Mit dem nächtlichen „rausjagen“ des Jakobswegbuchs bei Neobooks vor zwei Tagen weicht schlagartig jeder Druck. Der Weg ist frei für das neue Reiseprojekt. Plötzlich liegt wieder ein gutes Stück unformatierte Zeit vor mir, ein spannedes Geflecht an Verzweigungen, an denen die Entscheidungen, geht es nun rechts oder links, erst noch fallen werden. Fast komme ich mir vor wie ein Bildhauer vor einem Block Marmor, ehe er zum ersten Mal den Meißel ansetzt. Das Sich-heranschreiben- und -fotografieren an ein neues Kunststraßen- oder Reisekunstprojekt hat glaube ich schon ein bisschen Ähnlichkeit mit Bildhauerei. Was ist das Künstlerleben anderes, als immer wieder neu weiße Flächen bunt anzumalen, oder Hölzern und Steinen die Form abzuringen, die ihnen schon immer innewohnt. Genauso ist es mit der Entrealisierung realer Welten, indem man ihnen mit Worten oder Fotoserien zu Leibe rückt.
Ich radele zunächst die gleiche Strecke, die ich auch auf dem Nordseeradweg eingeschlagen hatte – quer durch Zweibrücken runter zum Hornbachstaden, der parallel zur Autobahn und zum Bach hinüber führt ins Saarland. Noch immer ist das Graffiti Schüsch ZW, das mich schon letztes Jahr an die Worte Tschüss Zweibrücken erinnerte, auf dem fünf Meter hohen Betonsockel, auf dem die Autobahn führt. Ein bisschen bunter scheint es geworden zu sein. Auch Graffiti-Maler sind wie Bildhauer.
Aus dem Garten eines Hauses höre ich hinter einer Holzwand Gezeter, klingt wie ein Streit. Ich stelle mir einen schmerbäuchigen Kerl vor, der seine Familie tyrannisiert. Da die Holzwand keinen Blick zulässt, hat mein Phantasiezeterer eine Bierflasche neben sich, nackter Oberkörper, Brusthaare, Plastikgartenstuhl. Nicht so recht passen zum Bild in meinem Kopf will der Satz: „Komm mo her mei Bu“, der sich tröstend offenbar an ein Kind richtet.
Die echte Welt endet an einem Bretterzaun in einem Zweibrücker Vorort. An einer Bushaltestelle knipse ich ein paar Ich war hier-Kritzeleien, Liebesschwüre, Beschimpfungen, die wohl von Wartenden daran gekritzelt wurden.
Dem Bliesradweg, einer ehemaligen Bahntrasse, folge ich bis Frankreich, ca. dreißig Kilometer. Die Konzeptfotografie – alle zehn Kilometer die Strecke in Fahrtrichtung ein Bild – ist eine Herausforderung wegen des Sonnenstands. Ich wende das selbe Prinzip an, wie auf dem Rückweg der Nordseerunde, fotografiere mehrere Filtereinstellungen und nehme auch den Rückblick mit. Noch ist das Konzept dominant, beschäftigt mich, lenkt mich ab. Ich weiß, dass sich das bald legt, und ich, ordentlich weichgeklopft, einfach nur reisen kann.
Ab Bliesebersing schlage ich mich über Landstraßen bis nach Wittring am Saarkanal durch. Streng geht es berghoch. Keine Minute zu früh (in der Mittagshitze wäre die Bergetappe womöglich im Herzkasper geendet) kurbele ich aufwärts. Die Achtzehnuhr-Glocken läuten. Der Berg ist vom Kaliber Zweibrücker Kreuzberg plus X. Eine deutsche Familie, auch radelnd, keucht vor mir her. Sie haben die gleiche Strecke. In Wiesviller warten sie an einer Kreuzung, an der kein Hinweisschild zu finden ist, um mir den Weg nach Wittring zu zeigen. Ab Wittring führt der Saarradweg auf alten Treidelpfaden topfeben am Kanal entlang. Kilometerweit durch Wiesen und Wälder. So knacke ich gegen Dunkelheit doch noch die siebzig Kilometer-Marke, liege trotz dem späten Start um halb drei nachmittags wieder ganz im geplanten Tageskilometerschnitt.
Die Lagerplatzsuche dürfte kein Problem sein. Kilometerweit frisch gemähte Wiesen. Bloß: da wummert irgendwo ein Fest im Wald, mit lauter, mutmaßlich deutschsprachiger Volksmusik. Auf der Suche nach einer ruhigeren Wiese gerate ich dummerweise in ein Naturschutzgebiet südlich von Mittersheim, in dem es keine Wiesen mehr gibt, sondern der Kanal durchfließt ein Seen- und Sumpfland. Es bleiben nur die Stellen direkt am Kanal, die wegen zu vermutenden Anglerverkehrs nicht gemütlich scheinen. Bei Schleuse Nummer elf werde ich schließlich fündig, obschon das mit der Volksmusik-Vermeidung ein Schuss in den Ofen war: hier wummert irgendwo im Wald die Neue Deutsche Welle. Major Tom dicht gefolgt von BAPs Verdamp lang her. Das Schleusenhäuschen ist eine Ruine – wäre ein Platz zum Übernachten, aber wegen der unzähligen Stechmücken bin ich heilfroh, dass ich das Zelt dabei habe.