Kanzel II – die Leiter schlägt zurück

Um die Jahreswende sind zwei meiner eBooks als Print Version fertig geworden. Schon wieder ein Jakobsweg gibt es unter folgender Adresse: http://www.epubli.de/shop/buch/33380. ISBN: 9783844278675. Softcover, 9,95€.
Kanzel – das große Jägerlatinum ist als Hardcover erschienen im Format 20,5×20,5 cm: http://www.epubli.de/shop/buch/Kanzel-Jürgen-Rinck/33633. Der recht hohe Preis resultiert aus den üppigen Druckkosten. Ist jedoch für einen farbigen Bildband gerechtfertigt.

Mit untigem Bild konnte ich ein lang ins Auge gefasstes Motiv als vierzigstes Element für den in Planung befindlichen Bildband Kanzel II fotografieren. Der ungewöhnliche Jagdsitz auf einem Container steht direkt an der Schnellstraße zwischen Haguenau und Strasbourg.

Kreative Hochsitzlösung auf einem Container bei Haguenau

Die hintersten Winkel der Stadt

Wie die Motten ins Licht des Sehenswerten – jenseits der kilometerlangen al-hambresquen Stadtmauer parken wir das Auto auf dem scheinbar letzten freien Parkplatz der Stadt. Nachunskommende behelfen sich mit widrigen Plätzen in Durchfahrten, auf Gehwegen, vor Zebrastreifen, provençealisch legèr schlagen sie die Türen verbeulter Kleinwagen zu und verschwinden in einem winzigen Loch in der Stadtmauer. Wir nehmen das Haupttor die Rue de Thiers mitten ins Herz der Stadt. Rue de chiers, rue de chiers, rue de chiers, rattert dabei ständig die Gedankenmühle und ein monalisa-isches Lächeln umspielt meine Lippen.
Papstpalast, Parks, Plätze, riesenseifenblasenblasender dreitagebärtiger Mann und Bob Marley persönlich scheint auferstanden im Schatten einer Platane zu singen. Eine Drohne schwirrt über den Dächern, umkreist die goldene Madonna auf dem höchsten Turm, dazu das schräge Winterlicht und die halbe Rhône-Brücke. Welches ist das meistgedachte Lied jetzt hier?, fragt SoSo. Für einen Moment vertreibt Sur le Pont d’Avignon, on y dance on y dance mein mantrisches rue de chiers.
Später, abseits des Mahlstroms des Tourismus, der einen zähen Allerweltsbrei durch die engen Gassen treibt, entdecken wir eine kleine, schlafende, aufgerissene, in Umbau befindliche Straße entlang eines Mühlbachs. Die Bäume am Rand sind allesamt mit knallrotem Plastikrohr umwickelt zum Schutz vor Baggerschaufeln. Im Mühlbach hängen verwitterte, festgefahrene Mühlräder, deren Achsen in einem nichtendenwollenden Gebäude verschwinden und auf der anderen Straßenseite reihen sich Cafés, Läden, Theater, Ateliers, winzig winterzu. Schon schmeckt man den nächsten Frühling, die renovierte Straße, das pulsierende Leben jenseits der Jahreswende.
Eine Bildtafel zum Thema findet sich in diesem Artikel ganz unten.
Straßenszene in Avignon

Jahr ohne Termin

Ein Jahr ohne Termin!, schießt es mir kürzlich in den Sinn. Ich stehe auf der Treppe zur Künstlerbude, umlullt von Herbstluft und phantasiere, wie es wäre, wenn sich Zeitempfinden in Luft auflösen würde. Eine nicht enden wollende Kette von Ewigkeiten wäre die Folge. Ich öffne die Wohnungstür, greife zum Telefon und vereinbare einen Arzttermin um Punkt acht Uhr im Februar. Kurze Zeit später liebäugele ich mit Winter in der Provence, greife zum Internet und buche eine Ferienwohnung von dannunddann 2013 bis dannunddann 2014. Das wars dann endgültig mit der phantastischen Idee vom Jahr ohne Termin. Wir müssen dannunddann um Punkt elf den Ferienwohnungsvermieter treffen und die Bude sauber geputzt zurück geben. Auch Silvester ist nicht gerade terminfrei. Um vier Minuten vor vierundzwanzig Uhr stehen SoSo und ich auf der Burgruine von Saint Viktor. SoSos Handywecker klingelt, damit wir rechtzeitig in Position sind, um über das knapp 2000 Seelendorf und die Rhône-Ebene zu schauen und uns ein schönes neues Jahr zu wünschen. Wir sind alleine. Vom Dorf hören wir zwei Silvesterparties, nervöse Hunde, durchsetzt von Stille und dem leisen Säuseln der weitwegen Autobahn. Der Tumult mit Rauch und Tamtam um Punkt null Uhr zeigt sich sehr verhalten. Ein zehntausend-Watt-Strahler streicht weißes Licht über die erste Burgmauer und erhellt das dahinter stehende einstige Burggebäude. Mit den Armen rudernd werfen wir Schatten an die Wand, scharfe, winzige Menschenschatten, die man von unten aus dem Dorf vielleicht gar nicht wahrnimmt, so weit oben sind wir. Flaggenanalphabetismus … was wir wohl gerade ausdrücken mit unseren ungelenken Flaggenarmbewegungen?
Nordöstlich über Orange zuckt Feuerwerk. Avignon, fast zwanzig Kilometer entfernt und ohne Wolkendecke, ist nicht zu erkennen.
Bild: Urban Artwalk Avignon, im letzten Jahr. Einige Stunden erforschten wir die als Welterbe anerkannte Stadt. Die Hipstamatic-App wurde auf Zufallsmodus gestellt. Die Fotos später in appspressionistischer Manier per TurboCollage zu einer sieben mal sieben Bildertafel arrangiert. Auch auf erdversteck.de gibt es eine Szene aus Avignon. MudArt Künstler Moorlander hat in seinem skandalumwitterten Werk Sur le gâchis d’Avignon eine bizarre Kulisse im Vordergrund der berühmten Pont d’Avignon geschaffen.

Bildcollage mit 49 Hipstamatic Fotos aus Avignon quadratisch
Urban Artwalk Avignon 30. Dezember 2013

 

Saint Victor

Unerwartet entspannt am Heilig Abend morgens die Schweiz durchquert, vorbei an Bern, Yverdon, Lausanne und durch das unheimliche Genf, in dem einst Gehörtgesagtes Schwarze Löcher suggeriert wegen des unterirdischen Teilchenbeschleunigers und Smoke on the Water seit Jahrzehnten herübertreibt vom anderen Seeende und sich Alpen und Jura zu einem Trichter verjüngen, der uns jenseits des Rhône-Durchbruchs ausspuckt Richtung Süden. Derweil die schneebedeckte Alpenkulisse, angereichert von französisch pompösen Gewerbegebieten und gezuckert mit temporärem Starkwind, der unser kleines Auto mitunter meterweit versetzt – rotweiße Windsäcke vor jeder Brücke und die Displays prangen metergroß über der Fahrbahn, Achtung Vent fort und: die Menschen mit den gelben Warnwesten sorgen für votre securité. In der Tat wuseln alle paar Kilometer kleine Straßenarbeitertrupps und beseitigen vom Orkan gebrochene Bäume oder reinigen die Rastplätze. Gegen halb sieben erreichen wir unser Domizil in Saint Victor, eine künstlerbudengroße Gîte.
Ein erster Spaziergang durchs uralte Dorf lässt im Dusterlicht nur das Beste vermuten: Fremde! Stille und dieser kleine Funken Exotik, der einen schon wenige hundert Kilometer von zu Hause stets anspringt.
SoSo schlägt den direkten Weg zum Castell ein, das mit einem schneeweißen Strahler, der unten im Dorf angeschlossen ist, taghell geradezu nachtfaltresque einen verleitet, hinauf zu kraxeln. Aber ich mahne, wir sollten uns diese Sehenswürdigkeit noch aufheben für die schlimme Zeit der Feriendepression und der Sinnfrage, die sich irgendwann nach ein paar Tagen vor Ort vielleicht einstellt und SoSo fragt, du meinst wie mit den Essen, das Gute zum Schluss? Ja, sag ich. Aber wenn man fettgefressen ist vom Wenigerguten, dann tut das Gute zum Schluss doch auch weh?
Allein die Dunkelheit hält uns ab, schon abends zum Schloss hoch. Am nächsten Tag bietet sich dem geneigten Château-Erklimmer schließlich folgendes Bild:

Panorama Saint Victor Blick ins Rhônetal