vorbei an Spielplatz und Feuerwehr zum Beispiel, oder auch quer durch das kleine Klosterstädtchen, alle Strecken sind ungefähr gleich lang. Hinter der Stadt führt der Radweg weiter bis zur französischen Grnze und verläuft dort auf beinahe unbefahrenen Departementsstraßenwinzlingen. Sehr schön anzuradeln.

Ich nehme den Weg durch die Stadt und lande vor einer Bäckerei. Brot. Ich muss es nicht bei meinem Supermarkt kaufen, es ist ohnehin besser, hier in der kleinen Bäckerei einzukaufen, die Leute zu unterstützen und wahrscheinlich ist auch das Brot besser und überhaupt, es regnet vielleicht bald, komm, schau mal, da steht auch ne Parkbank, kauf Dir ne Bretzel, setzt dich ein bisschen hin, ruhe, die Berge, die da kommen sind steil.

Das ist aber eine ziemliche Abweichung vom Plan, denke ich mir. Und wenn ich schon mal dabei bin, abzuweichen, kann ich auch gleich ganz woanders hin fahren oder zurück, oder hier bleiben auf dem Parkbank mitten im Klosterstädtchen. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. Hinter mir steht ein grünes Motorrad. Jemand parkt direkt vorm Eingang der Bäckerei, geht hinein.

Es wurde vermutlich noch nie ein Buch geschrieben, in dem sich der Held auf einer Bank gegenüber einer Bäckerei einrichtet, ein paar Jahre lang dort lebt und darüber schreibt, was so vorgeht in und um den Bäckerladen.

Ich denke über ‚Jahr ohne Termin‘ nach. So eine Art eins und eins zusammenzählen. Mein Termin heute ist der Ort, den ich mir auf meinem GPS markiert habe, die Radwegkreuzung irgendwo in Lothringen, um zu schauen, was das für ein Radweg ist.

Es ist ganz normal, dass wir Menschen Termine und Verabredungen machen. Das strukturiert unser Leben. Das macht das Zusammenleben erst möglich. Kaum einer von uns mag Termine, aber alle sind darauf angewiesen.

Das kanalisiert unsere Lebensströme, die ansonsten wild mäandrieren würden und das gesellschaftliche Zusammenleben in eine urwüchsige Sumpfwiese verwandeln würden.

Ohne Termine geht es nicht. Das ist mir schon klar, wie ich da sitze auf der Parkbank, Nusseck, statt Bretzel schmatzend, hinter mir ein grünes Motorrad, dessen Motor noch stinkt vom kürzlich erst gelaufen sein.

Das Jahr ohne Termin gaukelt mir schon seit ein zwei Jahren im Kopf. Ich hatte tatsächlich überlegt, einmal alle Termine abzusagen, Geburtstage, Weihnachten, Ostern, Arzttermine, Verabredungen usw. und die Zeit zu versuchen in ihren natürliches Flussbett zurückzubringen, oder sie ganz trockenzulegen.

Das Jahr ohne Termin scheiterte daran, dass es ja eines Termins bedurft hätte, es zu beginnen und dass es logischer Weise auch einen Endtermin, 365 Tage später gehabt hätte.

Auf meiner Bank, von der aus ich den Bäckerladen beobachte und die Turmuhr fünf schlagen lasse, wird mir plötzlich klar, dass es gar nicht darum geht, im Jahr ohne Termin keine Termine zu haben, dass es auch nicht darum geht, das kürzlich gesteckte Ziel auf genau dem Weg zu erreichen, den ich mir zurecht gelegt habe und dass das Ziel auch nicht zu dem Zeitpunkt erreicht werden muss, den ich dafür angepeilt habe. Mehr noch, ich muss nicht in dem Supermarkt einkaufen, es gibt zig Supermärkte in der Stadt, ich könnte sogar in dem Supermarkt in Hornbach einkaufen und meine Lebensmittel die fünfzehn Kilometer zurück nach Hause schleppen. Ein verlockender Gedanke. Der Hornbacher Lebensmittelladen ist viel schöner, als mein Stammsupermarkt.

Plötzlich werden mir die vielen Alternativen bewusst, die sich ergeben, wenn man nicht stur auf die geplante Route, den geplanten Termin, die eigene Vorstellung von dem wie das Leben sich bitteschön zu entwickeln hat, richtet.

Und das alles nur einen Steinwurf entfernt, parallel. Unter der Oberfläche.

Ich radele zurück. Nieselregen geht nieder.

Nun, da ich dies schreibe – der Text liegt mir seit der Radeltour auf der Zunge – weiß ich gar nicht mehr, in welchem Supermarkt ich eigentlich eingekauft habe und über welche Strecke ich zurück zum einsamen Gehöft kam. Ich erinnere mich, dass ich intuitiv irrend durch die Gegend radelte und am Ende etwa dreißig Kilometer auf dem Tacho standen.

Der Kühlschrank war voll und das Brot aus der Bäckerei im kleinen Klosterstädtchen schmeckte ungemein lecker.