Es hat beinahe schon Tradition, wenn ich in einer Stadt ankomme, dass ich die fremde Umgebung erst einmal zu Fuß, rund um das Hotel oder die Bude, in der man sich eingemietet hat, abklappere. Ist wie Revier markieren. Rurales Beinheben in der Großstadt. Per Mail und Facebook flattern minütlich Infos rein von in Berlin ansässigen Freunden und Freundinnen, was man so alles tun könnte. Ganz heiß sind die Tipps von der Hauptstadtethnologin, Frau Freihändig. SoSo setzt einen Kurs auf die Location, die sie empfiehlt. Nur 4,8 Kilometer zu Fuß. Halb so weit, wie von Hospental zum Gotthard (wo wir uns im Juli mit vollen Rucksäcken hinaufquälten – siehe Kategorie Projekt>Gotthard), zudem null Gepäck, Flachland. Landsberger Allee runter. Vierspurige Straßen. Kreischende Straßenbahn. Eisen auf Eisen, Krankenwagenmartinshörner. Riesige hunderte Meter lange Gebäude. Kreisverkehre, aus denen man nie wieder rauskommt, wenn man einmal auf die innere Spur gelangt ist. Dennoch genießen wir das Stadtflair. Eine Gegend muss nicht schön sein, um sie als schön zu empfinden. Eine Attraktion muss nicht attraktiv sein, um attraktiv zu wirken. Die Attraktion des Allgegenwärtigen. Irgendwo ragt der Fernsehturm. Irgendwo vermutet man die Siegessäule, das Brandenburger Tor, den Dom, das Holocaustdenkmal, die Hotspots des modernen Tourismus und wir spazieren durch Beton gewordenes Nichts. Vorbei an fünfstöckigen Mietshäusern, Nettomärkten, Spielhöllen. Ein uralter Friedhof. Janowitzbrücke, ein Streifen Spree inklusive Sightseeingboot unter uns. Ganz weit vorne das Haus vom Aufbauverlag. Da gehen wir rein und bleiben so lange, bis sie uns verlegen, sagt SoSo. Wir gehen rein, verschaffen uns Zugang zu einer Steckdose und schreiben live auf den Smartphones unser Buch und gehen erst wieder, wenn sie es gedruckt haben. Der große Berlinroman, der im Foyer eines Verlagshauses geschrieben wurde, Anfang Oktober irgendwann. So spinnen wir vor uns hin. Unser eigentliches Ziel, welches uns die Hauptstadtethnologin empfohlen hatte, liegt gegenüber vom Verlagsgebäude. Der Prinzessinnengarten. Prinzen- Ecke Oranienstraße. Kaum ein Hektar groß ist das Idyll, in dem zahlreiche Hochbeete aus alten Backwarenkisten stehen, Tomaten in Säcken wachsen, Erdbeeren aus Abwasserrohrkonstruktionen ranken. Ein Lindenwäldchen mit einer Art Volxküche, in der man im Garten gewachsene Gemüsesuppe essen kann, Kaffee und sich den Tee kurzerhand selbst pflücken muss im Kräuterbeet neben dem Tresen. Hier vergisst man glatt, dass außenrum drei Millionen Menschen ums Überleben in einer Wachstumsgesellschaft ringen. Der Garten hat sich innerhalb weniger Jahre, Internet sei Dank, zu einem Touristenmagnet entwickelt. Fünfundzwanzig Angestellte und unzählige Freiwillige arbeiten hier. Wäre das Säußeln der Stadt nicht, ich würde mich wie daheim fühlen.
Auf dem Rückweg durchstöbern wir einen Kunstbedarfsladen im Erdgeschoß des Verlagshauses. Ein Paradies ganz anderer Art. Wenn es außer Natur, Stille und Nichts etwas gibt, das mir das Gefühl von Paradies vermittelt, dann sind es Künstlerbedarfshandlungen mit ihrer mannigfaltigen Auswahl an Schreibutensilien, Papieren, Notizheften, Sketchbooks …
Den Rückweg bewältigen wir, die Taschen voller Malmittel, per U-Bahn und Metrolinien. Umsteigen am Alexanderplatz. Bis zu 10.000 Menschen kommen hier pro Stunde vorbei, so steht es suf einem riesigen Banner geschrieben. Wieder in der angemieteten Bude erhalte ich eine Mail vom Kino Babylon. Meine Bewerbung um zwei Freikarten für die Premiere des sechzigsten Tatorts mit Lena Odenthal und Mario Kopper kommt mir in den Sinn (Betreff: Mir bleiwe a net iweer Nacht, veschpoch!):
So ein Zufall! Da kommt man alle Schaltjahr aus dem hintersten Winkel der Pfalz mal in die Hauptstadt, um die nötigsten Besorgungen zu machen, die das örtliche Outletcenter nicht abdeckt und schwupp, Tatort-Premiere.
Zusammen mit meiner Schweizer Mitreisenden Sofasophia würde ich mich über ein warmes Plätzchen im Babylon sehr freuen.
Mir bleiwe a net iwwer Nacht.
Gewonnen. Wir sind Prinzessinen für einen Tag!
Auch SoSo berichtet.