Kautokeino, nicht matt #AnsKap

Dezember 1995

Gerade haben wir mit Ach und Krach die Wände in dem Kellergewölbe in der Mainzer Walpodenstraße weiß gemalt, die Überreste einer Pilzzucht auf dem Sperrmüll entsorgt, ein paar Ateliers und Proberäume und sogar ein kleines Tonstudio eingerichtet, alles eine langmonatige Art Work in Progress, bei der die Arbeit an den Räumen Hand in Hand ging und noch geht mit der Kunst, die wir darin schaffen. 

Mitradler Tim auf dem Weg nach Kautokeino radelnd. Straßenbild Eine handvoll junger Kunstschaffenderaus Rheinmain, meist aus Mainz und Wiesbaden. Das Kulturzentrum, das Mitradler QQlka da hat wachsen lassen machte Mitte der 1990er Jahre schon ein wenig Furore. Mit Ausstellungen wie mit Konzerten bis hin zu naja, so einer Art künstlerisch dekorierter Technoparties.

Der Kapschnitt war die zweite Ausstellung in dem hundertfünfzig Quadratmeter großen Raum.

Vom Eingang an den Wänden des Treppenhauses hinunter zwei Stockwerke tief hatte ich die dreihundertsechzig Streckenfotos, die ich im Sommer auf dem Weg zum Nordkap alle zehn Kilometer gemacht hatte auf einem grauen Band drapiert. Straßenfoto um Straßenfoto streng und ohne Kommentar. Im Galerieraum im zweiten Untergeschoss des Kreuzgewölbes mündete die sogenannte Kunststraße in einer etwa dreißig Meter langen, sich windenden carrerabahnähnlichen Konstruktion. Fünfzig Zentimeter breit, tischhoch auf Pfosten.

Die Besucherinnen und Besucher mussten die 3600 Kilometer ans Kap, die QQlka und ich im Sommer geradelt waren abschreiten.

Es war der erste Versuch, eine Straße als Konzeptkunstausstellung darzustellen.

Am Ende der Konstruktion mündete die Kunststraße in eine grafische Darstellung ihrer selbst, ein etwa zwei mal drei Meter großer Bauplan. Beinahe escheresk, fraktal, in sich selbst schließend.

An den Wänden gab es die ’schönen bunten‘ Szenen von unterwegs in DIA-Sandwichtechnik verfremdet. Von der Decke hingen Texte, per Nadeldrucker auf Endlospapier gedruckt mit Gedanken zum Reisen, zum Unterwegssein.

Einer von ihnen hatte den Titel Kautokeino-Matt.

Jetzt.

Ich weiß nicht, wie lange die Sonne derzeit täglich scheint über Lappland. Zwölf achtzehn Stunden? Den Sonnenauf- und Untergang kriegt man selten mit. Abends sitzt man um diese Zeit schon im Zelt und köchelt sein Essen, morgens fröstelt man im Schlafsack, bis sie endlich ein paar Strich über dem Horizont steht und die Luft wärmt. Sie scheint jedenfalls immer, wenn sie kann, die holde Gelbe.

Warm ist’s. Der Himmel wolkenlos blau. Auch mittags steht die Sonne nicht sehr hoch. Das gibt ein eigenartiges Licht, wie man es daheim nur im Spätherbst oder Winter kennt.

Seit zwanzig Kilometern bin ich schon auf den Beinen, habe die E8 gemeistert, in Palojoensuu am Abzweig nach Enontekiö vergeblich nach einem Laden geschaut und gerade bin ich am Vogelbeobachtungsturm vorbei geradelt, neben dem QQlka und ich 1995 frustriert im Regen zelteten.

Was heißt Regen? Wir fuhren in einer Wolke (wie Radlerkollegin Frau Rebis dies kürzlich in ihrem Blog so schön formulierte). Die Sicht war schlecht. Alles war nass. Gehetzt stierten wir auf die Karte. Noch vierhundert Kilometer bis zum Nordkap. Durchfroren waren wir. QQlka wollte sogar sein Fahrrad in eine der riesigen Mülltonnen neben einem Parkplatz stopfen.

Ungefähr an jenem Parkplatz treffe ich Tim aus München. Vollbepackter Reiseradler. Gerade wäscht er seine Socken, und sich. Wir quatschen ein bisschen, radeln gemeinsam weiter nach Enontekiö, kaufen ein, ziehen Geld, finden uns auf dem achtzig Kilometer Stück Straße nach Kautokeino wieder. Im Flug vergeht die Zeit. Hin und wieder zucken Erinnerungsblitze.War das nicht … hier bei dem Parkplatz hinter der norwegischen Grenze hatten wir doch auch … aber diese arktische Luft … eiskalt … jaaa … und Sonne kam raus gegen Abend, jeder Meter eine Qual. Ganz anders als heute.

Wir waren matt damals. Angespannt. Kopfschmerzen. Rückenschmerzen. Ein Ziehen in der Herzgegend. Zähne knirschend. Stress pur.

Mit Ach und Krach erreichten wir den Campingplatz in Kautokeino, eiskalte Übernachtung. Am nächsten Tag per Bus nach Alta. Kautokeino-Matt. Unterbewusst hatten wir längst entschieden, dass wir so schnell wie möglich heim mussten. Am Flugplatz Alta der nächste Flieger nach Oslo? In zwei Stunden. Fahrräder? No Problem.

Ich weiß nicht, ob ich diese frühe Geschichte mit dem Titel Kautokeino-Matt noch habe, gedruckt oder auf einer Diskette?

Von der alten Kapschnitt-Ausstellung ist kaum etwas erhalten. Vielleicht die wenigen Werke, die damals verkauft wurden?

Es ist alles nur auf Zeit, was wir tun und erstaunlicher Weise scheint die Erinnerung an Erlebtes, Erzeugtes, Dargestelltes weit mehr Bestand zu haben, als das, was man einst in ‚Echt‘ bestaunen konnte.

Und das ist auch gut so, denke ich gerade, schreibend, zwanzig Jahr später auf einem bequemen, grünen Stuhl in Lapplands kleiner Universität in Kautokeino.

Ganz und gar nicht angespannt. Ganz und gar nicht zielfixiert. Alles andere als matt.

Tag 66 | Norwegen − auf der Zielgeraden

Zweiländertag war auch heute wieder. Oder gar Dreiländertag, denn heute hat Irgendlink einen weiteren Nordkapradler, den 19jährigen Tim aus München, getroffen. Sie radeln seit heute Nachmittag zusammen. Kautokeino haben sie gegen Abend erreicht, durchquert und ein paar Kilometer danach ihre Zelte aufgebaut. Irgendwo im Nirgendwo.

Auf der Straße von Palojoensuu nach Enontekiö
Auf der Straße von Palojoensuu nach Enontekiö

Zur heutigen Tagesstrecke bitte hier → klicken.

 

 

 

Die Sorge, ein Eisberg, deren Gipfel ein Ereignis ist

Bei Regen verwandeln sich die Spurrinnen der E8 im Nordwesten Finnlands in kilometerlange längliche Pfützen. Tollplätze der LKW und rasanter finnischer Pickups. Fast drängt sich das Bild auf einer hundert Kilometer langen Wildschweinsuhle für Blechernes. Kein Wunder, dass vor zwanzig Jahren die Reiselust hier, so kurz vor dem Nordkap auf einen Nullpunkt sank.

Etwa hundert Kilometer radelten Freund QQlka und ich ab Pajala über die Hauptstraße nach Muonio und weiter bis Palojoensuu, wo endlich eine ruhigere Straße nach Nordosten abbog.

Es regnete in Strömen. Bei Regen hört sich das Schneiden von Gummi auf Teer noch viel kompakter, noch viel schneidender an, als es dies bei trockener Fahrbahn tut.

Unter einem Vogelschutzturm bauten wir erschöpft das Zelt auf und es war klar, die Tour ist zu Ende. Bloß noch raus hier aus dem weiten Nichts, das nur aus einer Straße besteht und ein paar krüppelwüchsigen Bäumen, Moos und viel Wolke um uns herum.

Gut, dass ich mich an den E8-Horror erinnerte, als ich vorgestern in Pajala vor der Wahl stand, den kurzen Weg über Finnland zu nehmen, oder etwa achtzig Kilometer Umweg über Karesuando und dann am Fluss nur gut 35 Kilometer E8 bis zu Verzweigung Palojoensuu zu radeln.

Die Straße 99 nach Karesuando auf der schwedischen Seite ist so gut wie unbefahren. Sie ist auch als Sverigeleden ausgezeichnet mit den bekannten grünen Radwegschildern, die mich seit Südschweden begleiten. Nicht nur sonntags, auch montags, sprich werktags tut sich da nichts – für Sie getestet.

In Karesuando ruhe ich eine Weile, lungere in der Touristinformation direkt an der Grenzbrücke und lümmele auf einer Parkbank vor der Kirche, schicke ein paar iDogma-Postkarten durchs schnelle schwedische Netz. Von Stechmücken keine Spur. Strahlend blauer Himmel. Windstille. Immer mehr zweifele ich am lappländischen Mückenmythos.

Klar war es eben noch, vor etwa dreißig Kilometern da hinten in den Niederungen im Niemandsland ziemlich nervig, anzuhalten und die zehn-Kilometer-Streckenfotos zu schießen, aber selbst das war nicht so, wie ich es mir im Kopf zurechtgebaut habe mit den Stechmücken.

Unerträglich.

Lästig.

Nicht auszuhalten.

Die Sorge ist ein Eisberg, deren sichtbares Ende ein Ereignis ist – so winzig wie der Gipfel eines Eisbergs eben.

Auch die E8-Sorge ist groß in meinem Kopf. Gegen halb fünf nachmittags radele ich endlich rüber und … finde mich auf einem erträglichen, aber sehr engen Stück Landstraße wieder. Mäßiger Verkehr, zudem nicht zu schnell. Etliche LKW. Der Münchner Radler, den ich in Pajala getroffen hatte, könnte recht haben: alle Minute ein LKW. Auch wenn es nun, gegen Feierabend, bei mir nur etwa alle fünf Minuten einer ist. LKW sind grundätzlich unheimlich.

Nach etwa dreißig Kilometern stellt sich mir dieser wunderbare Lagerplatz in den Weg. Eine kleine Anhöhe direkt am Fluss in einem Wäldchen. Goldenes, ewiges Abendlicht. Hier muss ich einfach bleiben. Noch zehn Kilometer sind es bis zum Abzweig von der Hauptstraße. Ich riskiere das, sie erst am nächsten Tag, womöglich bei viel Verkehr zu fahren.

Badestelle. Wäsche waschen. Mich waschen. Herz, was willst du mehr? Und: so gut wie keine Stechmücken.

Die Geschichte des Mythos Lappland Mückenland muss wohl endgültig neu geschrieben werden. Ein Blick hinüber auf die schwedische Seite: radeltest du nicht vor ein paar Stunden ebenda durch die Niederungen und fluchtest über die vielen Insekten, Herr Irgendlink?

Abends rollte noch ein Kühllaster auf den Parkplatz unweit meines Lagers, nerviges Kühlaggregatebrummen. Willkommen zurück in der Zivilisation. Ein paar Wohnmobile parken auch auf dem Platz und das Schild an der Tür zum Plumpsklo hat ein Einschussloch. Die Besitzerin der Fischerhütte, die dirkt daneben steht, und in der man theoretish Kaffee trinken könnte, wenn offen wäre, kommt herangebraust, springt aus dem Auto, nickt. Ihr Pudel markiert erst einmal das Revier. Alleine bin ich hier nicht.

Nun, um 5:15 finnischer Zeit, die Finnen sind uns Resteuropäern um eine Stunde voraus, kommt die Sonne raus, vertreibt den Nebel, der über dem Fluss hängt. Die Straße ist noch ruhig. Ich bin unruhig, vermute mehr LKW ab etwa 7 Uhr.

Eigentlich wollte ich einen Artikel über weltweites Grundeinkommen und Urheberrecht schreiben, aber dafür baut mein Hirn gerade zu sehr an dem Sorgeneisberg der zehn Kilometer E8, die mir noch bevorstehen.

Packen. Losfahren, es hinter sich bringen.

Tag 65 | In Finnland frisch gebadet

Was für ein toller Wildzeltplatz! Dazu ein erfrischendes, nicht mal soo arg kaltes Flussbad und kaum Mücken. Und als Sahnehäubchen sogar schwedisches 3G-Netz.

Radlerherz, was willst du mehr?

Wildzeltplatz in Käsivarrentie | Finnland
Wildzeltplatz in Käsivarrentie | Finnland

Das also ist Finnland. Auch Finnland.

Die heutige ungefähre Tagesstrecke findet ihr, wenn ihr hier → klickt.

Die Tagestweets dürft ihr heute mal wieder selbst entdecken. Ihr könnt das, wenn ihr nur wirklich wollt. Denn wie immer gibts da was Feines zu lesen. Hier → gehts lang zu Irgendlinks Zwitscherwelt.

Tag 64 | Kiruna oder was?

Schweden ist doch immer wieder für eine Überraschung gut. Heute zeltet Irgendlink nämlich in Kiruna. In der lappländischen Großstadt. Da bist du also in der Stadt, merkst es aber nicht? Und bis zum Zentrum sind es noch über 200 km. Aber du bist da. Bist irgendwo im Nirgendwo, das Kiruna heißt.

Ein eingestürztes Häuschen am Torneälven. Blick Richtung finnische Flussseite.
Ein eingestürztes Häuschen am Torneälven. Blick Richtung finnische Flussseite.

Heute hat sich Irgendlink wieder ein Stück näher an das Stück Finnland, das er bald durchqueren wird, geschafft, denn so ganz ohne Finnland kommt er nichts ans Nordkap. Aber hoffentlich ohne den befürchteten Vielverkehr und Lautverkehr!?

Zur ungefähren heutigen Strecke geht es hier → lang.

Und ein paar Tagestweets gibt’s heute auch …