Bis 12 Uhr Ortszeit trödele ich im B&B Areldee herum. Erster Stock, Zwischengeschoss, Hinterhof. Der Ausblick zur See ist mir nicht wichtig. Die Hinterhöfe, auf die ich blicke, haben etwas Trostloses. Wind zaust an den Bäumen, leichter Regen. Der prognostizierte Sturm kommt gegen Nachmittag. Ob ich das Zimmer überhaupt verlassen soll? Schreiben, telefonieren, schlafen. Mit dem Wasserkocher, der in jedem B&B und in jedem Hotelzimmer in England zu stehen scheint, koche ich Kaffee. Es steht immer ein Teller voller Teebeutel, Instantkaffee, bisschen Gebäck bereit.
Wie hart muss es einen Engländer treffen, wenn er bei uns Kontinentern in einem Hotel nur ein Päckchen Gummibärchen auf dem Kopfkissen findet? Allein mit der Minibar.
Als mir die Decke auf den Kopf fällt, ziehe ich die Regenkleider an, raus in den Sturm. Roker Lighthouse, der Leuchtturm auf dem zuvor geposteten Bild, ist ganz nah. Meterhoch schießen die Wellen über die Kaimauer. Ein Tor versperrt dem lebensmüden Touristen den Weg auf die Mole. Ich laufe Richtung Sunderland, direkt am Meer. Den N1-Radweg, den ich gestern bei der B&B-Suche verloren hatte, finde ich zehn Meter unterhalb meiner Straße wieder. Nicht auszudenken, wenn ich mich nicht verirrt hätte. Ich wäre unter dem B&B-Strich hindurch geradelt, raus nach Whitburn, immer am Meer entlang.
Wie schicksalhaft der gestrige Tag war, wird mir nun klar. Da oben müsste das andere Guesthouse liegen, in dem ich als erstes eingecheckt hatte. Nennen wir es die “Villa”. Es war das erste Haus, an dem ich vorbeiradelte. Ein korpulenter Kerl kommt gerade zur Tür raus und so frage ich nach Zimmer, in der Annahme, dass ein Haus dieser Lage doch ausgebucht ist. Immerhin hört man das Meer rauschen und aus dem Fenster im ersten Stock hat man bestimmt prima Aussicht. Der Kerl ruft den Host, und bittet mich herein. Ich soll das Fahrrad im Auge behalten, in dieser Gegend wisse man nie. Der Host torkelt aus dem Essraum, sturzvoll, Alkoholfahne, sehr freundlicher Kerl. Er könne mir ein Zimmer geben “En Suite”, also Dusche und Klo im Zimmer, 25 Pfund. Ich bin baff. Schnäppchen, Schnäppchen, Schnäppchen, greifense zu junger Mann, greifen se zu! Trotzdem ist mir die Sache nicht ganz geheuer. Das Treppenhaus riecht nach Säure, womöglich nach Erbrochenem und ein verschwitzter Kerl, der offenbar auch hier wohnt, kommt die Treppe herunter, um den Host etwas zu fragen. “Bin ich alleine in dem Zimmer?” – “Klar, sieh es Dir doch an.” Das Fahrrad holen wir zur Sicherheit in den Flur. Macht nix mit dem Schlamm und dem Schmutz … Im ersten Stock zeigt mir der Host das Zimmer, in dem drei Betten stehen. Es ist weder sauber, noch sehr schmutzig, ähnelt in gewisser Weise einer Herberge auf dem Camino, ist geräumig genug, um mein nasses Zelt auszubreiten. Röhrenfernseher. Das Türschloss ist herausgebrochen, trotzdem reicht mir der Host einen Schlüssel. Fürs Fahrrad zeigt er mir den Hinterhof, eine Müllkippe. In der Küche sitzt seine Frau vor Facebook am PC, die Katze streicht über die Tische im Essraum, in dem das Breakfast serviert wird und der Hund springt an mir hoch, leckt mir die Hand.
Ich weiß nicht, was mich geritten hat, einzuchecken. Schon trage ich meine Taschen aufs Zimmer, lasse mich auf einen Kunstlederstuhl fallen, der wie ein Behandlungsstuhl beim Zahnarzt aussieht. Analysiere die Situation: der Fernseher im Nachbarzimmer ist deutlich zu hören. Die Hauptstraße direkt vor der Tür ersetzt das Meeresrauschen. Das Fahrrad steht entweder unten im Flur unbewacht und wer weiß, wer hier spät nachts ein- und ausgeht, oder es kommt in den Hinterhof auf die Müllhalde und wer weiß, wer dort nachts ein- und ausgeht? Der Host ist ein netter Kerl, “und du hast ja gesagt, der Kontrakt ist besiegelt, breite deine Isomatte auf dem Teppichboden aus und schlafe diese eine Nacht hier”, sagt eine innere Stimme. “Es wird Sturm geben”, erwidert eine andere innere Stimme, “du wirst vielleicht Tage hier bleiben müssen.” Dass das Ding nur 25 Pfund kostet, ist sicher verlockend, aber für 25 Pfund womöglich eine Nacht mit Fußballfans zu verbringen, die bis in die Puppen feiern? Der örtliche Club hatte ein Heimspiel.
So steht die Zeit still, es ist fast 20 Uhr Ortszeit, die Nacht naht, Herr Irgendlink fasst den wahnwitzigen Entschluss, hinauszuziehen in den Sturm. Notfalls ein Campingplatz – in Whitburn gäbe es einen, fünf Meilen nördlich, sagt der Host. Er ist mir nicht böse. In seinem Blick lese ich, dass er weiß, wo er steht, dass das Leben es nicht gut gemeint hat mit ihm und seinem Hotel und der Frau und dem Hund und der Katze und der Gesamtsituation.
Der Sturm umzaust mich. Es ist halb drei tagsdrauf. Ich treibe fotografierend über die Strandpromenade Richtung Hafen und philosophiere über das Leben. Ein Hauch Nordseeluft erinnert mich an meine ersten Ferien am Meer, zusammen mit meiner Schwester und den Eltern auf der Insel Föhr. Das muss 1976 gewesen sein, oder früher, und ich habe dort meinen Ekel vor Krebsen erlernt und vor allem anderen Getier, das keine Knochen hat. Sandburgen gebaut. Ein glückliches Kind. Wie vielleicht auch mein gestriger Host einst eins war. Wie konnte es so weit kommen? Wieso sind nicht alle Menschen von Geburt an glücklich und bleiben es für immer, bis sie eines Morgens nicht mehr aufwachen? Naiv kindlich und sentimental treibt mich der Wind vorbei an Anglern, die in voller Regenuniform am Hafenbecken stehen und auf den großen Fisch warten. Ich fabuliere an einer Bloggeschichte, in der ich ein fiktives Sunderland entwerfe, in dem es genau zwei B&B-Häuser gibt, und die nie voll ausgebucht sind. Das heißt, sie dürfen es sich nicht erlauben, auch nur einen Gast zu verpassen, müssen froh sein, um jede Seele, die an ihre Tür klopft, und der sie Herberge geben können. Ein hanebüchenes Bild. Aber ich will ja die Entstehung von Kräften, von Bewegung, von Veränderung erklären, ich will die Entstehung an sich erklären. Beide Häuser sind gleich ausgestattet zum Zeitpunkt Null, irgendeinem Jahr soundsoviel, die genaue Zeit ist unerheblich. Dem Gast kann es zum Zeitpunkt Null vollkommen egal sein, in welches Haus er einkehrt. Weder ist das eine schmutziger, als das andere, noch ist es billiger, noch ist die Aussicht aufs Meer besser oder schlechter. So mag man einige Jahre wirtschaften in den beiden Häusern, ohne dass irgendetwas sich verändert, bis zu jenem Zeitpunkt, nennen wir ihn Eins, an dem das Kräftesystem aktiv wird, an dem es mit dem einen Haus wirtschaftlich den Bach runter geht und mit dem anderen Haus geht es aufwärts. Fast schon ein Bild, mit dem, man die Welt erklären könnte mit ihrer sozialen und materiellen Ungerechtigkeit: der Reichtum der einen bedingt die Armut der anderen. Die Armut der einen macht die anderen reich. Und alles nur, weil die gesamte Welt, ja, sogar unser Organismus, nach diesem Kräftegleichgewichtsprinzip funktioniert. Zunächst leben wir in einer ausgewogenen Weise, gesund, harmonisch, aber an einem schönen Tag, es genügt ein winziger Impuls, haben wir plötzlich nur noch Pech, fangen an zu trinken, um das Pech nicht mit ansehen zu müssen und finden uns ruckzuck in einer Endlosschleife abwärts wieder. Das Gästehaus “Villa” wird nicht mehr so oft gebucht wie das Gästehaus “Areldee”. Somit ist sein Host finanziell schlechter gestellt, kann nicht mehr renovieren, was wiederum weniger Gäste anlockt, was zur Frustration führt, weshalb der Host zu Trinken anfängt, um sich zeitweilig dem Frust zu entziehen und so weiter und so fort. In Areldee hingegen weht ein ganz anderer Wind.
Völlig perplex von meinen windzerzausten Gedanken, die ich in dem Moment, in dem ich durch die Hafenanlage zwischen Roker und Sunderland laufe, für ein grundlegendes Welterklärungsmodell, ach was, für ein Modell zur Erklärung allen Seins halte, stehe ich vorm Glasmuseum der Stadt. Trete ein. Wärme. Cafeteria. Essensduft. Griff zur Brusttasche. Schwer wiegt der Geldbeutel, geschmeidig die Kreditkarte. Der Sturm ist vergessen. Mein Alkoholiker-Host von gestern verblasst. Ich bin froh, auf dieser Seite des Lebens zu sein. Kaufkräftig, fähig, sich Wärme zu leisten, ein Essen, etwas Besseres, nicht das Beste, Mittelstand.
Nachdem ich die “Villa” verlassen hatte, stehe ich nur einen halben Kilometer weiter vorm Areldee. In der Tür hängt ein Schild „Vacancies”, Zimmer frei und gleich daneben bleckt ein Schild mit einem Fahrrad darauf und “C2C”. Der Coast to Coast Radweg führt über 140 Meilen von der Irischen See bis zur Nordsee und er endet feierlich in Sunderland. Es gibt sogar eine Stempelstation und die letzten Kilometer des C2C radelt man auf einem Planetenweg, auf dem die Planteten maßstabgerecht von der Sonne bis zum Pluto aufgereiht sind. Im Areldee, ganz in der Nähe des C2C-Finals, sind Radler willkommen. Peter, der Host, ist ein drahtiger, freundlicher Kerl, erzählt von seinem Schwager, der den C2C in einem Tag geradelt ist, teilt mir Zimmer 9 zu. Das letzte freie Zimmer. Nach mir dreht er das Vacencies-Schild im Fenster um und auf der Rückseite ist No Vacencies zu lesen.
Im Glasmuseum, in dem der Eintritt frei ist, betrachte ich eine äußerst spannende Ausstellung, die sich mit dem menschlichen Gehirn beschäftigt. In einem völlig dunklen Raum sind zwei sensible Röhren wie Gegenpole aufgestellt, wie guter Host, böser Host, wie gescheiterter und erfolgreicher Host, und zwischen den Röhren, die mit elektromagnetischen Sensoren ausgestattet sind, wird jede Bewegung der Besucherinnen registriert und ausgewertet. Je nachdem, was man tut, fängt einmal die eine Röhre an zu leuchten und zu summen, einmal die andere und so schaukeln sich die Kräfte hoch, entstehen wie aus dem Nichts, aus der Leere des Raums. Ein weiteres Kunstwerk ist ein Sechzehnmillimeter-Film aus dem Jahr 1967, der von dem kanadischen Künstler Michael Snow geschaffen wurde. Das ursprünglich fünfundvierzig Minuten dauernde Material hat er digital zerlegt und den Film übereinander gelegt – wenn ich es recht verstehe, wurde das erste Stück des ursprünglichen Films überlagert mit den rückwärts laufenden Bildern des letzten Filmspulenstücks, so dass eine fünfzehnminütige, konfuse Masse bewegter Bilder entsteht, die sich in der Mitte des remixten digitalen Films treffen.
Meine Lieben, dies mag ein konfuser Artikel sein, aber das Thema der Kräfte und deren Entstehung, und wie man sie ableitet, verändert, kanalisiert, auflöst, ist kein leichtes Lullifulligeblogge, glaubt mir. Seit Belgien arbeite ich an einem Artikel wie diesem, wusste bisher nur nicht, wie ich ihn aufzäume.
Es wird nicht der letzte sein.