Adieu Berlin

Willkommen zurück Ochsentour. Vollgetankt und fast startbereit. Sachen runtertragen, Bude abschließen, Navi programmieren und auf ruhige Straßen hoffen.

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Zwei Sancho Pansas ohne Don Quichote

Barcelona 1992
Bloß nicht aus dem Windschatten fallen! Ich klebe mit meinem vollbepackten Reiserad fünf Zentimeter nah am Hinterreifen meines neuen Reisegefährten Leb, hinter mir ächzt dessen Kumpel Huber. Auf den Gepäckträgern wackeln Packtaschen. Leb stemmt sich in die Pedale. Seine Rastalocken flattern wild. Mit vierzig Sachen auf einer vierspurigen Vorstadtstraße schüren wir im Berufsverkehr Richtung Innenstadt. Noch vor Dunkelheit wollen wir die Jugendherberge erreichen. Gefühlt sind alle Ampeln rot, als wir die Kreuzungen passieren. Höllenreiter sind wir. Ich hasse Großstädte per Rad, es sei denn, sie haben ein narrensicheres Radwegenetz etabliert, so wie In der City of London oder das Kleinod Canal d’Ourc, das einen sicher bis zum Parc de la Villete nach Paris bringt.
Berlin 2014
Wir haben zwei Fahrräder in unserer Bude stehen, die wir nutzen dürfen. Alte Gurken mit riesigen Panzerschlössern. Gestern ist es so weit. Die Tour führt von Prenzlauerberg nach Kreuzberg. Das Autonavi in der Jackentasche flüstert uns den Weg erstaunlich präzise auf Radwegen entlang der Hauptachsen, durch Radlerzonen. Die Räder sind winzig wie Esel. Die Sättel viel zu niedrig. Wie zwei Sancho Pansas ohne Don Quichote sehen wir aus. Trotten sieben acht Kilometer weit bis zu einem Vietnamesenrestaurant, wo wir mit unserer Freundin Hauptstadtethnologin dinieren. Update der wichtigsten Lebensereignisse. Wir haben uns lange nicht gesehen. Später zum Gleisdreieck, eine kilometerlange Bahnbrache, die zum Naherholungsgebiet umgewandelt wird. Radwege, Skaterbahnen, Spielpätze, Birkenwäldchen. Noch vor Jahren spazierten wir hier querfeldein auf Geocachetour. Nun ist aus dem Lost Place ein schicker Park geworden. Eine Mutter singt ihr Baby in den Schlaf. Ein Teenager sitzt auf einer Bank und übt Gitarre. Auf einem Basketballplatz tummeln sich etliche großwüchsige Jungs, werfen Körbe. Der Radweg Berlin-Leipzig ist frisch geteert. Von der Monumentenbrücke starren wir auf den riesigen, vielversprechenden Schriftzug Berlin Leipzig hinunter. Aber es sind nur etwa zwei drei Kiometer Wohlfühlradeln. Am Ende des Geländes müssen wir wieder auf die Straße. Richtung Innenstadt. Checkpoint Charlie mit echtem Wachpersonal, Fahnen. Appellen. Touristen en Masse und ringsum Souvenirscontainer, Busladungen voller Sightseer. Unheimlich ist das, hier radzufahren. Wir ackern uns durch bis zur Landsberger Allee. Raus Richtung Prenzlauerberg und Weißer See, wo wir Freund Jo treffen. Fast zwanzig Jahre nicht gesehen. Gemütliches Beisammensein und die weltbeste Kürbissuppe. Jo hat sieben Jahre als Busfahrer gearbeitet im Norden und Osten der Stadt. Dass man in dem Job irgendwann verbusfahrert, sagt er, sprich, das Leben nimmt eine nicht umkehrbare Wende und man ist irgendwann ganz alleine, weil man nicht im „normalen“ Lebenstakt lebt, das bringe die Schicht so mit sich. Gerade noch so hat er den Absprung geschafft und arbeitet nun als Projektmanager. Als er uns den Heimweg erklärt, fühle ich mich an meine Zeit als Paketfahrer erinnert. Straßendenken. Eckendenken, die Welt in Linien und Knotenpunkte zerlegen. Das haben Busfahrer und Paketboten, ja, und auch wir Reisenden gemeinsam. Ihr radelt bis zum Strandbad Weißer See, dann den gepflasterten Weg hoch, Hauptstraße überqueren, dem Radweg entlang der Indira Gandhi Straße folgen bis zur Landsberger Allee und dann rechts, sagt er und ich verstehe. In die anbrechende Nacht radelnd bei leichtem Nieselregen, kommt es mir beinahe entspannt vor. Eine Art bicicletter Chillout in einer der größten Städte Europas.

Prinzessin für einen Tag

Es hat beinahe schon Tradition, wenn ich in einer Stadt ankomme, dass ich die fremde Umgebung erst einmal zu Fuß, rund um das Hotel oder die Bude, in der man sich eingemietet hat, abklappere. Ist wie Revier markieren. Rurales Beinheben in der Großstadt. Per Mail und Facebook flattern minütlich Infos rein von in Berlin ansässigen Freunden und Freundinnen, was man so alles tun könnte. Ganz heiß sind die Tipps von der Hauptstadtethnologin, Frau Freihändig. SoSo setzt einen Kurs auf die Location, die sie empfiehlt. Nur 4,8 Kilometer zu Fuß. Halb so weit, wie von Hospental zum Gotthard (wo wir uns im Juli mit vollen Rucksäcken hinaufquälten – siehe Kategorie Projekt>Gotthard), zudem null Gepäck, Flachland. Landsberger Allee runter. Vierspurige Straßen. Kreischende Straßenbahn. Eisen auf Eisen, Krankenwagenmartinshörner. Riesige hunderte Meter lange Gebäude. Kreisverkehre, aus denen man nie wieder rauskommt, wenn man einmal auf die innere Spur gelangt ist. Dennoch genießen wir das Stadtflair. Eine Gegend muss nicht schön sein, um sie als schön zu empfinden. Eine Attraktion muss nicht attraktiv sein, um attraktiv zu wirken. Die Attraktion des Allgegenwärtigen. Irgendwo ragt der Fernsehturm. Irgendwo vermutet man die Siegessäule, das Brandenburger Tor, den Dom, das Holocaustdenkmal, die Hotspots des modernen Tourismus und wir spazieren durch Beton gewordenes Nichts. Vorbei an fünfstöckigen Mietshäusern, Nettomärkten, Spielhöllen. Ein uralter Friedhof. Janowitzbrücke, ein Streifen Spree inklusive Sightseeingboot unter uns. Ganz weit vorne das Haus vom Aufbauverlag. Da gehen wir rein und bleiben so lange, bis sie uns verlegen, sagt SoSo. Wir gehen rein, verschaffen uns Zugang zu einer Steckdose und schreiben live auf den Smartphones unser Buch und gehen erst wieder, wenn sie es gedruckt haben. Der große Berlinroman, der im Foyer eines Verlagshauses geschrieben wurde, Anfang Oktober irgendwann. So spinnen wir vor uns hin. Unser eigentliches Ziel, welches uns die Hauptstadtethnologin empfohlen hatte, liegt gegenüber vom Verlagsgebäude. Der Prinzessinnengarten. Prinzen- Ecke Oranienstraße. Kaum ein Hektar groß ist das Idyll, in dem zahlreiche Hochbeete aus alten Backwarenkisten stehen, Tomaten in Säcken wachsen, Erdbeeren aus Abwasserrohrkonstruktionen ranken. Ein Lindenwäldchen mit einer Art Volxküche, in der man im Garten gewachsene Gemüsesuppe essen kann, Kaffee und sich den Tee kurzerhand selbst pflücken muss im Kräuterbeet neben dem Tresen. Hier vergisst man glatt, dass außenrum drei Millionen Menschen ums Überleben in einer Wachstumsgesellschaft ringen. Der Garten hat sich innerhalb weniger Jahre, Internet sei Dank, zu einem Touristenmagnet entwickelt. Fünfundzwanzig Angestellte und unzählige Freiwillige arbeiten hier. Wäre das Säußeln der Stadt nicht, ich würde mich wie daheim fühlen.
Auf dem Rückweg durchstöbern wir einen Kunstbedarfsladen im Erdgeschoß des Verlagshauses. Ein Paradies ganz anderer Art. Wenn es außer Natur, Stille und Nichts etwas gibt, das mir das Gefühl von Paradies vermittelt, dann sind es Künstlerbedarfshandlungen mit ihrer mannigfaltigen Auswahl an Schreibutensilien, Papieren, Notizheften, Sketchbooks …
Den Rückweg bewältigen wir, die Taschen voller Malmittel, per U-Bahn und Metrolinien. Umsteigen am Alexanderplatz. Bis zu 10.000 Menschen kommen hier pro Stunde vorbei, so steht es suf einem riesigen Banner geschrieben. Wieder in der angemieteten Bude erhalte ich eine Mail vom Kino Babylon. Meine Bewerbung um zwei Freikarten für die Premiere des sechzigsten Tatorts mit Lena Odenthal und Mario Kopper kommt mir in den Sinn (Betreff: Mir bleiwe a net iweer Nacht, veschpoch!):

So ein Zufall! Da kommt man alle Schaltjahr aus dem hintersten Winkel der Pfalz mal in die Hauptstadt, um die nötigsten Besorgungen zu machen, die das örtliche Outletcenter nicht abdeckt und schwupp, Tatort-Premiere.
Zusammen mit meiner Schweizer Mitreisenden Sofasophia würde ich mich über ein warmes Plätzchen im Babylon sehr freuen.
Mir bleiwe a net iwwer Nacht.

Gewonnen. Wir sind Prinzessinen für einen Tag!
Auch SoSo berichtet.

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Von Hamburg nach Berlin

Von Hamburg nach Berlin, Stoppover in Lüneburg. Unsere Nachbarn auf dem Zeltplatz Land am Stover Strand hatten uns die alte Hansestadt in blumigen Worten schmackhaft gemacht: Backsteine, skurrile Fassaden, schiefer Kirchturm, noch mehr Backsteine … Kurs setzen mit dem Navi. Halbe Stunde Fahrt in einer Art Bypass südlich zur offiziellen Berlinstrecke. Kurzer Stadtspaziergang, Backstein, Backstein, alles muss verstack sein. Wir verbuchen die Stadt als passable Schönheit mit nordischem Reiz – ein bisschen muss ich an das pfälzische Speyer denken. Der En Passant Tourismus hat leider stets einen gewissen Weiter-weiter-weiter Geschmack. Unterwegs stoppen wir bei einem Baumarkt, um ein Scheinwerferlicht zu kaufen. Begegnung der skurrilen Art. Der Verkäufer erklärt uns kurzerhand zum Notfall, kommt mit zum Auto, baut die kaputte Glühbirne aus, verkauft uns zwei neue – die muss man immer beide wechseln, sagt er. Der Mann ist ruppig, bestimmend. Wir sind von der Reise bis zu gänzlicher Milde weichgeklopft, so dass wir ihn geduldig gewähren lassen. Immerhin fummelt er die neue Birne wieder in den Scheinwerfer, versucht sich nun an der anderen Seite, die aber nur mit Zwergenhänden zugänglich ist, gibt auf, zündet sich eine Zigarette an, während SoSo die Motorhaube runterfallen lässt. Bloooß nicht, zischt er, das ist genau das, wass euch die Birnen kaputt macht. Herrlich. Im normalen Leben, davon bin ich überzeugt, wäre die Sache in ignorantem Streit ausgeartet. Hier aber, als schreibende Reisende, stehen wir staunend vor einem vom Leben zum Individuum geformten Stück Mensch.
Das Navi lotst uns durchs Wendland nach Mecklenburg oder/und Brandenburg oder gar Sachsen-Anhalt, zig Kilometer über enge Landstraßen im Konvoi mit Vierzigtonnern, deren Außenspiegel limbo-esque sich an den Alleebäumen und den Außenspiegeln entgegenkommender Lastwagen vorbeischlängeln. Bis wir endlich die A24 erreichen. Rein nach Berlin. Parkplatz direkt vorm Haus. Vollbepackt in die gemietete Bude. Eine Punkerin mit zwei Hunden, der man das Fahrrad in der Nacht geklaut hat, hier im Innenhof, fragt, ob wir was gesehen haben. Ne, wir sind Feemde. Ziemlich verwahrlostes Treppenhaus. Die Türen der Erdgeschosswohnungen scheinen mehrfach aufgebrochen. Mitsamt Schloss aus der Wand gehebelt. Weitere Nachbarn – mit Kampfhunden. Man grüßt sich. Wenn man die friedliche Landidylle, aus der man kommt, als Schablone nehmen würde, so würde sich nun im Schummerlicht des Treppenhauses ein beunruhigendes Bild zeichnen. Aber wir sind in Berlin. Hier gelten andere Maßstäbe. Die angeborene Enge im Kopf ist hier ein bisschen weiter gefasst. Hier gilt ein bisschen mehr als normal, als bei uns zu Hause. Unsere Wohnung ganz oben unterm Dach ist sauber, ruhig. Und die dicke Kette an der Tür vermittelt ein gewisses Gefühl der Sicherheit.
Mehr auch bei SoSo
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Von großen Hafenrundfahrten und vertikalem Gewerbe

Das Wörtchen Große Hafenrundfahrt hat dort, wo ich herkomme eine völlig andere Bedeutung, als hier in Hamburg. Hier in Hamburg ist die große Hafenrundfahrt der Traum aller Männer. Umwittert vom süßen Wind aus Freiheit und Weite, fernen Welten und exotischen Abenteuern flanieren am gestrigen Sonntag tausende Touristen bei den Landungsbrücken. Die S21 hat uns bis zur Sternschanze gebracht und die U3, die sich wie ein Ehering um die Stadt legt, spuckt uns bei der Haltestelle Landungsbrücke aus. Kräne, Eisen, Beton, Wasser, Barkassen und Stahl. Überall stehen Kioske, bei denen man Große Hafenrundfahrten buchen kann. Ähnlich wie etwa in Mainz am Rhein, nur viel viel größer, weiter, flacher, mehr Touristen. Unser Ziel ist die Elbefähre. Die ersetzt die Hafenrundfahrt, sagte unser Campingplatzmanager Christian, und sie ist im Tagesticketpreis inbegriffen. Die Elbfähre ist sozusagen die Hafenrundfahrt des Proletariats. In der Tat ist wohl die Aufgabe der Fähre, wochentags Arbeiter auf die Elbinseln und in die Industrieanlagen südlich der Elbe zu bringen. Sonntags fährt sie gar nicht. Aber dafür stellt sich uns der alte Elbtunnel in den Weg. Gut hundert Jahre altes Ding. Mit Aufzügen wurden Kutschen, Autos, Personen und Waren nach unten gebracht und konnten durch die – hmm sagen wir Jugendstil, Gründerzeit, wasweißich – Röhre auf die andere Flussseite rollen, laufen, getragen werden. Der Tunnel erinnert mich ein bisschen an den Greenwich Foottunnel unter der Themse, der aber noch schmaler ist und wirklich nur für Fußgänger und Radler taugt. Gefließtes Gewölbe. In den Wänden sind alle paar Meter Specksteinreliefs eingelassen, die Fische, Krebse und Muscheln zeigen.IMG_1693.JPG
Auf der anderen Seite, plötzlich, eine andere Gegend. Hafen, Industrie, Weite. Wie freigelassen flanieren Sonntagsspaziergänger und Radler. Uralte Wohnwagen stehen in Reih‘ und Glied. Ein Typ mit Zahnbürste im Mund begutachtet den Fahrplan einer – der einzigen – Bushaltestelle. Wie aus einem Film von Hitchkock taucht plötzlich ein Bus auf. Wir steigen ein. Er fährt los. Hast du gefragt wohin, frage ich SoSo. Nö, du? Nö. Der Fahrer entpuppt sich als Reiseführer der Herzen. Wir sind die einzigen Gäste. Vorbei an verwaisten Haltestellen, die allesamt nach Weite Welt benannt sind, Argentinienstraße, Afrikastraße usw. fahren wir zum Hafenmuseum. Drei Punker steigen zu, setzen sich auf die Rückbank. Wollen die zur Food-Messe, die als zweite Attraktion des verwaisten Hafens direkt neben dem Museum logiert?
Im Museum begrüßt man uns mit Sie haben Glück! Wegen des Erntedank-Gottesdiensts und einer Taufe, ist der Eintritt frei. Wir stolpern durch die Lagerhalle, in der auf Hochregalen alle möglichen Hafenrelikte lagern, Getriebe, Schiffsschrauben, Anker, Seile, Autos, undefinierbare Reliquien der Seefahrt, Schiffsmodelle, Holzboote. Im Hintergrund singt der Kirchenchor, die Sonne scheint für jeden Menschen (oder so ähnlich) und ich bin zutiefst gerührt. Im Außengelände kann man Baggerschiffe erforschen bis tief in die verrosteten stählernen Innereien. Ein Bungee-Unternehmen hat den großen Ladekran gemietet, von dem sich im Zwanzig Minutentakt wagemutige Jungs und Mädels stürzen. Neunzig Euro kostet der Spaß. Vertikales Gewerbe. Wir verkriechen uns in den Frachtraum eines Schiffs. Ein geradezu meditativer Moment, umgeben von Rost sind wir allein, vermutlich unter der Wasserlinie. Unheimlich die knarzenden, scheppernden, glucksenden Geräusche Tür an Tür mit dem Klabautermann. Zum Abschied steht neben der Bungeeanlage ein waschechter Shantychor Spalier: Kapitän, Kapitän, das Leben ist so wunderschön und ich muss schmunzelnd an den Doppelsinn des Begriffs Große Hafenrundfahrt denken, der bei uns Landratten gerne benutzt wird, um das Trauma einer Darmspiegelung zu schönen.