Anwalt K. und andere Geister

Habe manchmal diese fixe Idee: wenn ich mich nur kurz umdrehe, wegschaue und erneut das Objekt fixiere, ist es plötzlich weg.

Das Objekt mag ein Mensch sein. Ein guter Freund, mit dem man einen Abend verbracht hat. Sobald man die Haustür hinter sich schließt, verfällt der Freund in einen inkonsistenten Zustand. Das ist gar nicht abwegig. Man geht immer davon aus, dass, wenn man eine Tür schließt und sie nach einer Weile wieder öffnet, sich hinter der Tür noch alles genauso verhält, wie man es verlassen hat.

Trotzdem könnte der Freund, mit dem man den ganzen Abend geschwätzt hat, sobald man gegangen ist einen Herzinfarkt erlitten haben. Man weiß es nicht. Man geht nur davon aus, die Welt ist soundso.

Als ich den Anwalt K. vor knapp zehn Jahren zum letzten Mal gesehen habe, zog ich durchaus in Erwägung, dass er demnächst Selbstmord begehen würde. Zu jener Zeit stand er vor dem Staatsexamen. An besagtem Abend wollte er eine Lernpause einlegen, lud mich ein zum Grillen in der Studentenbude. Wir hörten Weezer, schmorten Würste und Steaks auf dem Elektrogrill. Die Bude roch nach verbranntem Fett. Wir tranken Bier und rauchten Kippen. Das lähmte die Geruchsnerven.

K. war ein grundunglücklicher Mensch, weil er eine schwere Kindheit hatte. Deshalb hatte er sich ein Bolzenschussgerät besorgt, mit dem er sich umbringen wollte. Er zeigte mir das Metallding. Es war schwer. und kalt. Ich hatte Höllenrespekt davor. Genau wie sein Vater es einst getan hatte, würde er es auch tun. Warum er es nicht schon längst getan habe, fragte ich, da sagte er, seiner Mutter zu Liebe, er wolle nicht, dass sie nocheinmal das Schreckliche durchmachen muss. Jenes Schreckliche, was auch er durchgemacht hat. Seinen toten Vater finden.
Nie habe ich einen traurigeren Menschen gekannt als K.

Neulich bei einem Konzert habe ich ihn wieder getroffen. Wie ein Geist stand er umgeben von Kollegen. Bleich und krank. Seine Haare sind dünn geworden. Trotzdem großes Bohei. Wir tranken ein Bier. Und wieder schlug diese abgrundtiefe Depression durch. Ich fragte: „Hast du den Bolzen noch?“ „Natürlich. Ich werde ihn benutzen.“ Da half es nichts, auf ihn einzureden, das Leben sei schön, denn mir wurde plötzlich klar, er hat die gesamten zehn Jahre über gelitten unter dieser schrecklichen Depression. Niemand konnte ihm helfen.

Schnitt.

Ex M. hat eine Postkarte geschickt und sich nach meinem Befinden erkundigt, ihr selbst gehe es gut und sie sei glücklich – aber: sie werde von einer gewissen R. bedroht. Und R. ist ein ganz spezieller Fall, den ich schon vor zehn Jahren, als ich sie kennen gelernt habe, für schizophren hielt.  Wenn man ihr gegenüber steht durchwirkt einen ein Gefühl der Bedrohung – ganz anders als der friedliche Anwalt K., der doch einfach nur Selbstmord begehen will. R. ist da anderweitig aggressiv. Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, was zwischen Ex M. und R. und mir einst war, weshalb sie nun so ausflippt – eins steht nämlich noch in der Postkarte: mein Name sei bei diesen Bedrohungen auch gefallen. Hey, das alles ist zehn Jahre her. Da sieht man Mal, wie lange die Dinge in den Köpfen der Menschen wirken.

Was wird nun passieren? Besucht mich die verrückte R. mit dem aufgespießten Kopf von Ex M. eines Tages hier auf dem einsamen Gehöft? Werde ich Anwalt K. jemals wieder sehen?
Bin ich, nun, da Ihr dies lest überhaupt noch am Leben? Die Wirklichkeit ist bei Weitem nicht so konsistent, wie man vermutet.

Alltagsgerede, nicht unbedingt interessant …

… aber auch nicht Nichtzuveröffentlichen.

Ich lese die alten Tagebücher von vor zehn Jahren. Handgeschriebens Zeug. Oft nur Stichpunkte. Abends im Bett, gekrümmt unter der Lampe tauche ich ein in die eigene Vergangenheit. Von Liebe ist die Rede. Wie immer. Es ist amüsant. Ich habe lange gehadert, ob ich die Kladden aufschlage oder nicht. Ein bisschen Angst hat man ja immer. Aber nun, da ich so blättere, frage ich mich, warum nicht öfter, warum nicht immer die Alltäglichkeiten notieren? Es gibt einem später einen Einblick in den, der man einmal war und zeigt, wie man sich verändert hat.

Neue Leutseligkeit?

Egal.

Glotze läuft. Die St. Ingberter Pfanne wird übertragen. Ein Kleinkunstfestival, das alljährlich in der Nachbarstadt ausgetragen wird. Auf dem Ofen dampfen Tomaten. Ich trockne die Ernte und lege sie in Öl ein. Mjam mjam.

Vorhin war das Malerehepaar B. zu Besuch. Wir haben ein Symposion für 2008 ins Auge gefasst. Frau B. kennt die halbe Welt und weiß was von den Geldtöpfen. Herr B. hat meine Postkartenedition gefleddert und mich sogleich für eine Wanderausstellung eingeladen. Thema: „Der lächelnde Christus“. Die Ikone (Link entfernt 2016-11-26) hatte es ihm angetan: „Gibts das auch als Bild?“ fragte er. „Kein Problem, wie groß solls denn sein? Ich muss nur die Datei im Computer finden.“

Mache ich also mit bei der großen Wanderausstellung mit über 50 Künstlern. Nächstes Jahr in der  Kulturhauptstadt Luxemburg.

Ach die Kunst. Sie ist nahezu abgewickelt. Darum bin ich froh. Ich kann nun beruhigt es nebenbei betreiben. Das macht sich in der allgemeinen Entwicklung gerade ganz gut.

Schwer zu erklären. Der Kopf ist plötzlich ganz frei und die Zeit liegt vor mir wie eine frisch formatierte Festplatte. Bereit, beschrieben zu werden.

Apropos Festplatte: hab ein neues Betriebssystem. In den Web-Foren wird es als grundlegend langweilig gehandelt, weil man überhaupt nichts administrieren muss und keinerlei Probleme auftreten. Alle Geräte funktionieren und jede nur erdenkliche Software kommt freihaus übers Netz. Das System läuft auf PC und auch auf Mac. Ubuntu ist ein Traum. Ubuntu ist ein afrikanisches Zulu-Wort, eine Ethik.
Mir gefällt die Philosophie, die dahinter steckt:

»Eine Person mit Ubuntu ist offen und greifbar für andere, bejaht andere in Ihrer Andersartigkeit, fühlt sich nicht von der Stärke anderer bedroht, verfügt über ein angemessenes Selbstbewusstsein, das sich aus dem Wissen um die eigene Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen speist, …« (Erzbischof Desmond Tutu).

Wie kam es dass ich das System installiert habe? Eine Verdichtung von Wahrheiten: zuerst hat mein Cousin davon erzählt: „Probier doch mal Ubuntu, das soll für Linuxlaien ganz einfach sein.“ Aber da hatte ich das Debiansystem, welches als ziemlich abgehoben gilt und nur was für Freaks ist, gerade in Erprobung. Da wollte ich nix Neues anfangen. Dann habe ich die P.s besucht und Herr P. drückte mir eine Life-CD in die Hand: „Da, kannste mal ausprobieren. Wir wollten das den Schülern schenken, aber die haben nur wenig Interesse gezeigt.“ „Klar,“ sagte ich, „Schüler wollen spielen und dafür brauchen sie Windows.“

Okay. Wie kriege ich den Eintrag nun beendet?

Mit einem Punkt.

Viel Arbeit

Eine Kunst macht „Muh“, viele Künste machen „Mühe“.

Eine schöne Brückentagwoche wünsche ich Euch allen.

Neun Stationen Ingelheim

Hab ich ja nun Zeit zu tippen. Vorhin ist so eine Art Ruhe eingekehrt. Zum ersten Mal seit drei Monaten. Alle Kunstprojekte sind abgewickelt. Darüber bin ich heilfroh. Es kann endlich Winter werden.

Vielfältige Kontakte haben sich ergeben. Und das darf man durchaus wirtschaftlich sehen. Beinahe wäre es ein Wunder, wenn ich der Hungerleider bleibe, der ich derzeit bin. Ich kann nichts falsch machen. Ich muss nur die Dinge ihren Lauf nehmen lassen. Das Ingelheim-Projekt, welches wir am 11ten und 12ten November vorstellen werden ist auch äußerst brisant. Es hat mich mal wieder gelehrt, dass wir Menschen niemals alleine stehen.

QQlka, Gronak und ich drifteten durch die Stadt und wählten intuitiv die Orte unserer Kunst, das heißt, wir stoppten meist vor Parkbänken. Einer fotografierte, einer zeichnete und der Dritte schrieb. Das ist äußerst inspirierend. Wir befruchteten uns gegenseitig. Von Gronak war ich hochgradig überrascht, weil er die Sparten Zeichnen, Schreiben und Fotografieren, obwohl er in keiner bewandert ist, absolut spitzenmäßig meisterte. Ich bin überzeugt, dass jeder das könnte. Was den guten alten Spruch, den Kunstdilletanten gerne als Waffe benutzen – das da, das hätte ich auch noch gekonnt – vielleicht rechtfertigt. Man sollte diesem Spruch jedoch die Überheblichkeit nehmen. Natürlich können wir alle alles. Oder wenigstens, wir alle könnten alles können, wenn wir denn den Mut dazu hätten.

Ich habe gezeichnet. Ich kann nicht zeichnen. Aber ich habe gezeichnet. Ich habe geschrieben. Ich kann schreiben. Aber ich habe besser geschrieben, als ich erwartet hatte. QQlka und Gronak haben das auch getan. Am Ende steht ein Dreisam-Projekt, das sich sehen lassen kann.

Was war wichtig? Dass wir uns gegenseitig beinflusst haben. Dass wir miteinander gewirkt haben.. Dass es einen Masterplan gab. Und der war einfach: wir laufen am Bahnhof Ingelheim los,. Einer nimmt den Fotoapparat und fotografiert etwas. Er liefert die Vorlage, worüber die beiden anderen zeichnen und schreiben. Ein Haus zum Beispiel oder eine Ampel oder eine Straßenkreuzung. Immer war es der Fotograf, der in einer 125tel Sekunde die Vorlage lieferte. Das war gerecht. Zuerst fotografierte Gronak, QQlka zeichnete und ich schrieb. An der nächsten Station fotografierte QQlka, ich zeichnete und Gronak schrieb. Und so weiter. Eine äußerst fruchtbare Variante der gemeinsamen Kunst. Ich bewunderte Gronak für seine abstrakt realistischen Zeichnungen (der Mann ist genial!), QQlka für seine konsequente, dem Weg gerecht werdende Schreibe (dieser Mann ist auch genial!).

Am späten Nachmittag hatten wir die knapp 1 km lange Bahnhofstraße in Ingelheim portraitiert. Müde saßen wir im Licht des einzig schönenen Tags dieser Woche auf den Treppen vor dem Bahnhof, rauchten eine Zigarette und gaben den beiden Berbern, die ich in der Unterführung kennen gelernt hatte und die meine Schuhe forderten einen Batzen Tabak, dass auch sie sich eine Kippe drehen konnten..

Zu sehen ist das Ergebnis unserer Kunstaktion am 11. und 12. November 2006 in der Kunsthalle Schwaab, Bahnhofstraße 78 in Ingelheim, wahrscheinlich ohne Berber. (Gebt ihnen trotzdem ein paar Münzen, wenn ihr sie seht und erinnert sie daran, nicht in Bahnhofsunterführungen zu urinieren).

Dann doch: Typo3 und Seemann S.

War so ein Telefongespräch heute – ob ich wohl Typo3 kann. Ich sagte: „Entschieden nein, das dauert einen Monat.“ „Kein Problem, war ja nur so eine Frage.“ sagte der Gegenüber.

Wir werden uns nächste Woche treffen und mal schaun, wie wir zusammen kommen.

Die Zukunftsperspektiven sind rosig. Ich hab die zwei Kunstvereine am Bein. Die wollen ins Netz. Und ich kann sie da hin bringen – auch ohne Typo. Typo schösse sowieso über das Ziel hinaus. Muss den Cousin trotzdem um Typo anfragen. Der weiß alles. Er ist göttlich im Umgang mit Bits und Bytes.

Zurück zum einsamen Gehöft. Seeman S. stand vor der Tür, ist schon ein paar Tage her und wir hatten uns zehn Jahre nicht gesehen. Dann stand er da und es war so wie damals auf den Faröer-Inseln, als wir hoch oben auf einem Riff in einer Höhle keimten und die beiden Martini-Flaschen leerten, die wir im Zollfrei-Shop der Norröna-Fähre gekauft hatten.

Beim Wiedertreffen gab es einige durchweg gelungene Stunden, in denen wir die Puzzleteile unserer Erinnerung zusammen legten und ein breites Bild der Wahrheitr, so wie wir sie kannten rekonstruierten. Seemann S. ist, einer meiner besten Freunde. Das, meine Lieben, sei eine Lehre, dass Freundschaft sich nicht dadurch manifestiert, dass man sich allabendlich in der Stammkneipe trifft und immer wieder die selben Witze erzählt.

Am stürmischsten Tag des Jahres spazierten wir durch den Wald und bewundertern die Felsen des berühmten Kirkeler Felsenpfades, während ringsum die Bäume krachten, dass es nur so eine Art war.

Ich fragte den Seemann: „Welche Windstärke haben wir?“

„Windstärke?“ sagte er, „Hier gibt es keine Windstärke, wir sind auf dem Land.“

„Okay,“ forderte ich, „welche Windgeschwindigkeit?“

„Hier gibt es auch keine Windgeschwindigkeit, wir sind auf dem Land.“

Nun gut. In einer Jutetüte hatten wir unzählige Pilze aus dem Wald gesammelt. „Sind die essbar?“ fragte ich. „“türlich.“

„Und der Knollenblätterpilz?“

„Der ist tödlich. Deine einzige Chance ist eine Lebertransplantation.“

Wir aßen die Pilze. Köstlich. Und dsikutierten über den 15 Meter langen Bootsschuppen, den wir in einem Kaff namens Parchow demnächst bauen würden.

Denn ein Seemann will zur See.