Tollmond

Noch immer geplättet von einer dreisprachigen Webseitengestaltung und dem Ausarbeiten eines neuen Kunstkonzepts, steht dem Künstler, moi même, der Sinn nach Wochenende. Die Risiken der feinen Künste sind dem „normalen“ Menschen (so es denn so etwas wie den normalen Menschen überhaupt gibt), wahrscheinlich nicht hinlänglich bekannt. Hauptrisiko: du bis immer im Dienst, wenn du Künstler bist. Dein korruptes Hirn ist ein gnadenloser Peitschenschwinger, der tagein tagaus auf dich einprügelt. Die Tage verschwimmen zu einer grauen Masse, in der es einerlei ist, ob Sonntag oder Werktag, Festtag oder irgendein kommerzieller Leerlauf mitten im Jahr. Wie besessen beißt du dich an Ideen fest, schläfst mit ihnen ein und das erste, was dir beim Aufwachen passiert, ist, dass du da anknüpfst, wo du abends aufgehört hast. Ein Trost hierbei ist, dass diese Arbeit Spaß macht.

These: Es gibt gar keine normalen Menschen. Jeder schleppt sein eigenes Bündel und argwöhnt, alle anderen, DIE da draußen, sind normal. Die Verschwörung der Normalen gegen das Ich. Was zur Folge hat, dass man versucht, aus der Masse der Normalen schwarze Schafe hervorzubeten und sie an den Pranger zu stellen. Was wiederum der ideale Nährboden ist für mittelalterlich anmutende Gerüchteköcheleien, die nur einen Fingerzeig entfernt sind von Hetzkampagnen, Scheiterhaufen, Verleumdungen. Komischerweise tat es ein bisschen weh, auf dem sozialen Mittelaltermarkt mit dem Designer-F die Unkereien zum neuen Regierungskabinett zu lesen, insbesondere über die designierte Arbeitsministerin, der man anlastet, sie habe noch nie selbst gearbeitet, sei immer schön Politikerin gewesen … tausendfach nachgebetet und von der einen Seite für gut geheißen und von der anderen Seite als Beschmutzung gesehen, bleibt unter dem Strich für fast hundert Prozent derjenigen, die darüber reden und Partei ergreifen die eine ignorierte Tatsache: DU WEISST ES NICHT.

Es ist faszinierend, wie schnell man sich ein Bild von etwas macht, das man persönlich nicht überprüfen kann und das somit – vor allem, wenn man weiß, dass die Mitmenschen nicht immer gute Ziele verfolgen und einen hin und wieder belügen – eine Wahrheit erschafft, die keine ist.

Wahrheit ist, wenn du glaubst, dass du weißt, glaubst du?

Falsch! Wahrheit ist erst, wenn du den Weg von der zu überprüfenden Sache zurück gegangen bist bis zur Quelle. Und wenn du die Quellen aller Seitenflüsse auch noch geprüft hast und sie persönlich gesehen hast. Übertragen auf das Amazonas-Gebiet, wäre Wahrheit also eine pure Utopie, weil man ein Gebiet so groß wie Europa erforschen müsste. Aber das ist irrelevant, denn der Amazonas ist vielleicht nur eine Erfindung … :-)

Wahr war der Mond wie er hinter einem Wolkenschleier schimmerte an jenem 16. 12. Spät radelte ich in die Stadt, um das Nötigste zu kaufen. Und im ewigen Takt der Pedale surrt das Hirn. Die Stadt – um halb neun abends fast menschenleer. Der Weihnachtsmarkt knieend zu Füßen der Kirche. Ein Trupp Hundetrainees, zwei Menschen gebückt über ihren Kontoauszügen vor der Schiebetür der Bank; für immer eingewintert die Außenbestuhlung vor einer Eisdiele wie von Christo verpackt. Mit jedem Tritt der Pedale wird das Gedankensurren in meinem Kopf leiser. Langsam den Reaktor runterfahren. Ich musste mich geradezu zwingen, das Haus – so spät, so dunkel, so kalt, so müde – noch einmal zu verlassen. Erst unten in der Stadt wurde mir klar warum: weil es mich beruhigt, weil das Radeln, das sich Bewegen, das das Haus verlassen die einzige Möglichkeit ist, Feierabend zu machen. Wieder kommt mir das Unken der anderen über die Ministerin in Spe in den Sinn. Wie können sie nur? Die kennen die doch gar nicht. Die plappern doch nur nach. Die machen doch genau das nicht, was schon in der Bibel steht, du sollst dir kein Bild machen. Neuzeitlicher, anders, aber gleich gefährlich, für wie es vielleicht einst gehalten wurde und weshalb man diese Weisheit niederschrieb. Dadurch, dass du dir ein Bild machst, machst du aus Mangel an Informationen automatisch ein falsches Bild. Alles, was Du nicht weißt, rankt sich als Speck um ein kümmerliches Skelett dessen, was du tatsächlich überprüfen kannst, du und dein unbedeutend kleines Wissen vom Universum und dem Rest.

Durch die Platanenallee am Schwarzbach radele ich Richtung einzig offenem Discounter. Vor einem Hotel breiten zwei Männer ihre Isomatten aus, machen komplizierte Sportübungen. Ich kann sie keuchen hören, während ich im düstren Licht der Straßenlaternen einen mit Filzstift geschriebenen Spruch auf einem Brückengeländer zu entziffern versuche. Ein zwei Meter langer Satz rankt sich diesseits und jenseits der Brücke auf dem Aluminium, schon mächtig von der Witterung angegriffen, so dass ich nur noch die Worte erkenne: „nur […] die Ente […] weiss“. Hindurch zwischen zwei Hundegassigängern wird mir plötzlich klar, wieso ich so allergisch auf die Marktgerüchte über die Ministerin reagiere: weil die Ministerin und ich das gleiche Schicksal teilen. Wir sind falsche Bilder, verankert in Köpfen normaler Leute. Wie oft höre ich, du Künstler hast es ja soooo gut. Kannst arbeiten, wann immer du willst und wie immer und Spaß macht es dir obendrein und du bist frei und – hier eine lange Kette von Worten und Eigenschaften, die man dem freischaffenden Künstlersein andichtet, wattegebettet – so gut möchte ich es auch haben. Bisher ist mir auf solche Kommentare noch keine schlüssige Antwort eingefallen. Die beiden Hundegassigänger grüßen – ich erreiche sie just an einem Engpass, so dass ich mich zwischen den angeleinten Hunden hindurchquetschen muss, Geknurre, Leinenzerren, ich komme mir vor wie eine Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Figur, die sich im Finale einer Schachpartie zwischen der schwarzen und der weißen Front hindurch schlängelt. Jetzt bloß keine Eins würfeln!

Später an der Supermarktkasse, an der die Verkäuferin gähnend dem Feierabend entgegen fiebert, schießt mir ein Wort in den Sinn: der Apokalyptische Käufer. Und ein Bild von vier apokalyptischen Käufern formiert sich von vier apokalyptischen Kassiererinnen, apokalyptische Warteschlangen mit Schwertern und Kreditkarten und Waagschalen … finde ich plötzlich die Welt in Ordnung. Das Lächeln der apokalyptischen Kassiererin wird erwidert vom Lächeln des apokalyptischen Kunden und beide sind sich so wohlgesonnen, das, was sie sich vom Leben des anderen vorstellen, nicht für bare Münze zu nehmen. Friedlich in den Feierabend driftend.

 

Birnbaum im Gegenlich des Vollmonds Sepiaton monochromBirnbaum vorm einsamen Gehöft in der Saarpfalz. Langzeitbelichtung bei Vollmond mit Gegenblitz, partiell weichgezeichnet.

Werbokratie

Ziemlich frustriert, weil ich nachts den Wecker auf neun Uhr gestellt hatte. Als er vorhin klingelte, einfach nochmal umgedreht. Somit müsste es jetzt halb zwölf sein.

Fakt ist jedoch, dass der Zweitwecker um sieben rasselte. Ein untrügliches Gefühl für die richtige Tageszeit scheint mir die Völle der Blase, die Gräue der Dämmerung, das Krähen des Hahns und noch so einiges – das Radio dudelt. Jetzt ist alles Fußball. Das Abdriften in die Werbokratie wird dieser Tage deutlich. Der Produzent putscht blutig gegen den Konsumenten. Jeglicher akustische, optische öffentliche Raum ist mit Marken gepflastert. Dreh- und Angelpunkt ist der Fußball. Man könnte sagen, die Werbung wird gleichgeschaltet. Jeder, der etwas auf sich hält macht in Fußball. Fußball ist ein knappes Gut. Fußball ist wichtig. Fußball ist gut. Fußball ist lieb. Ohne Fußball sitzt dein Haar nicht richtig. Ohne Fußball ist deine Verdauung gestört, alterst du schneller, wirst dick. Autos ohne Fußball sind nicht sicher. Versicherungen ohne Fußball kann man nicht vertrauen. Waschmittel ohne Fußball macht nichts weiß. Mobil ohne Fußball telefonieren ist sauteuer. Leg dein Geld bei Fußball an. Nur die Kartoffelchips von Fußball schmecken würzig knackig. Den Tatort solltest du dir von Fußball präsentieren lassen. Kauf deine Fußbälle bei Fußball. Und die Schuhe und die Socken. Nur Kondome von Fußball sind wirklich sicher. Massenunruhen wegen schmähender Fußballkarikaturen in Dortmund.

Wie kam ich jetzt auf das Thema? Wie oft musste ich Fußball schreiben?

Blogs ohne Fußball liest kein Schwein.

Kauf dich frei mit dem Einkaufswagen-Euro

Bei Aldi, wo mich ein pummeliges Mädchen verfolgte, Fisch, Wein und Butter kaufte und sodann, bei den Handys im Glaskasten, mit mir zusammenrempelte, wir uns entschuldigten.
Doch das tut nichts zur Sache.
Vor der Tür saß ein Bettler. Nein, er kniete und hielt einen Hut, in dem sich einige Münzen befanden. Weil der Bettler so jung war, konnte ich mir Gedanken wie: „Wieso arbeitet der nicht?“ nicht verkneifen. Kam schließlich aber zu dem Schluss, dass es in unserer Gesellschaft einfacher ist, zu arbeiten, als zu betteln. Will sagen. Er macht das nicht zum Spaß und nicht aus Faulheit. Sondern weil er keine andere Wahl hat. Man lässt sich ja so gerne von Äußerlichkeiten blenden. Wenn ein Bild zeigt: junger, gesunder Mann auf Straße hält Hand auf, ist man geneigt, zu krakeelen: „Der Penner, was tut der!? Soll was arbeiten!“ und so weiter und so fort. Das individuelle Schicksal bleibt auf der Strecke.
Ich hab mich oft gefragt, wenn ich einem Menschen begegnet bin, wie er just an dieser Stelle des Lebens landen konnte. Wie er so werden konnte, wie er in dem Moment, als er mir begegnete, wirkte. Egal um wen es sich handelte, egal ob reich oder arm, glücklich oder vom Pech verfolgt. Stets sah ich ein Abbild. Man könnte sagen ein Portrait. Nicht die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, das ist der Rattenschwanz an Erlebnissen und Verquickungen, die den jeweiligen Menschen bis hierher, bis direkt vor meine Augen gebracht hat.
Es ist die bösartige Fratze des Vorurteils und der Ignoranz, die einen die Bilder, die man sieht, so interpretieren lässt wie man sie interpretiert.
Wie dem auch sei.
Mit einem schmutzigen Einkaufswagen-Euro kaufte ich meine Gedanken frei, verstaute leckere Lebensmittel im Auto und fuhr zurück zum einsamen Gehöft.