Welcome To The Magic HTML Bus

Vorbei an Arras. Zur Rechten garstige Cerealienchampagne. Das Land ist topfeben. Riesige Felder, Raps und Getreide, durchzogen von Strommasten, Stomlinien hätte ich es beinahe genannt. Ein angenehmer Fahrregen. Die Frontscheibe des Busses beschlägt. Die Tropfen tanzen im Rhythmus zu afrikanischer Musik aus dem CD-Spieler. Unser Bus, Nummer Eins, weil mit Anhänger versehen, beinhält die örtliche Trommelschule. Ca. 20 Personen im vorderen Teil. Hinten sitzt die Mittelaltergruppe Waldläufer. Wir, drei Mitglieder der Künstlergruppe Prisma, wären eigentlich die ideale Trennlinie. Wenn der Bus eine HTML-Seite wäre. Der Fahrer ist der Bereich Header, dann folgen zwei Canvas-Elemente mit ein bisschen JQuery-Voodoo. Die Künstlergruppe könnte man darstellen als HR, schlichte Eleganz, als horizontale Linie von 75 % Breite. Im Footer, in dem normalerweise das Impressum und die AGB notiert sind, befindet sich ein weiteres Canvas-Element, der Anhänger, in dem die klatschnassen Zelte der Waldläufer liegen. Die armen Teufel mussten frühmorgens schon ihre ohnehin schweren Ritterzelte abbauen. Ich könnte mir denken, dass das eine ziemliche Schlammschlacht war: niedergetrampeltes Gras, das sich mit nasser Erde zu einem eigenartigen Lehm mischt – passt eigentlich zum Mittelalter. Ebenso wie meine Stimmung: vampiresque, ein Nosferatu, dem man auf die Schliche gekommen ist, und ihn nun in seinem Versteck ans Licht zerrt. Bretterverschlag umgibt den schützenden Schlafsarkophag. Mit Pflöcken und silbernen Gewehrkugeln rückt das Alltagsleben wieder näher, streifenweise zerschneidet Licht die staubige Sphäre, moi même im schwarzen Umhang, Spinnenfinger, blutleere Lippen und diese Zähne, mein Gott, diese Zähne … ich schweife ab. Die Trommelmusik treibt mich in eine Art mantrisches Schreiben, untermalt vom Surren des Busdiesels und dem Zischen des Regens unter den Reifen. Asphaltwellenschaukeln auf 570 Kilometern Länge, querbeet durch die Champagne, die ich einst, per Radel durchquerend, zum Verzweifeln fand.
SoSo hat uns wieder die besten Plätze im Bus gesichert, ganz Vorne rechts – wenn ich sie nicht hätte … ich müsste womöglich im Waldläufer Zeltanhänger mitfahren :-)
In Boulogne wurde das Ankunftsprogramm genau umgekehrt: von den Hotels und Gastfamilien führt eine Sternfahrt zum Fußballstadion, wo alle Fahrgäste neu sortiert werden. Wir Künstler sitzen also erst einmal im Fünfer Bus.

[Nachtrag: gerade sehe ich, dass der Artikel gar nicht fertig ist – Liveschreiben  #13.1, Bugfix. Wenn du zu gegenwärtig bist, um zu merken, dass du die Gegenwart nicht zu Ende schreibst und zudem zu offline, um online zu sein, und somit vier fünf Stunden Gegenwart verstreichen, in denen ein Artikel im Puffer deines Smartphones hängt, mach bloß nicht den Fehler, unter dem Artikel später einen Nachtrag zu notieren, der eigentlich nur sagen will, hättste mal besser den folgenden Satz weggelassen und gut wärs: In Boulogne wurde das Ankunftsprogramm genau umgekehrt: von den Hotels und Gastfamilien führt eine Sternfahrt zum Fußballstadion, wo alle Fahrgäste neu sortiert werden. Wir Künstler sitzen also erst einmal im Fünfer Bus.]

Liveschreiben #13 – zurück in die Gegenwart

Herr Irgendlink lässt und lässt nicht locker. Zwar schwächelte ich fast ein Jahr, was das Reisen und das darüber Berichten angeht, aber nun, seit erst drei Tagen unterwegs, spüre ich schon wieder die Faszination, die der stete Lebensstrom ausübt, wenn er über die Katarakte der Fremde rauscht. Aus der Reise Ums Meer habe ich ein immenses Wissen über diese, meine direkte Form der Reiseberichterstattung gewonnen und, by doing, eine gute Fingerfertigkeit entwickelt. Wenn ich heute Morgen noch fabuliere, ich zeige nienienie wieder Bilder in einer Ausstellung, es sei denn, ich erhalte ein Honorar, ich trotziger Kunstbub, so weiß ich nun, was ich garantiert immer wieder tun werde: live von unterwegs bloggen.
Es dauert ein zwei Tage, bis man drin ist in der Tour. Heute bin ich in dieser Tour drin. Also Punkt Eins: Gedulde Dich und lass Dich vom Unterwegssein weichklopfen so lange, bis die Worte fließen. Der nächste wichtige Punkt ist Disziplin. Ehrlich gesagt, just im Moment würde ich viel lieber nackt im Hotelbett liegen, die Glotze surren und den Abend ausklingen lassen.
Stattdessen vorm geistigen Auge den Tag revue passieren lassen, gleichzeitig auf dem winzigen Smartphonebildschirm diese Zeilen tippen. Ein Urban Artwalk morgens, um das einzig renovierte Haus in einer zerfallenden Häuserzeile zu fotografieren (abends war das Licht ungünstig).

20130520-000031.jpg
Verirrt in der Zitadelle verpassen SoSo (auch sie schreibt live) und ich beinahe das Festbankett, müssen kilometerweit durch die Nordstadt irren. Boulogne ist verdammt hügelig. Das Bankett mit etlichen hundert Gästen in einer Turnhalle anlässlich des 54jährigen Bestehens der Städtepartnerschaft Boulogne Zweibrücken.

20130520-000346.jpg
In der Kunstschule EMA offeriert man mir, die Ausstellung noch einige Zeit im Kubus zu lassen und sie mir per Post zu schicken. Prima. Netzwerken. Das ist was Feines. Fünf Busse voller Netzwerker.
Stadtszenen von unseren Urban Artwalks. Boulognes Häuser haben einfach die schönsten Hausnummern. Diagnose: in dieser Stadt müsste ich mindestens eine Woche arbeiten. Südlich des Flusses Liane etwa, gibt es einen Stadtteil, den ich noch gar nicht kenne.
Urban Artwalk Boulogne am 19. Mai 2013.

20130520-001006.jpg
Ein Jammer, dass die Reise Morgen endet. Ich merke, wie faszinierend dieses, mein Experiment am offenen Herzen der Literatur ist. Obschon noch immer unklar ist, ob es sich um Literatur oder Kunst oder Dokumentation oder dilletantisch redigierten Privatjounalismus mit larmoyanten Einlagen, oder um ein schlichtes Bad in der virtuellen Menge handelt. Manche nennen es einfach Appspressionismus.
Credo von Liveschreiben #13 – lass nienienie den Strom der Gegenwart enden.

20130520-002439.jpg

Das Leben, ein dicker Mann, die Hand am Gasgriff

(unkorrigiert und mit Fipptehlern zur gefälligen Verwendung(
Boulogne freitags nach der Ankunft der fünf Busse zur Städtepartnerschaftsbegegnung. Ausgespuckt, in die Hotels und Gastfamilien chauffiert – vor dem Winzigen Aufzug unseres Hotels, des Opal-Inn, bildet sich eine Schlange, weil immer nur zwei Leute mit Gepäck reinpassen. Das Haus ist kaum 15 Meter breit direkt am Strand. Sechs Stockwerke mit Je acht Zimmern. Ein Mysterium von Gebäude. Weil es so schmal ist und dennoch die offizielle Delegation der Stadt Zweibrücken beherbergt und alle Künstler und andere Gäste obendrein, erinnert es mich an das Haus, das keinen Eingang hat und somit von der Frontseite unsichtbar ist, in Flann O’Briens verrücktem Roman „Der dritte Polizist“.
Kurzdusche, Kurzschlaf und rüber ins Gens de Mer, in dem ich letztes Jahr logierte. Dort gibt es das Essen. Das Opal hat keine Küche, so schmal ist das Gebäude.
Abends flanieren SoSo und ich mit der Akkordeonistin B. durch die Stadt. Ein erster Urban Artwalk durch Baugebiete von abgenutztem Charme. Auf dem Gegweg wankt ein extrem dicker Mann vor uns im Zickzack, Einkaufstüte in der Hand und die speziell angefertigte Hose und überhaupt alle seine speziellen Kleider sind womöglich seine einzigen, so dass es mir für Sekunden die Tränen in die Augen drückt, Mensch, was ist mit Dir los, was hat man Dir angetan, was musstest Du alles in Dich hineinfressen und ein Motorradfahrer rast durch die enge Straße, stoppt an der Ampel, kuppelt aus, gibt im Leerlauf Vollgas, was mich vollends aus meinem sentimentalen Traum reißt. Plötzlich diagnostiziere ich, wir sind doch alle gleich kaputt und tun un unserer Verzweiflung Dinge, Schreie, Gashahndrehe oder wir fressen fressen es in uns hinein. Es äußert sich nur bei jedem individuell.
Mosjö Irgendlink dreht nicht am Gashahn, wird nicht fett, stattdessen schreibt und bloggt und fotografiert er wie krank.
Limboesque winden wir uns an dem dicken, wankenden Mann vorbei, balancierend zwischen dem Inventar eines billigen Straßencafés und der Bordsteinkante.

Boulogne sur Mer

In weiter Ferne ist der letztjährige Liveblogbericht (vier Monate täglich Text und Bilder in diesem Blog, eine Operation am offenen Herzen der feinen Künste; per Radel von Zweibrücken via Partnerstadt Boulogne einmal um die Nordsee und zurück).
Nun bin ich wieder in Boulogne. Mit fünf Bussen und – ich glaube – 250 Zweibrückerinnen zum traditionellen Pfingsttreffen der beiden Partnerstädte.
Für meine Bilder der Reise um die Nordsee gab es einen eigenen, pechschwarzen Pavillion, in dem die Temperatur heute in der Sonne auf über dreißig Grad angestiegen ist. „Das wird garantiert die letzte Ausstellung in der echten Welt“, schwor ich heute Morgen. Die Frustration über den nicht vorhandenen finanziellen Erfolg und meine Menschenscheu veranlassen mich manchmal zu solchen Schwüren. Außerdem finde ich, der Künstler hat seine Pflicht getan. Der Künstler kann … ach!
Ich will ein braver, virtueller Mensch werden, der coole Liveblogs schreibt und nur dann in die „echte“ Welt kommt, wenn man ihn dafür bezahlt (Anhang 1 des obigen Eids).
Aber auch auf dem Liveblogsektor fühle ich mich ausgelaugt. Schon seit Freitag, seit der achtstündigen Busfahrt, denke ich, wie ideal diese Tour wäre, sie direkt zu bloggen. Aber es gelingt mir nicht, den inneren Schweinehund zu überwinden und einfach drauflos zu schreiben, wie auf der Meer-Runde. Es wird mir bewusst, wie schwierig das ist, was ich getan habe, welche Disziplin es erfordert. Und wie wichtig es ist, alleine unterwegs zu sein.
Fotos gibt es in Massen. Die Nikon erfährt eine wahre Rennaissance. Und das iPhone kommt mit Panoramasoftware, Film- und Tonmitschnitten zum Einsatz. Kurzum alle Register der feinen Künste ziehend; nur mit der Schreib- und Blogdiszipiln hapert es noch ein Bisschen.
SoSo berichtet ebenfalls über diese Reise.
Voilà des photos.
In der Kunstschule EMA in Boulogne sur Mer.

Heizungsrohre Ecole des Arts Boulogne
Außerhalb der Kunstschule – Boulogne rue Felix Adam.

Boulogne rue Felix AdamEin frisch renoviertes Häuschen zwischen Ruinen in einer Seitenstraße der rue de la Paix.

20130518-234956.jpg
Am Strand von Boulogne.

Strand Boulogne sur Mer

Blut, Kot und Geschwüre

Der Job hätte gepasst: täglich um die Mittagszeit einen uralten Kleinwagen in die Landeshauptstadt jagen und unterwegs in diversen Kliniken und urologischen Praxen Kisten abliefern, bzw. abholen, Briefe und Röhrchen seien darin, hatte man mir versichert. Die Firma: im Nachbarstädtchen mit dem Rad prima zu erreichen; die Bezahlung: am untersten Ende der Skala; aber: mit wehendem Haar einen friedlichen Fahrjob ausführen, der dem spartanisch lebenden Künstler die materielle Inkonsistenz, die das Künstlerleben mit sich bringt, ausbalancieren kann; kurzum: wie einst Möbel tackern, nur mit Blut, Kot und Geschwüren. Dass alles anders kommen würde, war zu erwarten.

So stellte ich mich bei der Firmenchefin Punkt zwölf in ihrer Privatwohnung vor, die auch gleichzeitig die Firmenzentrale zu sein schien. Küche voller Nippes, eine Weihnachtskrippe auf dem Fensterbrett. Kettenraucherin. Wir saßen am Tisch und ich erfuhr, dass im Herbst der Kopf der Firma, ihr Gatte, gestorben war, und sie nun das Unternehmen zusammen mit dem Bub führen würde. Vier fünf Touren, die täglich Gewebeproben aus dem ganzen Land zur zentralen Pathologie bringen und die Befunde zurück in die Praxen. Der Bub würde gleich kommen, er arbeite als Bestatter. Nachmittags würde er diese, meine Tour fahren, vorläufig, aber das gehe ja nicht auf Dauer, dieses Doppelleben, diese Schinderei, diese ewige Hatz. Der Bub, ungefähr gleichalt wie ich, sieht zehn Jahre älter aus und, wie sich herausstellen sollte, benimmt sich, als wäre er zwanzig Jahre jünger.

Raus aus den Sicherheitsschuhen und dem Totengräberdress, rein in die Autoklamotten, ein Schluck Cola und eine Stulle zwischen den Jobs – in diesem Land stimmt was nicht. Die Einen haben zu viel Arbeit, die Anderen zu wenig. Aber statt etwas langsamer zu treten, herrscht die Tendenz, mehr und mehr und mehr zu machen, ganz leistungsbürgeresque: die Angst, dass man den Job verliert, veranlasst die Menschen, die eigene Grenze zu überschreiten. Ich diagnostiziere gesellschaftliches Glaukom. Der soziale Innendruck steigt kontinuierlich. Das Zusammenleben ist ein Dampftopf ohne Ventil. So erlebe ich den neuen Chef als massiges, ungeduschtes, geisthaftes Wesen zwischen zwei Jobs auf der Jagd nach Geld. Die schneeweißen Turnschuhe aus Kunststoff und die flatternde Jogginghose aus türkisenem, glänzendem Stoff verzeihe ich und steige arglos in das wohl dreckigste Auto der Region. Ein klebendes Etwas, das er liebevoll als sein Ex-Auto vorstellt. PS und Verbrauch usw. schnell erklärt und es hatte nie eine Panne. Das neue steht vor der Tür, ein Audische (Verniedlichung für Audi), ja, über Autos können wir (nein, er) uns prächtig unterhalten. Unser Ziel: meine alte Heimat. In einem der Krankenhäuser, die wir ansteuern, habe ich zwanzig Monate gedient. Kurzum: ich kenne mich bestens aus und wenn man mir eine Liste der anzufahrenden Orte geben würde, könnte ich die Tour blind fahren. Aber Mösjö Bub will den Chef spielen und den Neuen fundiert einarbeiten. Jovial erklärt er mir die Radarkontrollen – er kennt sie alle – und wo es den günstigsten Sprit gibt und kommentiert zwischendurch die Fahrweise der anderen VerkehrsteilnehmerInnen – insbesondere der Innen – während ich überlege, ob wir im Kofferraum wohl Körperteile von Menschen transportieren, die ich kenne. Fußball bleibt mir als Gesprächsthema erspart und ihm die Kunst, da ich weiß, wie allergisch manche Menschen auf dieses unheimliche Thema reagieren. Satanas! Ich ziehe alle Register des Masochismus, lasse duldsam die Kettenraucherei im geschlossenen Wagen, das Geschimpfe und den eigenartigen Geruch – kommt der von den schneeweißen Schuhen oder den Geschwüren im Kofferraum? – über mich ergehen. Mache mir Notizen: „Box für Krankenhaus soundso vorm Fahrstuhl abstellen“ – „In derundder Verwaltung nach Briefen fragen“ – „Den Fahrer vom Nachbarkrankenhaus Soundso abwarten, ggf. die Box, die er bringt, einladen“ usw. So hangeln wir uns über 150 Kilometer durch Arztpraxen und Kliniken, bringen und holen, und ich denke mir den Job als sehr angenehm zurecht, fahre vielleicht schon Morgen, alleine, die Tour bei offenem Fenster und tumber Stille, in der man in meinem Hirn einen winzigen Hamster rotieren sehen kann, in einem winzigen Hamsterrad einer winzigen Möhre hinterher jagend, die sich partout nicht fassen lassen will. In der Kleinstadt A. hupt mein neuer Chef an einer Ampel einem kaum zwanzigjährigen Mädchen zu und grinst dreckig hinüber – ich verschmelze mit dem klebrigen Beifahrersitz. Der Wunsch, unsichtbar zu sein, oder nicht zu existieren, oder zerlegt in Geschwüre in den Boxen im Kofferraum zu sein, ist übermächtig. Innere Kündigung. Die Sache erledigt sich endgültig bei der Ankunft in der Basis, als mir mein zukünftiger Ex-Chef, le Bub Sir, der mich offenbar richtig ins Herz geschlossen hat, väterlich auf die Schulter klopft: Dann sehen wir uns Morgen wieder! Ich würde sagen, Sie fahren diesen Monat mal mit mir, damit Sie das von der Pieke auf lernen! Gleichzeitig offeriert mir die Chief-Mum, dass ich doch sicher Verständnis dafür habe, dass sie mir für die Einarbeitungszeit nichts zahlen kann, weil sie ja den Bub bezahlen muss. Und das Anfang Monat! Elegant verweise ich auf die komplexen Meldungen bei der Künstlersozialkasse und dass ich – beim besten Willen – ohne Vertrag nichts machen darf, und dass es für den Arbeitgeber sehr teuer werden kann … wir verbleiben mit getauschten Telefonnummern.

Seitdem herrscht Friede in mir. Das Hamsterrad steht still. Ich fabuliere an einem Traktat über gesellschaftliches Glaukom und sozialen Innendruck.