Das Hirn ist schön. Das Hirn ist lieb. Das Hirn ist gut. Und Beton ist das auch.

Unendlich langsam komme ich voran. Es ist zum Heulen. Das Hirn widersetzt sich. Obschon, es ist ein gutes Hirn. Das Hirn ist lieb. Das Hirn ist schön. Das Hirn ist gut. So ähnlich stand es vor zwanzig Jahren an einer Brücke über den Rhein zwischen Mannheim und Ludwigshafen geschrieben. Ich kam von Mannheim, vermutlich per Rad und flanierte am Beton, worauf gesprayt war in großen Lettern: Beton ist schön, Beton ist lieb, Beton ist gut. Halbmeter hohe Buchstaben über zwanzig dreißig Meter verteilt, so will es die Erinnerung. Und ist das etwa nichts? Diese Erinnerung, so weit weg an Jahren, so unbedeutend, so nicht erinnerungswürdig eigentlich und doch hat sie sich gehalten.

Vielleicht bilde ich mir das alles nur ein?

Am Morgen fummelte ich fahrig auf Webseiten, installierte für die Radelgalerie, die ich dieses Jahr wieder in Betrieb nehmen möchte, eine Classicpress-Seite und versuchte eine andere eher wenig wichtige meiner Seiten in Classicpress zu verwandeln, scheiterte mit dem Verwandeln (weißer Bildschirm des Todes), hatte Erfolg mit der Radelgalerie und der Tag verging im Forschen darum warum das Verwandeln nicht geklappt hatte und im Versuch, die Radelgalerie schön einzurichten. Dort fehlt es nun nur noch an Inhalten. Nuja und dabei ist das Hirn gefragt. Wann waren nochmal meine spärlichen Aktionen mit der Radelgalerie? 2019? Oder früher? Es war Mai. Ich muss alle Maimonatsarchive im Bildarchiv absuchen und tatsächlich, werde fündig. Die Radelgalerie beim Straßentheaterspektakel in Zweibrücken. Bin unzufrieden mit den Bildern, hey und war ich nicht 21 in Saarbrücken mit der Galerie? September. Parkingday. Oder war das 2022. Covid, Du verflixter kleiner Hirnvernebler, Du elender Zeitverdrullerer! Vor Dir war alles so schön gefügt und chronologisch, aber seit Dir nur noch Matsch, Schmier, Verschiebung, Nebel …

Herrjeh.

So trete ich auf der Stelle und etwas lenkt mich ab und der Abend naht und ich verliere die Lust und eigentlich hätte ich sollen dranbleiben am Schreiben: Gestern liefs doch so gut mit der Geschichte „Wo Hotel“ – anderthalb Stunden und die Story war fertig, dann nur noch bissel Korrektorat – sowas könnte ich öfter gebrauchen. Immer. Jeden Tag. Verflixt! Ich rotiere von Idee zu Idee, Gedanke zu Gedanke, kaum die Muse etwas zu Ende zu führen. Daran muss ich arbeiten. Am Es-zu-Ende-bringen.

Dieses Jahr.

Ich hab kaum noch Zeit, ahne ich. Ne, fürchte ich.

Was ist denn der Unterschied zwischen Ahnen und Fürchten und sollte man darüber eine Abhandlung schreiben? Wer, wenn nicht ich? Wozu?

Heute: Mit dem Radel zum Reparaturcafé geradelt. Kaffee getrunken, Kuchen gegessen, geplaudert, zum Aldi gegenüber und wieder hoch mit den letzten KWH im Akku. Dabei einen Warmhandhack ausprobiert mit zerschnittener Isomatte über den Lenkerenden, die eine Protektion für die Hände bietet. Das war fein. Ich probierte eine Hand mit und eine ohne Protektions-Isomatte und siehe da, die mit, die war wärmer oder nicht so kalt und wenn es regnet, bringt die Isomattenprotektion vermutlich richtig viel, weil es dauert, bis die Handschuhe durchnässt sind. Ich Fuchs.

Eigentlich hatte ich im Hinterkopf, morgen nach Mainz zu radeln zu Freund QQlka, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren, bisschen schwätzen und sonntags wieder heim. Bloß: Ich krieg verflixt den Hintern nicht hoch. Dauert immer bis Mittag, bis ich warmlaufe, um mich im Irrgarten der Zutuns zu verirren. Es wäre sicher kein Fehler, mal raus, das Haus verlassen, klare Linie finden, Schritt für Schritt voran, statt auf der Stelle zu tippeln und hier dies und da das und nichts wird fertig.

So auch die Idee, nächste Woche ein erstes Mit-dem-Rad-zur-Liebsten zu wagen. Die Tour dauert drei Tage, also zwei Zeltübernachtungen im Elsass irgendwo. Die Strecke ist fast ausschließlich auf Radwegen und ich kenne sie in- und auswendig. Das Wetter soll ja schön werden, nachts kalt, trocken, nicht weniger als minus vier. Das wäre eventuell noch zeltbar, jaja und dann hätte ich, vom Zwang der Radreise diktiert, auch eine Struktur. Denk mal dran, liebes Jetzt-Ich, der du dies schreibst, wenn du dich morgen in ein ungeheuerliches Morgen-Ich verwandelt siehst und nicht mehr weißt noch ein noch aus ob all der Möglichkeiten, die auf dich einprasseln. Jetzt, jetzt und jetzt … also im morgigen Jetzt, nicht im jetztigen Jetzt.

War eigentlich als Privateintrag gedacht. Aber hopp, raus damit.


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Irgendwann zuletzt vor zwanzig Jahren

Der alte W., den ich nicht gut kannte, wohnte im letzten Haus rechts in der steilsten Straße des Dorfes, ganz hoch oben, so dass man es sich zwei Mal überlegte, ob man zum Spielen bei seinen Kindern vorbei schaute. Nur der Tennisplatz lag weiter oben, in einem alten Steinbruch. Auch wenn ich den alten W. seit über zwanzig Jahren nicht gesehen habe, bestürzte mich sein Tod. Auf dem Klo war er zusammengebrochen – zack, das Herz – seine Frau fand ihn morgens schon fast kalt. Am selben Tag, letzte Woche, starb auch H., den ich besser gekannt hatte, als den alten W. H. war noch kürzlich bei meinen Eltern zu Besuch nach einem langen Tag in der hiesigen Spezialklinik, den er wartend und bangend um sein Augenlicht in den altmodischen Fluren verbrachte. Ich hatte überlegt, mal rüber zu schauen und ihm und seiner Frau Hallo zu sagen, wie geht’s, was macht die neue Hornhaut, und ihm Mut zu machen, die schaffen das schon in der Klinik, die sind Spezialisten, aber der Abend war hektisch, ich hatte einen ach so wichtigen Termin. So kam es, dass ich H. an seinem zehntletzten Lebenstag nicht mehr getroffen hatte und erst per Telefon benachrichtigt wurde, dass der Tumor im Hirn, der ihn zusätzlich zu seinem lästigen Augenproblem zu weiteren Klinikbesuchen zwang, ihn zerfressen hatte. Das Kortison habe aus ihm einen Mann gemacht, den man kaum wieder erkannt habe, aufgeschwemmt, kaum fähig aufzustehen, zudem psychisch so am Ende, dass sein Gesicht kein Lächeln hatte. Da musste ich an den alten Sch. denken, den ich so gut wie nicht kannte, und der mir vor ein paar Jahren, nur wenige Wochen vor seinem Tod durch Hirntumor, sein altes Fotolabor geschenkt hatte, weil er sich frei machen wollte von jeglichem Besitz. Er verbrachte seinen letzten Tage im Bademantel, erinnerungsunfähig mit einer unvorstellbaren Kortisondosis und Morphium.
Der Winter 12/13 hat so viele gekostet, wie nie zuvor.
Eine Weile verbrachte ich letzte Woche damit, zu grübeln, wie schlimm das sein muss, zehn Tage vor dem Tod in einer Spezialklinik Lebenszeit auf den Fluren wartend zu verbringen und zu hoffen, dass man wieder sehen kann. Ich komme schließlich zu der Erkenntnis, dass der eigene Wille einem das Leben ganz schön schwer machen kann und dass man uns Menschen entweder bei der Eitelkeit packen kann, oder bei der Hoffnung, dass es sich zum Besseren wendet, dass am Ende alles gut wird. Ein Zehntel seines Restlebens verbrachte H. im Wartezimmer, bis Ärzte, Schwestern, Laborleute, ihren geheimen Tagesrhythmen gehrochend, ihn endlich durch den Klinikalltags-Loop schleusten. Ein Zehntel Restleben. Während der alte W., nichts ahnend, auf dem Klo, hochoben in der steilsten Straße des Dorfes, die unumstößliche Regel, Menschen, die auf dem Berg leben, sterben im Tal, zu widerlegen schien.
Die Kalkulation der eigenen kleinen Situation ergibt, dass ein Lebensjahr mittlerweile das Gewicht von einem Dreißigstel Restleben hat, also nun schon doppelt so viel wert ist, wie ein Jahr vor dreißig Jahren – so macht der eintrudelnde Lullifullifrühling kaum Spaß, obschon mich der Gedanke eine Nacht lang beschäftigt, dass irgendwann für jeden der Zeitpunkt ist, dass er einen anderen Menschen vor zwanzig Jahren zum letzten Mal gesehen haben wird und dass auch er selbst, aus vielen Perspektiven, zuletzt vor zwanzig Jahren jemandem begegnet sein wird – ich weiß, dieser letzte Satz ist holprig, und er macht auch vielleicht keinen Sinn, aber seine Lebenszeit damit zu verbringen, ihn zu denken, ist doch erhellender, als hoffend in einer Augenklinik zu warten.