Hurra wir pilgern wieder – der Pilger im Wartestand

Ich schulde diesem Blog noch ein paar Geschichten. Auflösungen begonnener Handlungsstränge. Im rasanten Alltag der letzten Wochen ist so manches untergegangen, konnte ich nur notdürftig die Ritzen der Literatur kitten, indem ich mir auf dem iPhone Sprachnotizen gemacht habe oder meine kleine, braune, lederne Kladde, die ich fast immer dabei habe, mit Bleistift und Kuli traktiert habe. Normalerweise sind die Sprachnotizen, wie auch die Kladde so eine Art Datengrab. Nie wieder höre ich mir das an, was mir einst wichtig schien, oder lese die Satzfetzen durch. Ein Fall für die interessierte Nachwelt. Wichtig ist dieses beruhigende Gefühl, das einem die Kurznotiz vermittelt. Da hat man eben ein paar druckreife Dinge gedacht, die im Normalfall, dann, wenn man nicht mitspricht oder -schreibt, schon nach fünf Minuten im Nirvana des Vergessens landen – wenn man sie aber aufschreibt, kann man sie ja jederzeit wieder hervor holen – sie bleiben erhalten. Ich denke, jeder kennt die Situation, etwas vergessen zu haben und grübelnd stundenlang durch den Tag zu gehen in ständiger Ablenkung, ohne je herauszufinden, was man vergessen hat.

Aber das ist nicht Sinn dieses Aufsatzes. Zwei Handlungsstränge der letzten Monate will ich in diesem Artikel zu Ende bringen: Erstens, schnell erzählt, die Loungemöbel-Geschichte auf dem Technofestival. Mit einem Totalschaden kehre ich sonntags spät abends in die Firma zurück, der Firmenlaster fühlt sich an wie ein Pharaonengrab, denke ich, eine geheimnisvolle Gruft, die mit einem Fluch belegt ist und die jeden, der versucht, sie zu öffnen, ins Verderben treibt. Es folgen drei Tage Schadensaufnahme, Streiterei, Querelen, nebenbei gibt es so viel zu tun mit einem Großauftrag Neumöbel, dass der werte Herr Irgendlink auf eine Woche seines Sommerurlaubs verzichtet, die nächste Woche nämlich, und dass er stur weiter tackert bis zum Ende allen Möbels. Ich bin einfach zu gut. Oder zu sehr ein Pilger. Denn dieser-hektischer-Tage ist derjenige im Vorteil, der die stoische Pilgerruhe verinnerlicht hat.

Kommen wir zum zweiten Teil meines Aufsatzes, zum zweiten Handlungsstrang, den ich nicht ganz zu Ende geführt habe: „Hurra, wir pilgern wieder!“. Fünf Tage bin ich gewandert von Speyer am Rhein quer durch den Pfälzer Wald, live bloggend. Eine viel zu kurze Zeit, und eigentlich ist es nur der Anfang meines neuen Live-Pilger-Projekts, das ich über die nächsten Jahre verteilt, in diesem Blog erzählen möchte. Somit kann ich „Hurra, wir pilgern wieder!“ an dieser Stelle gar nicht zu Ende erzählen, da die Geschichte demnächst fortgesetzt wird. In ruhigen Minuten sieht man den Protagonisten, mich, wie er auf den Google-Maps die nächsten Wochen ausrechnet auf dem über 2000 km langen Fußweg nach Santiago de Compostella. Mein Gott, Metz an der Mosel ist nur eine gute Woche entfernt und das beschauliche Vezelay, einer der wichtigsten Jakobswegorte in Burgund ist auch in drei vier Wochen zu erreichen. Es ist erstaunlich, wie vorstellbar das einst so Unvorstellbare wird, wenn man erst einmal am eigenen Leib erfahren hat, dass Unvorstellbares nie unvorstellbar genug sein kann, als dass man es nicht realisieren könnte. Mein derzeitiger Standort auf meiner zweiten Pilgerreise nach Santiago ist Zweibrücken, daheim, das einsame Gehöft mit dem schönen Künstleratelier. Ein Ort des Friedens eigentlich, an dem man gerne verweilt. Die geliebte SoSo hat mich kürzlich überrascht mit einem Pilgerstempel, den sie für das einsame Gehöft, auf dem wir leben, entworfen hat. Unser Atelier liegt direkt an der Nordroute des Pfälzer Jakobswegs. Ich fühle mich somit permanent in Innigkeit mit dem Jakobswegenetz verbunden. Es gibt keinen besseren Wohnort für einen ruhigen Stoiker wie mich.

Wie auch immer. Ich sehe mich derzeit als ein zum Stillstand verdammter Pilger, der Aufenthalt in der Herberge dauert schon ewig. Aber ich weiß, dass es bald weiter gehen wird. Deshalb richte ich eine Rubrik „Hurra, wir pilgern wieder!“ in diesem Blog ein, in das ich sämtliche Beiträge seit Speyer einfüge. Schön Ordnung halten, mein Herr Chaot. Ehrlich gesagt graut mir ein bisschen vor den nächsten Etappen, seit ich beim Blog- und Pilgerkollegen Soulsnatcher über die Strecke ab Nancy Richtung Vezelay gelesen habe. Aus frühen Radtouren weiß ich, dass die relativ flache, sehr, sehr, sehrsehrsehr ruhige Gegend südlich von Metz/Nancy einen schier um den Verstand bringen kann. Eine Domäne des Autofahrers. Kleine Dörfchen, ohne Laden und Leben, ohne Herbergen, kaum ein Mensch, der einem zu Gesicht kommt. Ab und zu sieht man im Augenwinkel einen Vorhang sich bewegen. Man ist nicht so alleine, wie man sich fühlt, aber man ist verdammt alleine.  Egal. Ich bin dann mal erst noch da. Die Zukunft wird zeigen, ob „Hurra, wir pilgern wieder!“ quer durch die Nordchampagne für den bußfertigen Herrn Irgendlink ein Zuckerschlecken wird, oder ein Prüfstein. In Erinnerung an meine einsame, grüne Pfälzer Wald Durchquerung auf dem nördlichen Weg von Speyer nach Zweibrücken, könnte ich mir vorstellen, dass ich es durchstehe bis Vezelay. Das Unvorstellbare ist gar nicht so unvorstellbar, wenn man sich ausmalt, wie es sein könnte. Binsenweisheit.

In der Lohntackerei stelle ich fest, dass es genau die Pilgerzähigkeit ist, die mich zu dem kraftvollen Menschen macht, der ich bin. Die Fähigkeit, sich auf den Moment zu konzentrieren. Die Ignoranz, die sich der Leistungsbürger hart erarbeiten muss, gegenüber den kleingeistigen Terminzwängen der modernen Gesellschaft, habe ich längst in den Kern meines Betriebssystems integriert.

Pfälzer Jakobsweg Lambsborn – Zweibrücken

Die Zeit die rennt die Uhr die tickt tickitick tickitick tickitick tack tack.

Lambsborn, Blase der Nichtzeitigkeit, Sonnenaufgang. Ich habe einiges verpasst letzte Nacht, musste ich mir sagen lassen. Zwei Menschen seien gegen halb eins über den Friedhof gestolpert und haben laut meinen Namen gerufen: „Irgeeend! … Irgeeend Lihiiink…!“ Zwischen düstren Gräbern, die keine Antwort geben können. Aufgrund eines geheimen Komplotts sind Blogkollege Engelbert und Gattin Beate aus Bruchmühlbach herauf gefahren, Bier und Wurstbrot und Kaffee-Thermoskanne im Gepäck. SoSo hatte ihnen meinen Standort gemailt, damit sie mich vor Ort überraschen können mit all den Leckereien. „Er ist beim Friedhof Lambsborn, Parkbank neben Leichenhalle“, hatte sie ihnen erzählt. Dass die Parkbank etwa 60 m oberhalb auf einer Kirschbaumwiese steht und ich um halb eins schon tief schlafe, hatten die VerschwörerInnen nicht bedacht.

Mist.

Tagsüber schleicht mich Kopfweh an, die letzten 12 km ziehen sich bei Hitze. In Bechhofen trinke ich in der Bäckerei Lapot einen Kaffee, kaufe Zuckerteilchen, lasse einen wunderschönen Pilgerstempel in den Pass drücken. Der letzte für die nächsten Wochen.

Kaum zu Hause fahren auch schon Engelbert und Beate im einsamen Gehöft vor, bringen die gestrigen Brote mit echter spanischer Chorizo Wurst, mjam mjam. Schwätzchen auf der Südterrasse und Engelbert schlägt mir ein interessantes Wanderprojekt vor: kreuz und quer durch sein dichtes, deutschlandweites Netz aus Seelenfärblerinnen und Seelenfärblern. Klingt gut: live Bloggen und abends immer Gastlichkeit und ein schöner warmer PC zum tippen. „Gut, dass es Dich gibt, Mensch“, taufe ich das Projekt insgeheim – wenn ich einen frappierenden unter den vielen Unterschieden zwischen dem Camino Frances und dem Pfälzer Jakobsweg finde, dann ist es der vergleichsweise Mangel an Menschen, denen man begegnet. In den letzten fünf Tagen habe ich keinen einzigen anderen Pilger/Pilgerin getroffen, nur selten Gespräche länger als zwei Minuten geführt, musste insbesondere auf dem Stück vor Johanniskreuz mit einer Art Waldkoller kämpfen, den grauen und den schwarzen Tod abhängen … davon später mehr.

Die „Hurra, wir pilgern wieder!“ Geschichte, wie Kommentatorin Andrea einen so wundervollen Titel geprägt hat, ist vorerst zu Ende. Ich bin auf dem Sprung in die Tackerwerkstatt, wo man mich sehnsüchtig erwartet. Mir graut vorm Arbeitsberg. Aber ich sehe es positiv. Bei der Bullenhitze und mit dem gestrigen Kopfwehkoller in Erinnerung, tut mir die kühle dunkle Werkstatt sicher gut.

Europenner

Außerhalb Lambsborn. Westwind. Eine grüne, fette Raupe läuft über die Isomatte. Vom Waldrand höre ich „Sitz … fffeiiin … und lauf“ hoffentlich kommt das in Dressur befindliche Hundchen nicht hier herunter. Gerade stülpe ich die gelbe, Einfamilienhausähnliche Jacke über. Der Wind ist recht stark. Mit beachtlicher Geschwindigkeit treibt ein Heißluftballon vorbei. Wie Gott. Können alles sehen von da oben: herrchen und Hund und mich wie ich das Europennerlager zusammen packe. Lambsborn liegt nur knapp unterhalb der Windradgrenze. In einer Dell, pardon, einer Mulde unterhalb der Sickinger Höhe. Eigentlich hatte ich gestern die Fritz Claus Hütte angepeilt, 5 km zuvor. Da mir unklar war, ob sie offen ist und Pilger aufnimmt, versprgte ich mich in Landstuhl mit Dem Nötigsten. Ein Spießtutenlauf durch die Zick-Zack-Stadt. „Der Edekaladen ist direkt gegenüber der Tabledance Bar“, erklärteit eine Friseurin. Vorbei an Häusern von zweifelhaftem Ruf. Eine amerikanische Soldatenstadt. Selbst kleine Buben von drei vier Jahren haben kurz geschorene Haare.
Mit einem Rucksack schwer wie letzten Winter auf dem Camino ächze ich durch eine Mondlamdschaft voller grüner Felsbrocken. Nur der dichte Wald will nicht so ganz das Mondklischee erfüllen. In meimer Vorstellung ist die Fritz Claus Hütte schlimmszenfalls zu, ich schlafe draußen vor der Tür, verzehre die Leckereien, die ich in Landstuhl gekauft jabe und habe eine ruhige, billige Nacht. Es kommt schlimmer. Musik von Weitem, zig Autos vor der Tür mit fremden Kennzeichen und weißen Schleifen an den Scheibenwischern. „Eine Hochzeit“ konstatiere ich vor einer langhaarigen Frau, die sich gerade in ihrem Auto eine Strumpfhose überzieht. Rotes Röckchen, weißes Blüschen, schicke Schminke. Sie hat genau die gleiche Stimme, wie die Staatsanwältin der Münstertatorte.
„Ziehen sie den Rucksack ab und mischen Sie sich unauffällig umter die Gäste“, scherzt sie.
„In dem Rucksack ist meine Verkleidung als Mutter der Braut“.
Spaß beiseite. Selbst wenn ich mich rein mogeln würde, ist mir nach dem harten Wandertag doch eher nach Ruhe. Die Liveband spielt Nirvana, als ich Richtung Elendsklamm absteige. Gegen Dunkelheit Lamnsborn. Noch eine halbe Stunde zu Kollege T. Oder auch Blogkollege Engelbert wohnt gleich um die Ecke. Und die Eltern von Boris. Sein Stiefvater ist gar Rom-Pilger. Die würden sich freuen.
Kurz vorm Dorf aber der Fingerzeig Gottes: einsame Bank, frisch gemähte Wiese, kirschbäume, Stille und der Clou: an der Bank ist ein Rohr befestigt, in dem eine Isomatte steckt.