Nordstrand ist tatsächlich größer geworden, seit ich 1992 hier campiert hatte. Nördlich des Fahrdamms ist ein riesiges Naturschutzgebiet „gewonnen“ worden, als man bei Deicherneuerungsarbeiten einfach die Abkürzung Richtung Hamburger Hallig genommen hatte, anstatt kurvenreich den alten Deich zu sanieren, erklärt mir Campingplatzbesitzer Paulsen. Vor einer Landkarte stehen wir und reden über die Gegend. Wieder einmal wird mir klar, wie flexibel das Spiel zwischen Mensch und Natur ist. Ich muss an die Überreste der alten Eselspfade im Jossefjord denken, die sich fragmentarisch, mit maroden Seilen markiert an den Steilwänden erhalten hatten; an all die Pyrenäen- und Alpenstraßen, die ich erradelt habe. In den Tälern sieht man eine vertikale Projektion menschlichen Ringens mit der Natur, hier im Flachland sieht man es in der Regel nur von oben. Es sei denn, der Mensch setzt Denkmäler. Oft sieht man Hochwassermarken an Häusern, kleine Striche mit Datum. In Husum, welches Ray und ich gegen 14 Uhr erreichen, hat man vor einem Museum mit einer Sonderausstellung zum Deichbau eine blaue Linie gemalt, die den Wasserstand zur Sturmflut, ich glaube von 1962, markiert. Zwei Meter hoch bis in den ersten Stock. Letzten Endes werden wir verlieren, denke ich und das Meer gewinnt. Das Meer ist einfach mehr, scherze ich, Wind auf zwei Uhr, keuchend durch die nicht sehr schöne Gegend raus aus Husum.
Sechseinhalb Kilometer später steht das erste „üwerzwerche“ Radwegeschild Deutschlands. Schräg zeigt es über einen Deich, auf dem eine Straße verläuft, in ein Privatgelände. Die Trasse durchquert den Hof und mündet in ein fünfzig Zentimeter breites Stück Pflasterweg, gesäumt von hohem Gras. Dem Deutschen fehlt offenbar das Grasmäh-Gen, das den Dänen allsommerlich hinter die Rasenmäher zwingt. Eine Simulation von Urwald, Orientierungslosigkeit. Hinter einer Hecke duckt sich ein Hinweisschild mit der Aufschrift „Witzwort“. Laut Karte liegt dieses Dorf fünf Kilometer abseits der Nordseeroute. Aus Mangel an Alternativen folgen wir dem Pfad, stoßen immer wieder auf Witzwort-Hinweisschilder, so dass ich Ray von meinen Verkehrsministern erzähle, denen ich auf flapsige Weise allen Bockmist anhänge, den die Kollegen Radwegebauer in den jeweiligen Ländern verzappt habe. Von einer Dynastie aus tollpatschigen Typen erzähle ich, deren Stammbaum sich zurück verfolgen lässt bis zu Marco Polo oder Odysseus – in Schweden habe ich den Verkehrsminister glaube ich Björn K. getauft, in Norwegen war es Sverre K. Die dänische Verkerhsministerin heißt Ulla K. Sie ist die einzig Helle in der Familie. Sie hat ihre Aufgabe gut gemacht. Bei den dänischen Radwegen gibt es nichts zu beanstanden, sind wir uns einig.
Nun Deutschland. Der Nordseeküstenradweg ist okay. Die Beschilderung könnte besser sein, insbesondere in den Städten. Witzwort vier Kilometer. Der deutsche Verkehrsminister heißt Dr. Karl Theodor August zu K., skizziere ich am offenen Herzen der flapsig erradelten Liveliteratur. Wir passieren schon wieder ein Witzwort-Schild, was mich auf die Idee bringt, eine Geschichte zu schreiben, in der der kleine, naseweise, K. T. August zu K., kaum des Namenschreibens mächtig, von einem schmeichelnden bösen Onkel überredet wird, seinen Namen unter ein Dokument zu setzen, alleine mit der Verlockung, na, mein Kleiner, kannst Du denn schon deinen Namen schreiben? Das Dokument ist nichts anderes, als die Bestellung für 666 Witzwort-Fahrradweg-Hinweisschilder. Machen wir uns nichts vor, Witzwort ist ein Kaff wie jedes andere in Deutschland. Nur ein naives Kind würde 666 Fahrradweg-Hinweisschilder kaufen, die auf ein Dorf mit vielleicht 500 Einwohnern hinweisen.
Kilometerweit radeln wir durch die Wiesen auf einem geklinkerten Pfad und finden nur Witzwort-Schilder, bis zu einer Kreuzung vor Uelvesbüll, wo der Herr Dr. sich erbarmt und ein einzelnes, verlorenes Nordseeküstenradwegschild aufgestellt hat. Kurz hinter Uelvesbüll stehen wir wieder im Nichts, fragen zwei Rentner, die gerade vorbei kommen, nach dem Radweg. Sie zucken die Schultern, schauen vor, zurück, rechts, links, kratzen sich am Kopf und zeigen Richtung Osten: Da fahren sie am besten die Straße runter, dann rechts nach Witzwort … Neeeeeiiiiin! Obwohl es im Flachland kein Echo gibt, hat ein imaginärer Toningenieur in diesen live geschriebenen Blogartikel ein gellendes Neeeeiiiin! eingebastelt.
K.T. August zu K. ist nun schlachtreif. Schnell skizziere ich vor Ray ein Szenario, in dem der deutsche Zweig der Familie K. sich im Krieg 1870-1871 in Frankreich das „zu“ im Namen verdient hatte, indem der alte Unteroffizier Ferdinand K., nur bewaffnet mit einem rostigen Bajonett, eine Kompanie Franzosen festgenommen hat. Vom Kaiser höchstpersönlich wurde der Kriegsheld ausgezeichnet und ein zweites T im Nachnamen hat er sich auch verdient.
Ray schaut mich fassungslos an, so als radele er neben einem Spinner, der ihm phantastische Lügengeschichten erzählt. Macht er ja auch. Wie heißt der schottische Verkehrsminister, fragt er. Den gibt es leider nicht. Die Idee mit den Verkehrsministern kam mir erst, als ich mich in Norwegen und Schweden über die miserable Radwegbeschilderung geärgert habe.
Hach, die Tücken der Liveliteratur. Wenn ich an einem „echten“ Buch arbeiten würde, könnte ich jetzt prima noch eine Maggie K. für England erfinden, eine toughe, unnahbare Lady, die ein strenges Konzept durchsetzt, das zwar das Land in den Ruin treibt, aber wenigstens einen perfekt beschilderten Radweg hervorbringt, die Nummer 1, das Aushängeschild. Den Schotten würde ich Willie nennen und er hätte einen Bart. Frankreich ganz klar Francois, in Belgien und Luxemburg bin ich noch unschlüssig, aber hey, so ist das nun Mal, ich kann nicht an dieser Stelle des Buchs einfach zurückgehen, und wild irgendwelche Lügengeschichten einflicken.
Kannst du nicht?, fragt Ray.
Der Wind trägt unser beider Gedanken davon, während wir nach Westen radeln, hinaus auf die Halbinsel Eidersted.
Ich kann nicht erklären warum, aber aus einer eher mäßig betrachtenswerten Gegend voller Wiesen, Getreide- und Maisfelder, die von Deichen durchzogen sind, wird mit einem Mal ein wahres Wunderland, dessen Friede sich auf die Seele legt. Ich muss an Kommentatorin Szintilla denken, die geschrieben hat, dass das ihre Wahlheimat war für lange Jahre. Ist es diese Nuance anders, dieser knapp ein Meter hohe Hügel dort links, kurz vor Garding, der es ausmacht, dass plötzlich alles wunderschön ist?
Irgendwo nördlich liegt Augustenkoog. Die Wiege der Clowns? Weiter südlich liegt ein Ort namens Welt. Ha. Wenn man sich sputet, kann man in ein paar Stunden Welt umrunden, einfach dem Radweg Richtung Sankt Peter-Ording folgen, ein bisschen in der größten Sandkiste der Welt, so heißt es im Touristenprospekt, spielen, dann auf der Südseite des Eidersted zurück, vorbei am Katinger Watt (vermutlich den Schildern Richtung Witzwort folgen).
In Garding um 19 Uhr ein Zwischenstopp, bisschen Fotografieren. Vielleicht kriege ich ja eine Szintilla-Bildtafel zusammen. Was schwer ist. Das Flachland hat, rein fotografisch gesehen, seine Tücken. Also zieht es mich automatisch dorthin, wo es Vertikales gibt. Häuser, Kirchen, Denkmäler. Garding wird saniert. Baumaschinen, Kopfsteinpflaster, aufgerissene Straßen. Abendstille. Tolle Türen und Hausnummern haben sie, und der strenge Mommsen starrt von seinem Sockel. Neunzehnhundertnochwas hat er den Literaturnobelpreis gekriegt, lerne ich. Ob es damals leichter war, den Preis zu erhalten, als heute? Wie lange es wohl dauert, bis ein Blogger, eine Bloggerin den Literaturnobelpreis erhält? Ich stell mich mal an.