Schönwetterdepression

Das Wort muss notiert werden. Schönwetterdepression ist, wenn immer Schlechtwetter ist, und es vom einen auf den anderen Tag schön wird. Der Mensch kommt mit diesen Extremen nicht zu Recht. Ein Meteolag (abgeleitet von Jetlag).

Mittlerweile hat man sich an das „normale“ Wetter wieder gewöhnt. Zum Glück. Es bremst leider die Arbeitswut am Jakobswegbuch. Gestern während meines Livetrackingexperiments, spüre ich einen Hauch Defaitismus. Wozu soll ich ein Buch, dessen Handlung im Winter spielt, im Sommer herausbringen? Es wird nicht klappen, diese Woche das Schriftstück zu vollenden.

Erst, wenn ich die Arbeit am Alten und die Arbeit am Neuen (neue Liveblogideen, Pläne für neue Reisen versus das Aufarbeiten der Jakobsweglivereise und des Ums Meer Liveblogs) als Einheit betrachte, macht das alles einen Sinn. Innovation geht Hand in Hand mit dem Zementieren des Fundaments. Bin ich der verrückte Innenarchitekt im zehntausendstöckigen Hochhaus der prozessorientierten Literatur? Während unten noch am Rohbau gearbeitet wird, tapeziere ich schon die Wände meines Wohnzimmers?

Einge Minuten stehen Soso und ich auf dem NOK-Wehr an der Aaare und beäugen die Wassermassen und ich versuche ihr dieses tiefe innere Bild zu vermitteln, das sich mir aufdrängt, wenn der ruhige Fluss über die Kante stürzt, zwei drei Meter tiefer sich in ein wirbelndes, chaotisches Etwas verwandelt. Ein wuchtiger, entwurzelter Baum treibt in den Massen – eben, noch vor der Kante, war seine Bahn berechenbar. Mit konstanter Geschwindigkeit liegt er im ruhigen Fluss, aber ab dem Übergang, verschwindet er in einem sprudelnden Gemisch aus Wasser und Luft. Minutenlang beobachten wir, wie er gefangen in dem Wirbel, sich ab und zu aufbäumt, hin und her geschleudert wird, und es will und will ihm nicht gelingen, das Ende der Turbulenzen zu erreichen und weiter zu treiben im Strom. Soso hatte mich vor einigen Tagen gefragt, wie fühlt sich das an, über den bevorstehenden Tod eines geliebten Menschen zu sinnieren? – für eine Szene in ihrem neuen Buch, wollte sie das wissen – es ist, als ob dir von einer Sekunde auf die andere alle Kraft aus dem Körper gesaugt wird und von dir nichts mehr übrig bleibt, als ein armseliges, atmendes Etwas ohne jedes Ziel und jede Richtung, sagte ich. Dann radelte ich an den überfluteten Flüssen entlang und mit jedem Stauwehr und jedem Wirbel, der nach ruhiger, glatter Wasserfläche folgte, manifestierte sich das Bild von der Vorstellung vom Tod des lieben Menschen in genau diesem Prinzip.

Ich schweife ab. Noch immer müsste die Geschichte des Rheins neu geschrieben werden. Aber heute geht es erst einmal raus in die Natur, schließlich habe ich neben all diesen Überlegungen Urlaub.

Künstler in Bewegung ohne Wurst

Nachts kann ich die Finger nicht von Squawk! lassen, einem Live-Tracking-System, welches den „Künstler in Bewegung“ in Bewegung zeigt. Wenn man dem Link folgt, und einen X-beliebigen Namen eingibt, um auf die Karte zu schauen, sollte man Mösjö Irgendlink, moi même, in den nächsten zwei Stunden als Pfeil auf der Karte wandern sehen. In Echtzeit. Zur Zeit sitze ich auf einer schattigen Bank an einem Bächlein außerhalb von Lenzburg. Ziel ist der Hallwiler See, wo ich, nachdem ich einkaufen war, eine Wurst und Brot essen will. Die Füße ins Wasser.
Wenn schon in Echtzeit beobachtet werden können, dann auch so viel Privatsphäre wie Wurstessen … ne, im Ernst, es geht mir darum, unter Preisgabe aller Privatsphäre, zu testen, ob es funktioniert, live verfolgt werden zu können. Ein Selbstversuch. Hatte ich bisher immer geglaubt, ich operiere am offenen Herzen der Literatur, indem ich Bloggen, Twittern, Facebooken bis an die Grenze ausreize, komme ich jetzt zur wahnhaften Vorstellung, ich BIN das offene Herz der Literatur. Hier der Link zur Livekarte:
Nachtrag: der Link ist jetzt unterbrochen. Tourexperiment beendet. Ob es ein Element ist, das bei der nächsten Livereise zum Einsatz kommt, hängt davon ab, ob sich der hohe Energieverbrauch (zwei Akkupacks in sieben Stunden) managen lässt (in sieben Stunden füllt der Nabendynamo noch nichtmal einen Akku). Die Datenmenge, die das Experiment verprasste, sieben MB, stellt eine weitere Hürde dar.
http://gpskit.garafa.com/squawk/webview.php?wc=1754806633&gid=ba82370bd5

In Lenzburg
In Lenzburg (CH)

Runter zum Rhein

Seltsam in Waldshut zu tiengen
Einsam steht jeder Baum und Strauch …

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Die Geschichte des Rheins muss neu geschrieben werden. In Leibstadt beim Kernkraftwerk stehe ich neben der Staumauer, tippe diese Zeilen, das Hochwasser geht zurück. Eine sechzig Kilometer-Runde von Brugg aus gestartet. Das Bild ist an der Aare aufgenommen, die bei Koblenz (Schweiz) in den Rhein mündet. Aber die Geschichte des Rheins muss ja neu, später, wenn ich wieder daheim bin.

Schon wieder „Schon wieder ein Jakobsweg“

Die Leseprobe für das 2010 live gebloggte Jakobsweg-Buch ist soeben fürs Lektorat fertig geworden. Das Titelbild, das ich für ein Ebook benötige, wird wohl die Version Sieben aus einer Reihe verschiedener Motive werden. Die erste Version zeigte noch die Kathedrale in Santiago. Aber für ein Buch, das nicht christlich motiviert ist, finde ich das ein bisschen dick aufgetragen. Auch vom ursprünglichen Arbeitstitel „Nach der Schuld ist vor der Schuld“, habe ich mich verabschiedet.

Buchcover Schon wieder ein Jakobsweg
Buchcover „Schon wieder ein Jakobsweg“ – Liveblog von Jürgen Rinck (Irgendlink)

Urban Artwalk Burgdorf

Yet Another Vorstellungsgespräch. Dieses Mal nicht im Bürotrakt einer Shoppingmall, sondern in einem typischen Berner Bauernhaus. Ein Ding, das nur aus Dach zu bestehen scheint, durchweg aus Holz gebaut. Wuchtig liegt es am hochwasserführenden Mühlbach des Flüsschens Emme in einem Gewerbegebiet. Deutlich spürt man, wie die Stadt das Land überwuchert. Ich lasse mich durch die Sträßchen treiben, fühle mich entwurzelt, nicht dazugehörig. Die Schweiz kommt mir vor wie eine Puppenküche. Sauber, aufgeräumt, wohlgefügt, alles wie im Traum, zudem sind die Menschen nett. Der Typ kranker Spinner oder protziger Proll oder hysterischer Aufmerksamkeitssucher oder psychopathischer Was-auch-immer, läuft einem hier nur selten über den Weg. Geld spritzt aus allen Ritzen. Auf der Straße kleben, selbst vor Bahnhöfen kaum Kaugummis. Es liegt kein Müll herum. Auf Autobahnen hält man sich an die Geschwindigkeitsregeln. Kaum einer drängelt oder lichthupt.
So laufe ich fotografierend durch das Idyll. Aber es will nicht stimmen. Plötzlich fühle ich mich alleine. Oder fremd? Ja, fremd ist besser. Vor einer Kirche, einem neumodischen Betonding, trifft mich auf einer Parkbank sitzend die Wucht der Fremde. Die Schleier der Realität flattern im Frühlingswind, mich fröstelt, das Tausend-Meilen-von-Daheim Gefühl beschleicht mich. Wie im Alptraum sind von jetzt auf gleich alle meine Liebsten gegangen und muttersellenalleine hocke ich, Jahrzehnte in die Zukunft katapultiert, noch immer denkend, mich windend, nach dem Großen suchend, das man nicht aussprechen und nicht finden kann, auf einem in Ewigkeit rotierenden Planeten. Wenn ich eine Funtionsschleife in einem Computerprogramm wäre, hätte ich mich längst aufgehängt, würde sinnlos auf meine eingespielten Routinen rückkoppeln. Was bleibt, ist die Hoffnung auf den Befehl „clear“.
Das reinigt die Sinne. Ich versuche ein offenes WLAN zu finden. Vergeblich. Die Neuapostolen haben ein gutes Passwort. Dabei würde es genügen, am Pfarrhaus zu klopfen und zu fragen. Wie früher Obdach und Brot, würde man heute Netz und Strom erhalten, spinne ich. Die leere Welt meiner Phantasie hinter den Schleiern meiner mutmaßlichen Zukunft, ist wieder unsichtbar. Mächtig erschreckt hat mich die Kälte, die bodenständige Manifestation von Sinnlosigkeit, so als sei Sinnlosigkeit das ultimativste aller Fundamente. Pfahlgründung der Seele auf dem morastigen Boden der Sinnsuche.
Ein kühler Ostwind lullt mich ein. Ich fühle mich wieder wie der Reisende, wie der Umrunder der Nordsee, der ich im letzten Jahr war. So unglaublich es klingen mag, während der vier Monate alleine auf dem 7000 Kilometer langen Radweg um die Nordsee, habe ich mich keine Sekunde alleine gefühlt. Obschon man chronisch fremd das Land durchquert, ist man als livereisender Blogger doch stets daheim. My Home is My Blog, steht groß geschrieben über meinem virtuellen Kamin. Das Feuer der Neugier lodert darin.
Von allen Gegenden, die ich durchquerte, sind mir die menschenleeren am Liebsten.
Gemütsschwächelnd fotografiere ich nach Herzenslust und ohne Konzept das kleine Burgdorf. Das Auge kreist dabei im Spannungsbogen zwischen blauem Himmel und den abflauenden Fluten der durchweg kanalisierten Rinnsale und dem von Menschenhand geschaffenen grauen Band, das niemals endet.

Urban Artwalk Burgdorf
Für diese Woche gibt es nur noch drei Dinge zu tun:
Das Jakobswegbuch wird gründlich lektoriert. Die große Zweibrücker Col Art Ausstellung (www.prismakunst.de) wird vorbereitet, und ich möchte mit dem Fahrrad zum Rhein runter radeln, an den Punkt, an dem die Aare mündet.