Die schönste Straße der Welt erschien mir im Traum. Von einer verwinkelten Stadt am Meer und in den Bergen zugleich, und zu Füßen eines Schlosses, das an der Loire liegen könnte, führte sie in Richtung meines Ziels, das ich unbedingt erreichen wollte. Weshalb ich mich beeilte und weshalb jedes Foto, jede Notiz, jeder Versuch, den Moment und die Schönheit des Orts und der Straße festzuhalten, scheiterte. Die Fotos waren verwackelt, denn immer, wenn ich den Auslöser des Fotoapparats betätigte, ruckte ich, drehte mich auf dem Absatz, rannte weiter. Eine Kolonne von Autos, die einem Gespann hinterherzuckelten, kam mir auf der engen schönsten Straße der Welt entgegen, so dass ich mich mit dem Rücken an die ockerfarbenen Felsen presste. Ich könnte trampen, dachte ich, hielt den Daumen raus, aber in meine Richtung war niemand unterwegs. Die kleine Gebirgsstraße schlängelte sich wie ein Kanal durch die Felsen. Immer wieder gaben Löcher in den Felswänden den Blick frei auf ein malerisches Tal. Blitzartig zuckten die Bilder der zauberhaften Stadt, die ich gerne intensiver erkundet hatte. Eine Hafenstadt in den Bergen, ein Brückenhaus, das man nur über Leitern erreichen konnte, unter den Häusern tosten Wellen in felsigen Buchten.
Beim Frühstück wirkte der Traum nach. Mir wurde bewusst, dass ich alles, was ich geträumt hatte in Wirklichkeit gesehen, durchwandert und durchradelt hatte. Die schönste Straße der Welt muss die D465 zwischen Giromagny und Belfort sein. In Wirklichkeit ist das eine kleine französische Departementsstraße in den Südvogesen. Sie führt durch krüppeligen Eichenwald, vorbei an winzigen Seen und einsamen Tümpeln. Sie ist nicht sehr stark befahren – vielleicht ist es auch die weiter östlich verlaufende D23, die vom großen Ballon des Elsass runter führt Richtung Belfort. Das Schloss in meinem Traum liegt an der oberen Loire. Eigentlich ist es eine kahle Ruine, die neben einem Stausee auf einem Felsvorsprung thront, aber im Traum war die Burg äußerst belebt, ein Märchen. Für die kleine Stadt am Meer in den Bergen stand definitiv das englische Robin Hoods Bay Pate mit seinen dreißig Prozent steilen Sträßchen, den engen Gassen, den Pubs und Souvenirsläden. Die Nordsee tost im winzigen Hafen und lässt das Städtchen verletzlich wirken.
Ich träume nicht oft. Ich erinnere mich selten an Träume, aber wenn, dann nehme ich das Gefühl beim Erwachen mit in den Alltag. Die Bilder sind nur zweitrangig, wichtig ist das Gefühl, das du aus den Träumen rettest. Anhand des Gefühls kannst du den Traum deuten und er kann dir tatsächlich etwas verraten.
Wenn du das Gefühl beschreiben kannst, deutest du den Traum. War dieser Traum nicht schnell, hektisch und zerrissen, ein elendes Hickhack zwischen allen Stühlen? Vor großartiger Kulisse, zweifelsohne. Auf den ersten Blick gesehen ja: zerrissen. Aber da war noch mehr. Es war, als lägen die Ruhe und die Hektik miteinander im Clinch. Ganz wie im richtigen Leben. Zu viele Gleichzeitigs, die eigentlich Nebeneinanders sind und ein direktes Zweitleben erfordern würden, das wie in einem Paralleluniversum ebenso wahr und echt ist wie das Erstleben. Ausbreitversuch der unendlichen Seele auf begrenztem Raum, nur dass es sich um ineinander verschachtelte Räume handelt. Nein, das kann, das muss niemand verstehen, auch nicht du; als stülpte sich wässriger Lehm aus einem Eimer auf einer leeren Fläche, wo er zerrinnt, zu langsam, als dass das, was Eimerform hatte Kraft des Zufalls oder des schlichten Freilassens eine ganz andere, wunderbare Form annehmen könnte.
Aber vielleicht ist das auch nur der Versuch, etwas zu vereinen, was sich nie und nimmer vereinen lässt? Die Straße, die Stadt am Meer in den Bergen und das Element, was mich von dort weglotste, bilden eigentlich eine Einheit. Alles gehört zusammen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich zugleich bleiben und gehen will, weder in diesem Traum, noch in Wirklichkeit und wenn ich mich konzentriere, gelingt es mir sogar, gleichzeitig zu gehen und zu bleiben. Fragt mich nicht wie, aber ich kann das. Natürlich nicht räumlich, das ist klar. Man sollte viel öfter das, was man für echt hält hinterfragen (nicht, weil es vielleicht unecht ist, sondern, um es einfach nur zu hinterfragen). Letztlich, so stelle ich mir das vor, ist die echte Welt, wie ich sie am Tag wahrnehme auch nur wie die Traumwelt, eine Überlagerung verschiedener Bilder, hinter denen das blanke Gefühl steht. Jenseits der Sinne fängt das Echte erst an. Ich weiß, das klingt verwirrend. Es ist nicht einfach, Gegenteile als Einheit zu sehen, aber ich glaube, so ähnlich muss es sich mit dem Yin-Yang-Gedanken abspielen. Du kannst jede Einheit aufspalten in ihre beiden (oder mehrere) Gegenteile (Gegenteile trifft es nicht, aber mir fällt kein besserer Begriff ein). Das geht mit einem Kreis, der sich aus zwei Tropfen zusammensetzt, es geht mit einem gesellschaftlichen Organismus, mit einem Verein, einem Staat, einer Fabrik, mit einem Gegenstand und es funktioniert auch, wenn man es auf das eigene Ich anwendet, auf das Bild, das man von sich hat.
Der Tag geht. Der Abend ist da. Einige Stunden liegen auf dem Traum.
Zu schnell, zu viel, zu unkonzentriert, zu sehr es allen und allem recht machen wollen. Das war schon immer die größte Gefahr des Kreativseins. Das und dieses nervige den Gesetzen des Marktes gehorchen wollen.
Wieviel Zeit hast du diese Woche vergeudet, dem Markt gerecht werden zu wollen und was für einen Mist hast du dabei produziert? (Eine Anspielung auf den Fineartprintshop, an dem ich arbeitete).
Das ist doch keine Kunst.
Schreibs auf.
Viel zu schnell.