Ich muss verrückt sein, damit zu liebäugeln, Anfang März das Reiserad zu satteln und quer durch Frankreich zu radeln, vom ‚Großen Osten‘ des sechseckigen Landes einmal mitten durch bis in die Pyrenäen, mehr noch, dort auch noch hinauf auf den über 2400 Meter Hohen Pass namens Porte d’Envalira und weiter, weiter, weiter in einer geradezu abartigen Rutsche auf der unheimlich stinkenden, dieselrußgesättigten Passstraße bis nach La Vella, Andorras Hauptstadt.
Gerade habe ich mir verschiedene Webcams angesehen, um herauszufinden, ob der 1500 Meter hohe Mont Lozère, der auf der Strecke liegt, Schnee hat und wie die Hauptstraße zwischen Ax-les-Thermes und Andorra ausschaut. Bilder sagen weniger als tausend Temperaturanzeigen an den vielen Wetterstationen, die zwischen den Webcams auf der Karte gelistet sind. Kurzum, noch ist es recht winterlich und ein garstiges Lüftchen überweht Frankreich von Südwest nach Nordost.
2020 ist es wieder so weit. Ich habe die Reise schon in den Jahren 2000 und 2010 als Kunstprojekt realisiert. Dass ich die Tour auf fast identischer Strecke nach zehn Jahren wiederholt habe, bedingt irgendwie, dass ich es nun, noch einmal zehn Jahre später, wieder tue. Was für ein Kreuz die Konzeptuelle Blogreisekunst doch ist.
Warum die Reise schon im Vorfrühling beginnen? Ich möchte zur Gartensaison wieder auf dem einsamen Gehöft sein. So ein Künstlergarten bestellt sich ja nicht alleine.
Außerdem benötige ich später im Jahr noch etwas ‚Luft‘, um das Bayernprojekt, das 2018 begann, zu beenden.
Hey, denk mal nach, die Hauptwindrichtung führt doch vom Bärlauch zum Kernkraftwerk und nicht umgekehrt!
Das chinesische Insekt ist auch hier, sagt der Mann. Ein sonniger Tag in einem gespenstisch leeren Aargauer Dorf. Eigentlich wollten Frau Soso und ich nach einem Spaziergang entlang der Aare – wie schon so oft – in dem feudalen Café im örtlichen Schloss eine heiße Schokolade trinken und den Sonntagnachmittag genießen. Das Café ist aber zu. Vor der Tür liegen Kisten. Der Briefkasten quillt über. Es sieht ein bisschen verwahrlost aus oder mindestens, um es brachial schwedisch zu sagen, ‚for ever stengt‘, für immer zu. Wir setzen uns auf Korbsessel in dem parkähnlichen Innenhof und Frau Soso versucht, die Baumart zu bestimmen, die uns überragt. Buchen vielleicht? Oder Eichen, mutmaße ich. Nee, da liegen doch Ahornblätter. Quatsch, das ist Efeu. Frau Soso fragt die App und die sagt, es sind asiatische Platanen, riesige Wesen, die in den letzten zig Jahren hier was-weiß-ich-schon-alles gesehen haben mögen. Das Dorf ist wie verlassen. Wir begegneten auf unserem Spaziergang nur wenigen Menschen. In einem Hinterhof ist ein Weinlokal geöffnet. Halligalli in dunklem Raum voller presswurstähnlichem beseeltem Klientel. Wir beobachten den plaudernden Frohsinn durch offene Türen.
Dann der Mann mit dem Insekt, den ich erst einmal gar nicht verstehe. Hä, wassen für ein Insekt? Ist da etwas Schlimmes, denke ich? Will schon naiv fragen, ob eine Spezies in die Schweiz eingewandert ist, die es den örtlichen Bauern schwer macht und die Weinernte frisst. Jenseits auf der kleinen Insel in der Aare pumpt das Kernkraftwerk ganz unscheinbar und hier an der Glastüre des Besucherzentrums hängt ein Zettel, dass das Zentrum bis auf Weiteres geschlossen bleibt und da dämmert mir, dass der Typ, ein alter, verkautzter Kerl, mit dem Insekt, das Virus meint. Schallend kracht der Groschen endlich. Ich bin geneigt, zu husten. Nur so aus Trotz, archetypisiere den Kerl als konservativ bis rechten Drecksknauser, der ganz gewiss die SVP wählt, aber vielleicht habe ich unrecht. Mögen tue ich ihn auf keinen Fall. Es gibt solche Menschen, leider immer mehr, die man auf den ersten Blick und wegen ihrer Äußerungen kategorisch nicht mag. Er nähert sich uns nicht, treibt sich stattdessen im Park herum, wo es einige physikalische Experimente mit sich drehenden Maschinen gibt, wohl um das Klientel des Besucherzentrums des Kernkraftwerks auf die Führungen einzustimmen. Wer weiß, vielleicht mache ich solch eine Führung auch einmal mit, wenn denn das ‚Insekt‘ endlich wieder weg ist. Eines der schönsten Experimente in dem Park ist eine akustische Installation zweier Parabolschalen, etwa fünfzig Meter voneinander entfernt, gegenläufig ausgerichtet, in die man sich hineinsetzen kann, einer hier, einer dort und sich in normaler Lautstärke unterhalten kann. Frau Soso und ich konzentrieren uns jedoch darauf, im Innenhof des Schlosses, neban des Besucherzentrums auf den Korbstühlen zu lungern und über die asiatischen Platanen nachzudenken und uns die Frühlingssonne auf die Körper brateln zu lassen. Später finden wir in einem lichten Wäldchen jenseits der Kernkraftwerksinsel ein halbhektargroßes Areal mit jungem Bärlauch, ernten unser Abendessen und abends, als wir den Sack voll Bärlauch, den wir ernteten in eine köstliche Lasagne verwandelt hatten, kamen kurz Bedenken, hey, Kernkraftwerk da und Bärlauch hier, in Spuckweite voneinander entfernt und nur das naive Bärlauchsammelbübchen in mir argumentiert, hey, denk mal nach, die Hauptwindrichtung führt doch vom Bärlauch zum Kernkraftwerk und nicht umgekehrt, genieße die Köstlichkeit. Aber so einfach ist es leider nicht.
Quäl dich, du Sau! Schreib!
Nachmittags lief es ziemlich verquer mit einem ersten, informierenden Blogeintrag über das bevorstehende Projekt Zweibrücken–Andorra 2020, bekannt unter dem Hashtag #zwand20. Irgendwie radebrechend an einem Artikel über das Vorhaben und die vielen Unsichtbarkeiten, die – arbeitstechnisch – dahinter stecken, verrannte ich mich in einen Blogartikel, der mir so ganz und gar nicht gefallen wollte. Ein holperndes, seelenloses Etwas, so diagnostizierte ich resigniert beim ersten Korrekturdurchlauf. Das darf nie nie nie an die Öffentlichkeit, dachte ich. Ich legte das digitale Machwerk zu den Privatnotizen ins Blog und hielt erst einmal ein Mittagsschläfchen. Ziemlich geknickt. Wie soll das bloß werden mit den kommenden Tour, wenn ich denn nächsten Dienstag schon losradele und allen da draußen verspreche, ich berichte über die Reise? Wie gewohnt am offenen Herzen der Literaturin Konjunktion der Klaviatur der Tweets mit der orchestralen Wucht dieses Blogs, ein literarisches Einmannorchester auf den virtuosen, spiegelglatten Tasten des Smartphones, hey! Was für eine Katastrophe, wenn ich mich tagelang in erklärenden Meta-Artikeln über die Eingeweide der Software und was weiß ich, was ich noch alles im Hintergrund geschuftet habe, auslasse. Mann Mann Mann. Laaangweilig. Vergiss den Artikel, sagte ich mir. Er spielt keine Rolle und überhaupt, Junge, du hast doch gar keine Übung mehr im Schreiben. Du kannst nur noch coden und kryptisches Zeug auf dem Terminal tippen, aber eine echte, packende erlebte Geschichte, die kriegste so nie und nimmer hin. Du bist eingerostet. Ein alternder Westernheld, der mit zittriger Hand das Schicksal bedrohter kleiner Westerndörfer zum Guten wenden soll.
Nachdem ich am Wochenende das Reiseradel endlich mit neuen Ersatzteilen bestückt hatte, bin ich sonntags in einer der raren Regenpausen ein bisschen testfahrend unterwegs gewesen, nur etwa zwanzig Kilometer im Kreis (das Hamsterrad des Europareisenden sozusagen) abwärts in die Stadt, dabei einen Track mitlaufen lassend, genau wie beim richtigen Reisen und was soll ich sagen, welch Wohlgefühl! Das neue Schaltwerk, nach elf Jahren erstmals ersetzt, nach mindestens dreißigtausend Kilometern, vielleicht auch mehr, ich kriege die Gesamtzahl nicht mehr auf die Reihe, läuft wie ein Nähmaschinchen. Hätte ich gewusst, wie leicht es ist, eine neue Schaltung einzustellen im Gegensatz zur alten ausgeleierten, ich hätte schon viel früher gewechselt, sagte ich mir. Aber immerhin, es ist gut, zu erkennen, dass man auch eine Schaltung dreißig- vierzigtausend Kilometer fahren kann, nur für den Fall, dass man einmal um die Welt radeln möchte. Egal. Mir dämmerte plötzlich, dass ich sowohl radlerisch, also körperlich, als auch schreiberisch, also kreativlich total aus der Übung bin und dass ich im Vorfeld der Reise nicht nur den Körper in den Sattel hieven muss, sondern mich auch dazu zwingen muss, schreiberisch Fitnessübungen auf mich zu nehmen. Ich muss mich warmschreiben vor der Reise. Der Artikel vom Nachmittag bleibt für alle Zeiten geheim, aber vorhin, in einer Art Anwandlung und Rückbesinnung auf Vergangenes, schrieb ich einen kurzen Artikel, der dem Zyklus UmsLand/Bayern zuzuordnen ist (siehe voriger öffentlicher Blogartikel) und da wurde mir Zweierlei klar: auch Schreiben braucht Training und Gewohnheit, ganz wie Sport, Radfahren, Wandern und es ist verdammt wichtig, ein Thema zu haben, also ein greifbares Etwas, ein Leitfaden, ein Track und nicht solche Lullifullie-Problemschilderungsmomente, in denen sich der Autor, moi même, im Kreis dreht und sich über die uninteressanten unsichtbaren Arbeiten auslässt, die er unter der Motorhaube des Blogs und der ganzen Livereisemaschinerie durchführt, damit das Maschinchen am Ende wohlig schnurrt.
Zum Training, ich habe ja noch ein paar Tage, bis ich auf Tour gehe (es sei denn, das der Virus funkt dazwischen), habe ich zum Glück noch einige Baustellen lose Fäden, an denen ich weiter knüpfen kann. Die nächsten Tage werden zeigen, ob es mir gelingt, den Blogreaktor wieder in Betrieb zu nehmen. Bleibt am Ball. Oder auch nicht. Ganz wie es Euch beliebt.
Oh, und fast vergaß ichs, der Blogtitel, der ausnahmsweise schon vor dem Schreiben dieses Eintrags feststand, ist ein Zitat des Pfälzer Radprofis Udo Bölts, der, wie Wikipedia schreibt, Jan Ulrich in den Vogesen auf der 18. Etappe der Tour de France 1997 mit diesen Worten anfeuerte.
So lange rund ums Saarland radeln, bis die Pandemie vorbei ist
Hygiene, jawohl, Hygiene, das wäre mal ein Vorname, Hügiene mit fettem Ü und einem schönen, langgezogenen I wie in Gesine. Man könnte diesen Namen als Zweitnamen einsetzen wie zum Beispiel Maria: Rainer Hygiene Rilke, Hygiene Theresia, Klaus Hygiene Brandauer, Hygiene Magdalena, Hygienekäfer, ich hatte eine Hygieneerscheinung usw.
Spaß bei Seite, bzw. ein bisschen Galgenhumor. Die Pandemie macht mir im Vorfeld der Reise zu schaffen. Noch vor anderthalb Wochen schien die Welt halbwegs in Ordnung. Damals, als ich eigentlich hätte starten wollen, wäre das Wetter denn nicht so schlecht gewesen und, naja, hätte ich das Fahrradersatzteil rechtzeitig gekriegt. Vermeintlich Schuldige am Ausgang der Dinge und an den Zuständen wie sie herrschen sind immer schnell gefunden. Im Falle der geplanten Radelreise: Nein, das Wetter war nicht schuld! Und nein, das Ersatzteil hätte ich auch schneller haben können, wenn ich es nicht beim Fahrradhändler meines Vertrauens bestellt hätte.
Das alles ändert aber nichts am derzeitigen Zustand. Ich habe ohnehin richtig und vernünftig gehandelt. Ein ehernes Gesetz beim Start einer Radelreise lautet: Fahr nicht los, wenn es dauerregnet. Und es regnete ja dauer.
Dienstag soll der Frühling ausbrechen. Ideale Bedingungen für das Reiseprojekt. Momentan habe ich mir folgendes überlegt: Bis Dijon in Burgund sind es etwa fünf Tage zu radeln und ich bewege mich nicht sehr weit weg von daheim. Könnte notfalls, wenn die Gegend wegen Eindämmungsmaßnahmen gegen die Pandemie unbereisbar wird, mich per Radel in die Schweiz oder zu Freunden ins Jura durchschlagen oder einen TER-Zug zurück nach Saargemünd (quasi bis fast vor die Haustür hier in der Pfalz) nehmen. Wenn der Zugverkehr noch aufrecht ist.
Vorgestern kaufte ich im Nachbarstädtchen ein Brot – mit solchen Kleinigkeiten fängt es an, sich in die Nachdenklichkeitsspirale zu begeben. Die Bäckerin in der winzigen Dorfbäckerei neben dem Stadttor packte den Laib mit bloßen Händen, tütete ihn ein und überreichte ihn mir strahlend. Woraufhin ich mir die Bretzel zum Direktverzehr kurzerhand verkniff. Das Brot, ich zahlte mit Münzgeld, sagte ich mir, kannst du ja eine Weile liegen lassen, bis allenfalls darauf klebende Viren vergehen. Ich habe einmal gehört, dass die Viren nach acht bis zehn Stunden nichts mehr anrichten. Ich weiß nicht, ob das stimmt, nichts Genaues weiß ich nicht. So klemmte ich das Brot auf den Gepäckträger, fuhr nach Hause und ließ es über Nacht im Atelier zum Dekontaminieren. Ich Genie.
So weit so gut. Unterwegs herrschen aber andere Bedingungen. Wenn ich unterwegs Brot kaufe oder eine in Frankreich so oft angepriesene leckere Pizza oder Eclaire oder sonst irgendwo etwas einkaufe, kann ich nicht erst alles auf dem Gepäckträger zwölf Stunden dekontaminieren. Zudem ist Hände waschen auf Radelreisen nicht so einfach wie daheim, wo man immer fließendes Wasser hat. Wie reist man im Falle einer Pandemie? Packtaschen voller Mehl und Couscous und sich permanent selbst versorgen, möglichst niemandem begegnen, immer wildzelten, sich in frühlinghaft frischen Flüssen baden? Klingt gar nicht so unmöglich, diese Vorstellung.
Oder ganz normal reisen wie immer, auf Teufel komm raus?
Oder nicht reisen?
Oder statt nach Andorra zu radeln so lange rund ums Saarland fahren, bis der Spuk vorbei ist (irre Idee, zwar nicht ernst gemeint, aber als Kunstprojekt verlockend). Ich sollte erwähnen, dass der große Saarlandradweg, der ziemlich genau an der Grenze des meistverglichenen Bundeslandes der Welt führt, nur 350 Kilometer lang ist und fast direkt vor meiner Haustüre beginnt. Im Herbst 2018 bin ich die Strecke in fünf Tagen geradelt. Man begegnet auf dem großen Saarlandradweg kaum Menschen :-).
Dieses Gedankensammelsurium klingt vielleicht merkwürdig. Aber ich versuche mir vorzustellen, wie sich das Ganze entwickelt und nehme als Blaupause Zustände wie sie momentan in Italien herrschen … vielleicht doch besser abwarten?
Wäre das Wetter bloß nicht so verlockend und das Reiseradel hufscharrend im Atelier.
Hier habe ich das Projekt Zweibrücken-Andorra einmal auf einer Karte skizziert.
Mitreisewillige und Bloglesende können hier iDogma-Karten bestellen. Manche werden sich an die Reisen zum Nordkap und nach Gibraltar erinnern, auf denen ich etliche dieser kleinen Mailart-Kunstwerke kreierte. Hier zum Beispiel die iDogma-Karten des Projekts #AnsKap.
Vom Hühnerfred, Olivenbäumen, Blutsbrüderschaft und schwer fassbaren Ichs
Ein Spaziergang im Wald am gestrigen, brilianten Sonntag. Wir sammeln Birkenrinde zum Feueranzünden. Daheim tauen die Grillwürste auf, die beim Wintercamping mit Freunden Ende Februar noch übrig geblieben sind. Offizielles Angrillen. Frau SoSo fragt, was ich mir bei einem Blogartikel, den ich kürzlich geschrieben habe, gedacht habe; wie ich auf diesen oder jenen Gedanken kam. Ich weiß nicht mehr, um welchen Artikel es ging. Ich antworte spontan, ich habe gar nichts gedacht. Ich denke nicht. Es denkt in mir und ich bin mir nicht sicher, ob es mich als Ich überhaupt gibt. Die Bezeichnung Ich für sich selbst ist doch nur ein Notbehelf für etwas, das man bezeichnen muss, das man aber nicht erklären kann. Das mag verrückt klingen. Durch jungkeimendes Grün stapfend, unter umgestürzten Fichten hindurch limboisierend, bin ich plötzlich ziemlich perplex und denke, der Ich heute ist ein Anderer als der Ich vor ein paar Jahren und als der vor zig Jahren und wieder ein Anderer als der Baby-Ich. Fast wie ein kleiner Freispruch, dass wir alle einmal als gute Menschen auf diesem Planeten begonnen haben und die Zeit formt uns zu dem, was wir in der jeweiligen Gegenwart sind.
Plötzlich vibriert das Telefon. Mein Freund, der Automechaniker J. ist dran, was sehr ungewöhnlich ist. Normalerweise rufe ich ihn an, weil ich irgendwelche Schrauberkniffeleien lösen muss, aber die letzten beiden Male, geht die Kontaktaufnahme komischer Weise andersrum. Vielleicht haben wir die Grenze von der Zweckgemeinschaft zur Freundschaft überschritten? Die Grenze zur Schweiz wird dicht gemacht, sagt er, habs gerade im Liveticker gesehen, du solltest das wissen, bist du in der Schweiz? Nein, die Schweiz ist bei mir. Frau SoSo wird hellhörig und hier, so im kraftstrotzenden Wald, der sich gerade wieder aufrappelt von den Winterstürmen, herrscht plötzlich in zwei komischen Ichs, die sich auf Füßen fortbewegen eine klamme Stimmung. Wie? Was heißt das, Grenze dicht? Keiner rein, keiner raus? Darf Frau SoSo noch in die Schweiz einreisen und falls ja, darf sie durch Frankreich fahren, oder muss sie den Grenzzipfel bis Karlsruhe umfahren, sich auf die mörderische A5 begeben, last Exit Basel …? Fragen über Fragen, die sich die massenhaft getöteten Bäume, die kreuz und quer liegen, sicher nie gestellt hätten.
Ein Baum-Ich, das wäre mal etwas. Leben und empfinden wie ein Baum. Ich stelle mir das sehr selbstzufrieden, vielleicht ein bisschen fatalistisch vor. Du kannst als Baum selbst in tausend Jahren deinen Standort nicht wechseln. Der 1111 Jahre alte Olivenbaum nahe der Pont du Gard kommt mir in den Sinn, den wir um Weihnachten schon zum zweiten Mal besucht haben. Von seiner Position am Nordufer des Gardon hat man einen schönen Blick auf das Römeraquädukt. Was dieser Kerl alles gesehen hätte, wenn er ein Mensch wäre? Das gesamte Mittelalter, die Renaissance könnte er berichten, vielleicht war sogar Goethe schon bei ihm? Er könnte über die dreckige Zeit der 1970er bis 2000er Jahre berichten, in der die schmale Departementsstraße noch über eine Straßenbrücke direkt neben dem Aquädukt befahren war, in der Scharen von Touristen ihre Autos wild am Straßenrand parkten in ausgefahrenen trockenen Buchten im Ocker zerriebenen Kalkkonglomerats. Wie oft man ihn wohl angepisst hat in den 1111 Jahren? Wieviele Familien unter seinen Zweigen ihre Picknickdecken ausbreiteten und Käse, Wein, Baguette picknickten? Ob er sich erinnert, dass wir auf den Tag genau fünf Jahre zuvor auch bei ihm waren? Da war er schon erlöst von der scheiß Departemenstsstraße. Seit etwa zwanzig Jahren ist das Bauwerk, das, so glaube ich, auch Welterbe ist, für den Publikumsverkehr neu geregelt. Die Straßenbrücke wurde um die Jahrtausendwende stillgelegt, ein Besucherzentrum mit angrenzendem Park errichtet. Man darfdas Gelände von Norden her nur noch mit Eintrittskarte betreten (von Süden kann man über die Wanderwege unkontrolliert zum Pont du Gard, zumindest außerhalb der Saison). Um diese Zeit muss auch jener erhabene Moment gewesen sein, als man ihm, dem Olivenbaum, einen Stein beiseite legte mit einer Metalltafel, auf der sein Alter eingarviert ist. Vielleicht waren Honoratioren anwesend und der Moment wurde gefeiert (von Menschen für Bäume, von Menschen für Menschen?) Ob es ihn juckt, den Methusalem? Ob er sich als Ich sieht?
Ich werde es nie erfahren.
Ich huste. Die Nase kitzelt. Der Hals kratzt. Hab ich den Virus? Schon seit Freitag geht das so. Ich hatte Freund Jounalist F. mal wieder beim Einkaufen geholfen. Als Dialysepatient ist er vier Mal die Woche außer Gefecht und obendrein nicht sehr mobil. Schon seit Oktober assistiere ich. Dieser Tage jedoch kommen mir Bedenken. Die Dialyse findet im größten Klinikum hier in der Gegend statt. Tausende Menschen arbeiten auf dem vielhektargroßen Gelände. Eine kleine Stadt am Rande der Stadt. Ich erinnere mich an die Zeiten der Vogelgrippe vor etwa zehn Jahren, als man an den Pforten zum Gelände Schilder aufstellte: Wenn sie aus Land A, B oder C kommen und Symptome haben, melden Sie sich da und da. Im Laufe der Zeit wurden die Schilder immer größer und zu Land A, B und C, gesellte sich Land D, E, F und so weiter. Ich fand das bemerkenswert.
Schilder waren gestern. Heute sind es Liveticker.
Freitagsmorgens auf dem Weg zu Journalist F. hatte ich mir überlegt, ich sollte vorsichtig sein. Ich streifte eine Schutzmaske über, aber schon beim Freund in der Wohnung war klar, dass das kaum hilft. Es schütze ohnehin eher die Umwelt als einen selbst und da ich davon ausging, dass das Virus wenn, dann von ihm, der er täglich sechs Stunden im verkeimten Klinikum ist und mit weit herumgekommenen Taxifahrern unterwegs ist, zu mir springt, denn umgekehrt, ließ ich das mit der Maske wieder sein. Spätestens als Journalist F. schwindelte, er sich nicht mehr am Rollator halten konnte, in seiner Wohnung drohte zu stürzen und ich ihn mit beiden Armen unter die Achselhöhlen fassen und stützen musste und wir uns sehr nahe dabei kamen, wurde mir klar, ich kann es auch sein lassen mit der Maske. Ich bin sowieso nicht kompetent genug, sie fachgerecht anzulegen.
Ich setze die Waschmaschine auf, derweil sich Journalist F. ein wenig ausruht. Wegen der Plümeranz wird dem Freund etwas bange und er sagt, richte mal vorsorglich die Krankenhaustasche, vielleicht fahren wir da hin.
Weiter im Standard-Programm der Assistenz. Ich machte den wöchentlichen Einkauf in einem proppenvollen Aldimarkt – seit Oktober habe ich den Markt noch nie so hektisch erlebt, denke ich mir. Eine Frau neben mir am Pfandautomaten macht ein kleines Wettrennen und wir schmunzeln vor uns hin, 4,75, sage ich, 6,50, sagt sie, 7,75 kontere ich. Sie füttert fast ausschließlich anderthalb Liter Flaschen, während ich kleine Energiedrinkdosen einfülle und somit schneller bin. Mit satten 11 Euro gewinne ich knapp. Wie in einem Spiel ohne Gewinner verlassen wir den Automaten. Es ist fast wie eine kleine Blutsbrüderschaft.
Einkaufsliste abarbeiten. Normalerweise bin immer ich der, der den vollsten Wagen hat, aber nun sehe ich zig Menschen, die sich unendlich viel einladen. Trotzdem gibt es alles, was Journalist F. auf der Liste hat. Sogar Erdbeeren. Die Stimmung im Laden ist angespannt. Alle drei Kassen sind besetzt.
Draußen vor dem Laden steht der Hühnerfred. An der wie eine Hölle auf Rädern wirkenden Grillbude stehen einige Menschen Schlange, lechzenden Mundes auf die sich ruhig drehenden Hähnchen starrend. Hühnerfred steckt mit beiden Armen bis zu den Ellenbogen im Fett knusperbrauner Hühnerhaut. Selbst ohne die Pandemie im Nacken könnte ich aus purem Ekel vor den feinen Härchen seiner Arme, die sich gewiss ins eine oder andere Hähnchen verirren, nichts davon kaufen. Die Menschen, die anstehen, es sind nicht wenige, scheint das überhaupt nicht zu kümmern. Hasardeure, denen der Speichel in den Mundwinkeln rinnt. Ich sehe nicht, wie sie das mit dem Geld regeln, aber irgendwie müssen sie den Fred doch bezahlen und er muss ihnen wechseln und die Höllenbude sieht nicht danach aus, als wäre dort ein Waschbecken, in dem man mal eben zwei Vaterunser lang seine Hände waschen könnte.
Zurück beim Journalisten bin ich erfreut, ihn wieder munter zu sehen. Es ist nicht neu, dass sein Kreislauf zusammenklappt, das sei gesagt, aber eben, die Virussache macht einen etwas hysterisch und dann erkennt man nicht mehr, was sich als normal eingestellt hat an Gefühlen und Befindlichkeiten, und was durch die Angst, die einen ob der Nachrichten ergreift, aufgepfropft ist.
Abends danach, also vergangenen Freitag, erster Schnupfen. Hirn sagt sofort, Alarm. Halskratzen, trockener Husten. Samstags früh alles wieder bestens, bis sich das Hirn wieder auf den Schienenstrang der Hysterisierung begibt und hie und da ein Zwicken feststellt. Gibt es psychosomatischen Schnupfen? Husten, all das? Ich besinne mich im Laufe des Wochenendes, messe sogar erstmals seit zwanzig Jahren Fieber, 36,6, fühle Puls, entferne zwei Holzstücke, die ich im Verdacht habe, dass sie vom Rußrindenpilz befallen sind aus dem Brennholzstapel – denn die Suche nach Alternativen zum Virus, die den Reizhusten ausgelöst haben könnten, hat längst begonnen. Ohnehin, wird mir jetzt erst einmal bewusst, wie oft ich solchen Husten habe. Ziemlich oft. Sogar beim Staubsaugen der Künstlerbude kriege ich Husten. Meine Lunge ist einfach nicht mehr das, was sie einmal war. Und sie ist auch nicht das, was ich von ihr denke, was sie nun ist.
Es ist ähnlich wie mit dem, was in mir denkt und diese Zeilen schreibt, von dem ich nicht weiß, wer oder was es ist und wie es funktioniert, das aber einfach da ist und eigentlich keine Begründung bräuchte. Ja ja, ich glaube, das lässt sich tatsächlich vergleichen mit dem was man fühlt und wenn man Schnupfen fühlt und Husten, dann ist das zwar Schnupfen und Husten, aber welche Ursache sie haben, das verschließt sich einem, wenn man nicht in der Lage ist, einen Labortest zu machen.
So sitze ich denn hier am Montagmorgen vor der eigentlich hätte beginnen sollenden Radelreise nach Andorra und weiß nur eins, ich habe leichte Erkältungssymptome wie eigentlich öfter mal, die mich überhaupt nicht einschränken und weit davon entfernt sind, sich wie eine alles ausknockende Grippe anzufühlen. Ich ḱönnte sofort aufs Radel steigen, tja … die Grenzen sind dicht. Ich kann die Reise nicht beginnen. Wie zum Hohn baut sich das erste große Frühlingshoch über dem Land auf, aber es gibt Schlimmeres als nicht reisen zu können, denke ich mir. Andorra mit seinem einen Virusfall läuft mir nicht weg.
Freund Journalist F. dürfte aufatmen und froh sein, dass ich weiterhin assistieren kann. Obschon ich mich ganz und gar nicht danach reiße, das einsame Gehöft zu verlassen.
Pandemisch gesehen ist nämlich ein einsames Gehöft der perfekte Ort, um Zeit verstreichen zu lassen.
Ich sollte die Gartenanbaufläche vergrößern.