To labour or not to labour

Bis drei Uhr wach. Das ist ruinös. Fühle mich wie durch den Wolf gedreht. Das freischaffende Künstlertum ist ein harter und sehr brotloser Job. Hatte eigentlich überlegt, heute Morgen mal wieder zum Arbeitsamt zu schaun, aber mit derart übernächtigten Augen? Ein Besuch beim Arbeitsamt ist eine angenehme Sache. Es ist wie Arzt. Es ist wie Vater. Es ist wie Gott. Es ist wie sagen: „Nu machmal.“ und sämtliche Eigenverantwortung drangeben. Paar Minuten starrst du deinen persönlichen Berater von der Seite an. Nur zwei drei Meter schuftet ein Mensch in einer Datenbank, die du zuvor selbst nach Jobs durchwühlt hast. „Nein, es gibt nichts in dieser Region.“ Es sei denn, du willst für eine Zeitarbeitsfirma als multifunktionaler Kunststoffdingeeinpacker von Fabrik zu Fabrik geschickt werden. Zu atemberaubendem Stundenlohn. Man sagt, das habe das Flair der Resozialisierung und es steigere das Selbstwertgefühl insbesondere von Langzeitarbeitslosen. Sklaverei ist es nicht.
Als mietfreier Bewohner eines einsamen Gehöfts, zudem ohne Auto und Bausparvertrag fällt mir die Wahl zwischen einem 4,5-Euro Kunststoffteilepackerjob und dem derzeitigen Null-Euro-privat vor sich hin wurschtelnden Content-Management-Systmebastler natürlich nicht schwer.

Mitten in der Nacht die Dateien für den Mainzer Kunstverein auf den Server übertragen und die, WordPress basierte, Vereins-Homepage eingerichtet. Ich schaute auf das Multifunktionsthermometer, welches mir Kokolores geschenkt hatte, spielte mit der Max-Min-Funktion, während die Daten dudelten. Im Hintergrund lief die Glotze. Ich glaube ich war glücklich. Es macht Spaß, die Dinge ins Rollen zu bringen und sich mit kniffligen Angelegenheiten zu beschäftigen. Heute Morgen steht die Gallery-Einrichtung an. Eine etwas kompliziertere Sache, die hier auf dem eigenen Rechner relativ einfach zu bewerkstelligen war. Aber draußen auf den Servern der Welt? Mit eingeschränkten Dateirechten?

„So wurschtelt man im Kreis,“ hat glaube ich einmal Konzeptkünstler R. gesagt, „man wurschtelt grundsätzlich im Kreis. Alle tun das. Niemand ist produktiv. Produktivität ist riskant. Man könnte dabei einen Fehler begehen und dann ist man seinen Job los.“

Die Kunst? Ach ja, die Kunst. Sie hängt derzeit in Paris in der kleinen feinen Galerie L’Omadis. Vielleicht mache ich heute Nachmittag einen Spaziergang. Das Tauwetter der letzten Stunden erlaubt es nun endlich, das erste Hidden-Art-Item zu vergraben.

Wie mühsam ernährt sich doch das Eichhörnchen im langen kalten, nienienie enden wollenden Winter am Rande eines Jahres, äh, öh, hmmm

Vom Wert des Menschen

Gestern wäre viel zu berichten gewesen. Ich erinnere mich, mehr oder weniger, den ganzen Tag am PC verbracht zu haben. Zwischendruch kam Konzeptkünstler R. zu Besuch. Er hatte seinen Kopf mit Moos und Flechten geschmückt. An der Wolljacke waren ganze Äste befestigt. So betrat er die Wohnung, setzte sich auf die Treppe und ich weiß nicht mehr wie, aber wir gerieten in Streit um den Wert des Menschen.
R. provozierte mich mit den Worten: „Na, noch immer Steuererklärung? Das wäre doch nicht nötig. Wenn alle so leben würden wie ich, bräuchte es solchen Quatsch nicht.“ Schon war ich versucht beizupflichten, fühlte mich aber durch seine Aussage provoziert. Ich schaltete auf stur.
– „Das Geld ist übermächtig,“ sagte ich, „wo du auch hinschaust ist Geld. Alles wird bewertet und umgerechnet. Du wirst wohl nichts Unbezahltes in dieser Welt finden.“
– „Aber es kann doch nicht sein, dass wir einem Schein wie Geld solche Bedeutung zumessen?“ zweifelte R. „Das ist nicht richtig. Wir sind doch Lebewesen.“
– „Auch wir lassen uns in Geld messen. Je mehr du verdienst, desto mehr bist du wert. Je besser deine Ausbildung ist, desto gieriger lecken sie die Finger nach deiner Arbeitskraft. Wenn man will, kann man grundsätzlich alles auf dieser Welt in Geld umrechnen. Jedes Ding, jede Dienstleistung, mehr noch: es gibt nichts Unbezahltes. Versteh‘ mich nicht falsch, aber siehst du hier irgendwo im Raum etwas, was nichts gekostet hat? Der Fußboden war teuer, die Tapeten und der Vorhang. Alles wurde irgendwann bezahlt.“
– „Was ist mit dem Schreibtisch? Ich erinnere mich, dass ich dir geholfen habe, ihn vom Sperrmüll zu holen. Der hat nichts gekostet.“
– „Nicht ganz richtig. Nur weil er mich nichts gekostet hat, muss er noch lange nicht nie etwas gekostet haben. Ich bin mir sicher, irgendwann wurde er einmal von Menschen für Menschen mit der Absicht der Gewinnerzielung hergestellt. Gekauft, bezahlt, benutzt.“
– „Wenn deine Theorie stimmt, dann wäre ein Mensch wie ich also weniger wert, als ein Mensch wie du. Ich habe noch nie für Geld gearbeitet.“ sagte R. enttäuscht.
Es schmerzte mich, dass ich ihn mit dieser Aussage getroffen zu haben schien.
– „Es ist ja nur eine Annahme, verstehst du. Ich meine dich nicht persönlich. Nach diesen Maßstäben bin ich selbst nicht gerade viel wert. Wir Freiberufler sind die hungerleidenden Betteltiere dieser Gesellschaft. Nicht wirklich gescheitert, fristen wir ein Schattendasein.“ Ich tippte ein paar Buchstaben in einem Textprogramm. „Aber theoretisch kostet jeder Buchstabe, den ich hier tippe Geld. Sein Wert errechnet sich aus den Gesamteinnahmen, die mir aus der Textgestaltung entstehen, geteilt durch die Anzahl der Buchstaben, Satz- und Leerzeichen. Ein A kostet Nullkommanullnullnullnochwas.“
Demonstrativ ließ ich den Finger von weit oben auf das A fallen. „Da! Da! Da und nochmal Da!“

AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA

R. fixierte einen Punkt im Nichts unweit des Telefons.

Wenn man uns so sehen würde, zum Beispiel mit den Augen eines außerirdischen Forschers, würde man sicherlich zu dem Schluss kommen, da sitzen zwei Lebewesen. Sie atmen. Sie transpirieren. Komplizierte chemische Prozesse, die man messen kann, ereignen sich in ihnen und um sie herum.
Dass zwischen uns auf dem Boden eine Ansammlung von Kassenzetteln lag und am Fenster eine Lohnsteuerkarte befestigt war, würde dem Forscher sicherlich Rätsel aufgeben: Ist es für das Überleben dieser Spezies wichtig, Papierstückchen nach einem bestimmten Schema zu sortieren und die Zahlen, die auf sie gedruckt sind tabellarisch zu erfassen und mittels komplizierter, vermutlich mathematisch gesteuerter Regeln zu sortieren?

Soweit ich mich erinnere, tippte ich genau die obigen Zeilen, während R. in seinem komischen Kostüm als Baum auf meiner Treppe saß. Das ist bizarr, dachte ich, das darfst du niemandem erzählen. Die Leute halten dich für verrückt. Tagelang verkriechst du dich in deiner Bude und was weiß der Geier was du tust, verplemperst deine Zeit in seltsamen Projekten, dann kommt ein schräger Typ zu Besuch, verbreitet modrigen Geruch in der Wohnung und zettelt einen Konflikt an zum Thema Wert des Menschen.
Das passt ha! Du bist selbst nichts wert. Wieviel hast du im letzten Monat verdient?
Und so weiter und so fort.

R. beobachtete mich, wie ich vor mich hin tippte. Er hatte, soweit ich weiß, nie eine geregelte Arbeit. Früher habe er Kunst verkauft. Eigene Werke. Riesige Gemälde, die so sehr Oil on Canvas waren, dass man sie unter dieser Bezeichnung sogar an Sammler in den USA verkaufte. Auch eine rotlippige Koreanerin habe zu seinen Kunden gehört.

Als ich R. vor drei Jahren kennenlernte, spazierte er nackt am Rheinufer und sammelte Steine. Er schichtete sie im seichten Wasser einer Sandbank zu einem gut anderthalb Meter hohen Stapel. Ein Monument der Vergänglichkeit. Hätte ich damals schon einen Satelitennavigator besessen, so hätte ich den Punkt wahrscheinlich eingemessen.
Der Steinstapel erinnerte mich an die Steinstapel, wie man sie in Island an exponierten Wegpunkten findet. Dort sind sie allerdings größer und dort werden sie nicht von nur einem Menschen gebaut, sondern sie entstehen aus dem Glauben, es bringe Glück, wenn man als Reisender einen Stein auf den Stapel legt. Die isländischen Steinstapel sind Ausgeburt gemeinschaftlichen Glaubens oder Aberglaubens.
Irgendwie kam ich mit R. ins Gespräch. „Warum baust du den Stapel so nah am Wasser?“ fragte ich. „Das nächste Hochwasser wird ihn wieder wegschwemmen.“ Da erklärte er mir seine seltsame Vorgehensweise: „Zunächst setze ich mich ans Ufer und beobachte. Das kann stundenlang dauern. Manchmal einen ganzen Tag. Bis ich den markantesten Punkt gefunden habe.“
– „Du meinst die Mitte des Bilds?“
– „Exakt. Und an dieser Stelle errichte ich das Monument. Es spielt keine Rolle, wie lange es stehen bleibt. Wichtig ist nur, dass ich das Monument an genau dieser Stelle errichte.“

Damals wusste ich noch nicht, dass dieser Steinstapel – er stand in der südlichsten Ecke des Fürstentums Liechtenstein mit Blick auf die Gegend der Schweiz, welche man Heidiland nennt – nur Teil eines gigantischen Kunstprojekts ist. R. bereiste den Rhein von der Quelle bis zur Mündung. Alle 50 km errichtete er ein Monument, stets in der Mitte des Bildes. Das Projekt zog sich über mehrere Jahre. Derweil führte R. das Leben eines Bettlers. Im o.g. Sinne des Wertfindens eines Menschen könnte man sagen, er habe in dieser Zeit den absoluten Nullpunkt erreicht, wenn nicht gar unterschritten. Keine Ahnung wovon er damals lebte. Er hatte einmal behauptet: „Ich nehme was der Fluss mir gibt.“

Ich bin mir nun, da ich dies schreibe, nicht mehr sicher, ob man den Wert des Menschen tatsächlich in Geld messen kann. Von außen betrachtet und mit den Maßstäben der Gesellschaft gesehen sicherlich ja. Aber je mehr ich über R.s Idee von der Mitte des Bildes nachdenke, desto mehr steigert sich das Gefühl fürs Unsichtbare. Für die Dinge, die noch im Dunst einer unbestimmten Zukunft warten und auch für jene Dinge, die längst in einer Wolke des Vergessens in der Vergangenheit zurück geblieben sind.