Zwei Apfelbäume. Zwei andere Bäume mit für Menschen nicht essbaren Früchten. Eine auf Halbwüchsigkeit gestutzte Ligusterhecke. Drei Autos der Nachbarn vorm Gärtchen. Blau, silber-grün, weiß. Das Mietshaus gegenüber ist seicht-blau. Grauer Himmel deckelt das Bild. Die Dachrinne zur Rechten, zum Greifen nah, Wasser plätschert im Kupferrohr. Zwischen dem Mietshaus und dem, vor dem ich sitze, weitet sich die Welt, führt über ein ‚beidseits Parken verboten‘-Schild und die Mülltonnen auf fernere Häuser, die sich am Horizont im Nieselgrau verlieren. Fichte, Bettlaken, Schnick-Schnack, drei zur Unkenntlichkeit winterverpackte Koniferen. Neben dem Kreisverkehr lugt ein Dorfbrunnen. Ein Lieferwagen schleicht durchs Bild, verschwindet hinterm Haus, kehrt ‚umgedreht‘ zurück. Noch ein Lieferwagen, der ebenso umgedreht zurückkehrt. Da stimmt doch was nicht.
Wenn dies alles wäre, was ich von der Welt zu sehen bekomme, wenn ich stundenlang den tristen Weltenausschnitt zwischen den beiden gegenüberliegenden Häusern beobachten würde, tagelang, wochenlang, für immer, wenn weitere Lieferwagen durchs Bild führen und nach kurzer Zeit umgedreht in die andere Richtung zurückkehrten, läge es dann nicht nahe, irgendwo im Dorfdschungel hinter dem Häusern eine Lieferwagenumdrehmaschine zu vermuten. Vielleicht ein drehbares Stück Teer, ähnlich wie man es von Lokrangierschuppen kennt, auf das die Lieferwagen fahren. Dann setzt sich der Mechanismus in Bewegung und dreht um hundertachtzig Grad und sie kehren zurück auf ihrem Weg vom Woher nach Wohin.
Ich sollte einen Dorfspaziergang machen.
Brotjagd in Vernet-les-Bains oder willkommen im Ferienalltag
Diese Ferien, bei denen man auf’s Geratewohl ein Häuschen mietet, laufen immer ähnlich ab. Fast schon möchte ich von Ferienalltag reden. Spätabends Ankunft und das Domizil einrichten. Am ersten Tag dann Erkundung der Umgebung zu Fuß. So laufe ich gestern rüber ins Dorf, ganz Mann, ganz Jäger, um Baguette zu kaufen und ein paar Croissants, während SoSo die warme Bude gemütlich macht. Ein Katzensprung in die Steinzeit der modernen Reisegewohnheiten. Unser Appartementhaus besteht aus vielleicht sechzig winzigen Buden in einem dreigegliederten Bau, A, B und C. Außer dem unseren sind nur zwei drei weitere Appartements bewohnt, was auch gut ist. Das Haus ist ein hellhöriges Betongerippe, das zu einer Zeit gebaut wurde, als der schwimmende Estrich wohl noch nicht erfunden war. Jedes Stuhlrücken hört man. Ich fabuliere für meinen bauesoterischen Roman solch ein Haus, dessen Bewohnerzahl sich anhand des Lärmpegels selbst reguliert.
Die Brotjagd führt mich in den alten Ortskern jenseits des Flusses, der wie ein Ameisenhügel aussieht. Vernet ist ein verwinkeltes Etwas mit winzigen Gassen und Treppen. Ich steige dem Brotduft folgend empor Richtung Kirche, verliere die Witterung wieder, irre umher zwischen Hinterhöfen und unter diesen typisch französischen außenliegenden Verkabelungen, die so charmant improvisiert wirken und einfach ein Muss sind für ein authentisches Frankreichbild. Von oben erinnert mich das Dächermeer an ein zu klein geratenes Salzburg. Allein, es fehlen die Pferdedroschken und die lebenden Mozartstatuen. Das Dorf ist Erster-Weihnachtstag-still. Eine Frau mit Hund ist die Einzige, der ich begegne. Aus ihrer Tasche tropft Wasser. Wie ein Auto mit leckem Kühler keucht sie die Gasse hinauf. Als ich sie darauf aufmerksam mache, sagt sie, das muss so, c’est ça. Und sie zeigt auf den Hund, der hinter ihr her trottet. Die Bäckerei sei da unten, à gauche, à droite, wieder nach links und dann tout droite, immer geradeaus. Tatsächlich tut sich ein kleines Ortszentrum auf mit Bäckerei, Metzgerei, Tabak- und Zeitungsladen ty-pisch fran-zö-sisch, denke ich. Mir geht das Herz auf. Die Sonne, die Stille, die fremde Welt und der riesige Mont Canigou direkt hinter der Häusersilhouette, dieses Sontagsgefühl mitten in der Woche. Wie in die Seele katapultiertes Glück. Ich kaufe Baguette, knipse hie und da ein paar Straßenszenen. Die große Platane auf dem Marktplatz ‚frisst‘ nach und nach das Emailleschild mit den Marktöffnungszeiten, das man ihr vor vielen Jahren angenagelt hat. Zwei Gebirgsbäche schießen durch Vernet-les-Bains. Ich weiß nicht, wie sie heißen. Befestigte, fast schnurgerade Rinnen von etwa zehn Metern Breite, alle fünfzig Meter abgetreppt. Man ahnt, dass hier zu Schlechtwetterzeiten immense Kräfte wirken. Es gibt ein Casino und ein Thermalbad. Auf dem Rückweg in die neueren Dorfgebiete fühle ich mich eigenartig an das einst so florierende Kurstädtchen Bad Münster am Stein in der Nordpfalz/fast schon Rheinhessen erinnert. Ein leerstehendes Gebäude, vor dem ein Schild ‚Residenz‘ steht wirkt abrissbereit. Vernagelte Fenster im Parterre. Die Zeichen stehen, genau wie in Bad Münster auf Schrumpfen, auf Zerfall, Rückbau und Abriss. Was muss ich davon halten? Ich müsste recherchieren. Leute fragen, das Internet. Die Infotafeln, die über die Vergangenheit Auskunft geben übersetzen. Wovon lebt(e) man in Vernet? Aufstieg, Fall, Erneuerung … Recherche auf Livereisen ist ein ganz eigenes Thema. Man ist als erlebender Betrachter abgeschnitten von Information, obwohl man sich doch mittendrin befindet in der eigenen, sich selbst schreibenden Geschichte.
Auch Heiko Moorlander scheint übrigens in der Gegend sein Unwesen zu treiben
Frau SoSo bloggt auch, sozusagen im Duett.
Und zuguterletzt noch eine Bildcollage, gestern getweetet