Gute Nackt, Hungry Jazzwifes

Ein kleines Wunder, schon um halb Eins zu Hause. Normalerweise wäre ich jetzt damit beschäftigt, 40 bis 60 wild gewordene Jazzer zu bändigen, das exzellente Büffet zu bewachen, Fans einer Gesichtskontrolle zu unterziehen, Sonderwünsche wie Champagner oder hundertjährige Chinesische Eier wahr zu machen, sowie die Küche auf Trab zu halten. Aber heute: wie durch ein Wunder waren gegen halb Zwölf alle Musiker verschwunden, der Backstageraum gähnend leer.

Gelangweilt mit Journalist F. und dem Amtsmann R. Feierabend gefeiert. Man redete über das Amt ansich, und dass es doch toll ist, in einem Kulturamt zu arbeiten. Amtsmann R. erzählte einen Alptraum, aus dem er schweißgebadet aufgewacht ist. In jenem Alptraum hatte man ihn auf das Standesamt versetzt und er war, beamtet auf Lebenszeit, damit betraut, Menschen unter die Erde zu bringen, rein verwaltungstechnisch, oder sie ins Leben zu beurkunden, sie zu trauen, zu scheiden Rechte zu verbriefen, und das, sagte er, sei doch wirklich das Schlimmste Elend, mit dem man als Mensch konfrontiert werden könne.

Einen solch relaxten Abend habe ich auf dem Jazzfestival in meiner dreijährigen Karriere noch nicht erlebt. Einzig ein Intermezzo mit der Morgen auftretenden 16-köpfigen Frauenkombo D., die schon heute angereist war, bereitete ein wenig Stress. Ihr Tourmanager G. hatte sie dem fast ausschließlich männlichen Techniker- und Backstageteam als „willig, spitz, und rattenscharf“ angekündigt. Dementsprechend einfach waren die Vorstellungen, die er in unseren Köpfen installiert hatte.

Die Frauenkombo D. fiel unverkleidet, ungeschminkt, laut schnatternd im Backstageraum ein. Unter dem Vorwand, den weltberühmten Schweden (siehe gestriger Beitrag) mit der roten Trompete zu Füßen liegen zu wollen, krallten sie sich widersprüchlicher Weise am Büffet fest, tranken Bier, rülpsten. Übergewichtig waren sie obendrein, aber das soll ja gut sein für die Resonanz. Ich führte Gespräche mit waschechten New Yorkerinnen, Bostonerinnen fragten „Guten Tag is that right?“ – „What do you mean?“ – „Good Night?“ – „That means Gute Nacht,“ sagte ich. „Gute Nackt“, antworteten sie.

Sie freuten sich wie Kinder über die wunderbar blauen Gauloises Zigaretten, die es bei ihnen zu Hause nicht gibt, und dass man im Auto mit einer offenen Flasche Bier fahren darf, sogar schneller als Fiftyfive Miles, yeah.

Sie verbreiteten ein Heidenchaos.

Tourmanager G. hatte alle Hände voll zu tun, sie ins Hotel zurück zu lotsen.

Den weltberühmten Schweden sahen sie zwar, aber nicht spielend auf der Bühne wie geplant, sondern ein Helles schlürfend, der bescheidene Mann am anderen Ende des Backstage. Ich liebte ihn deswegen.

Neue Kunststraßenbaustelle

Diesmal geht’s in die französische Partnerstadt.

Der Kunststraßenbau hat sich seit 1995 ziemlich verändert. Damals noch ohne Satellitennavigation, schrieb ich Kladden voller vager Notizen, eine Tintenspur quer durch Europa, fotografierte so in 10-km-Abständen den Kapschnitt, eine Kunststraße bis fast zum Nordkap. Ab 2000 haben die Kunststraßen dank detailierter Tagebucheinträge eine gute Präzission erreicht. Viele der Bildaufnahmepunkte der Straße nach Gibraltar sind anhand der Notizen noch auffindbar.

Nichts im Vergleich zu heute. Mit dem wunderbaren Gmaps-Modul meines Drupal-CMS lassen sich per Mausklick eigene Landkarten erstellen und die Route markieren. Schon überlege ich, ob es nicht interessant wäre, den Weg hier am heimischen PC zu markieren, sprich auf der Landkarte die Bildstandorte zu setzen, sie ins GPS zu speisen und dann die Strecke zu erwandern (bzw. erradeln).

Nun habe ich Zweibrücken-Boulogne begonnen, zunächst mit einer groben Landkarte, und einer geraden Linie mit nur drei Punkten. Kunststraßenbau mutiert zu so einer Art digitaler Bildhauerei.

Ihr könnt das Projekt Zweibrücken-Boulogne in der Europenner-Zone verfolgen. Schon nächste Woche wird die gerade Linie zwischen Zweibrücken und Boulogne sich krümmen und erste Bildpunkte auf der Karte eingezeichnet. Ich plane auf der 570 km langen Distanz Fotos in 1-km-Abständen und sie als Bilderserie zu montieren. Alle Bilder werden georeferenziert, so dass man in der Zukunft die Standorte wieder findet und sieht, was sich vor Ort verändert.

Falls Ihr in der Nähe der Linie ZW-BOUL wohnt oder interessante Orte kennt, die man unbedingt in der Fotoserie veröffentlichen muss, sagt mir Bescheid.

Ich sehe schon, das werden drei ruinöse Tage. Sagen wir Nächte. An Schlaf nicht zu denken. Zu aufgekratzt nach fast zwölf Stunden unter Jazzern. Klamme Künstlerbude. Asche-in-mein-Ofen, Schnee-auf-mein-Dach. Das grieselt. Der Ofen brummt. Bin versucht, zu denken, es wäre gut ein Jazzer zu sein wie dieser Schwede, der heute in mehreren Kapellen aufgetreten ist mit seiner roten Trompete. Er wirkte so souverän, trank kaum Bier. Ein unheimlicher Mensch. Morgen tritt er auch wieder auf. Es gibt nur noch den Schweden. Schwede hier, Schwede da. Die Alphamusiker des Landes liegen ihm zu Füßen. Wie paradox.

Manchmal habe ich mich vor der Backstagetür postiert und die Laternen betrachtet, wie London, der Ripper schleicht umher, hinzu kommt der Schneeregen, die unheimliche Stille, untermalt vom Wummern des Schlagzeugs. Ab und an ein Gespräch mit irgendwem, der sich auch vor die Tür wagt.

Über das Wetter. Samstag ist schon wieder gut sagen sie.

Das will ich auch hoffen, denn nächste Woche beginne ich mit dem Bau der Kunststraße nach Boulogne. Werde erstmal bis Luxemburg fotografieren.

Von komischen Hosen und wie man Jazzikonen ruhig stellt.

Just zurück vom Jazzfestival. Wieder mal was gelernt: wie man eine Jazzikone im Backstageraum ruhig stellt. Man gebe dem Jazzer eine gutaussehende Praktikantin des lokalen Rundfunks, die mit einem Mikro hantiert und ihn interviewt. Dann spricht er zuweilen hochdeutsch, reißt sich zusammen, schaut auf die Brüste, ab und zu auch auf das Mikro.

Und weiters gelernt: wie die Hosen, deren Schritt in der Kniekehle hängt, am Körper haften. In dem nutzlosen Raum zwischen Hoden und Kniekehle befindet sich ein Ballon gefüllt mit Helium.