Sinnierend in der Niemandszeit

Nachts um vier hellwach, runter zur Südterrasse, Mond starren. Es ist hell und kühl, nicht zu kalt; so stehe ich unterm Nussbaum und begutachte die Welt. Aus dem Traum habe ich den Gedanken ans nahe Ende mitgenommen. Leise schimmert die Stadt, kein Auto unterwegs auf der Landstraße, die sich zweihundert Meter weiter östlich zur Sickingerhöhe schlängelt. Wie oft ich schon hier stand, genau an dieser Stelle unterm Nussbaum, der sozusagen mit mir gemeinsam groß wurde. Wir sind krumme, verbogene Genossen, wir beiden, Weggefährten durch eine rapid dahin galoppierende, sich stetig voran ändernde Welt.

Im Traum hatte sich meine zu erwartende Restlebenszeit komprimiert auf die Zeitspanne, die passiert, wenn einer aus einem Traum aufwacht, dessen innerer Chronometer noch nicht den Tagrhythmus gefunden hat, und dessen Zeitempfinden somit bei vollem Bewusstsein im Traumzeitrhythmus tickt: sprich schnell, mit blitzartig dahin zuckenden Zehntelsekunden, in denen selbst Verschiedenstes harmoniert, mit nichtmessbaren Momenten, die sich an andere nichtmessbare Momente reihen und eine verrückte Sequenz aus Bildern, Geschmäcken, Tönen und Gerüchen vermischen zu einem dennoch schlüssigen Etwas, das man als Wirklichkeit annimmt. Alles passiert gleichzeitig und das ist gut so und es ist auch verstehbar – nur in diesen raren Minuten, die sich manchmal ereignen, wenn man erwacht, noch nicht richtig da ist im Bewussten, aber auch nicht mehr dort drüben im Unbewussten.

Zehn Jahre noch, dachte ich, zehn gute Jahre, Junge, also solche Jahre mit funktionierenden Beinen, Armen, Hirn und Innereien; zehn Zipperlein freie Jahre … vielleicht auch fünfzehn oder zwanzig … manche meiner Freunde sind auch mit achtzig noch topfit, aber hey, ich hab bisher noch keine Ausnahme erlebt, dass aus der Sache mit dem Leben einer lebend und von Zipperlein ungepeinigt herauskommt. Irgendwann hatte es bisher jeden erwischt. Ich bin mittlerweile in dem Alter, in dem auch die ersten Freundinnen und Freunde sterben oder siechen. Schlaftrunken sinniere ich unterm Nussbaum, den man einst versucht hatte auszurotten.

Ich weiß nicht, warum man nicht die Kettensäge benutzt hatte vor vierzig Jahren und ihn einfach abgeschnitten hat. Mitleid? Ein Versehen? Keine Kettensäge parat? Der Baum steht viel zu nahe beim Haus. Ein ziemlich verstümmeltes Etwas mit ineinander verschränkten Ästen, von denen man dem einen oder anderen ansieht, dass er einmal angebrochen war durch Menschenhand, dessen Bruch sich erholte, der Ast groß und stark wurde, aber mit Narben. Die Äste ragen schon übers Dach. Jeden Herbst, wenn die Nüsse fallen, gibt es ein atonal-rhythmisches Konzert von willkürlich prasselnden Nüssen auf Blech. Manchmal plumpst sogar ein Eichhörnchen aufs Dach, was eher dumpf klingt und gefolgt ist von bedröppelndem sich Aufraffen, dahin Tappsen übers Dach mit anschließendem Hechtsprung zum nächsten Zweig. Nüsse raffen, Nüsse raffen, Nüsse raffen und durchkommen durch den Winter. So das Leben eines Eichhörnchens und so auch meines.

Die Stadt liegt sanft im Tal. Bis vor zehn Jahren kam sie immer näher, wurden Baugebiete erschlossen, wurde die ehemalige Kaserne konvertiert, wurden die Truppen- und Lagergebäude abgerissen, das Areal in schicke kleine Parzellen eingeteilt, gerade groß genug für ein Einfamilienhäuschen und Carport. Die Enge kriecht geballt den Berg herauf. Neue Straßen entstanden, die allesamt den Namen US-amerikanischer Bundesstaaten tragen: California, Missouri, Oklahoma und wie sie alle heißen, bis hin zum finalen Straßenzweig, einer Sackgasse. Die Sackgasse ist das letzte Aufgebot der Landnahme. Ein Gewerbegebiet am Rande der Stadt, das nie bebaut wurde. Welch wunderbare finale Brache. Wie so ein toter Ast an einem alten Nussbaum, wie so ein fehlfunktionierendes Traumhirn, das ein paar Minuten mitten in der Nacht gelüftet wird und dem Denken freien Lauf lässt, ohne sich ins gewohnte Zeitkorsett zu zwängen.

Für gewöhnlich ist in der finalen Sackgasse freitagsabends immer etwas los. Dann trifft sich die motorisierte Jugend zum Quatschen, Kiffen, Trinken, Spaß haben. Vorglühen für das Wochenende in einem Etablissement am anderen Ende der Stadt oder in der nächstgrößeren Stadt oder noch weiter weg in einer riesigen anderen Stadt und sie kehren nachts zurück zum Hupen, Reifenjaulen, Rennenfahren auf den zweihundert Metern Sackgasse, in der nie ein Mensch sein Gewerbe ansiedeln möchte.

Am Rande der Stadt – also rein theoretisch, also wenn ich eine Stadt wäre – passieren dunkle Dinge jenseits der streng getakteten Zeitzone des Bewussten, wird mir klar. Unkontrollierbares lässt sich aus auf den wenigen hundert Metern Freiraum, die die Stadtväter und -mütter im Bauausschuss einst schufen, in der Hoffnung, ein Steurzahler, eine Steuerzahlerin kommt daher und lässt sich nieder.

Stille herrscht in dieser Nacht, absolute Stille. Ein Samstag. Bei Vollmond, leichtem Frost und jeder Menge Niemandszeit, die in keinem Buch der Geschichte auftaucht.

All die Pläne, eine Filmpremiere und wie ich lernte, das schwer zu reitende Pferd Kdenlive zu reiten.

Tausend Worte am Tag schreiben. Den Shop aufräumen. Videos bearbeiten. Gesund leben. Rad fahren. Das Haus ansonsten nicht verlassen. Jeden Tag jede Woche ein altes, unbeendetes Projekt fertig machen. Jeden Monat einen ehrenamtlichen Artikel für den ADFC schreiben. Und noch so einiges.

Filmpremiere Radtour durchs Elsass am 17. Januar

Was hatte ich nicht alles vor in diesem Jahr und nun ist der Januar halb rum. Heute ist der 1 Million 61ste Geburtstag der Kunst und mein Film „Durchs Elsass per Rad“ geht um 18 Uhr online. Schaut gerne zur Premiere heute (Mittwoch 17. Januar 2024) vorbei. Natürlich ist der gut einstündige Youtubefilm danach dauerhaft im Netz. Bei der Premiere gibts eine Chatfunktion und ich werde versuchen, sie zu managen. Sprich, ich bin ab 18 Uhr da, schaue den Film zum gefühlt hundertsten Mal, aber mit Euch gemeinsam und beantworte allfällige Fragen.

Tja, da wären wir womöglich beim Hauptthema. Nachdem ich letzten Herbst schon begonnen hatte, mit Filmschnitt zu arbeiten (Elsässer Weinstraßenvideo), bin ich mit meinem zweiten Radreisevideo etwas tiefer in die Materie gegangen. Ich kann mittlerweile das Open Source Schnittprogramm Kdenlive bedienen und kenne seine Tücken. Hat mich etwa einen Tag Arbeit gekostet, Fehler zu machen, die ich nie wieder machen werde. Die gute alte Lernkurve eben, bzw. die Fehler lagen eigentlich in der Soft- und Hardware. Mit den digitalen Techniken ist es wie mit einem neuen Ledersattel. Dauert eine Weile, bis sie sich dem Körper anpassen.

Kdenlive (in meinem Fall Version 23.08 als Appimage auf Xubuntu) sicher nutzen:

Das A und O sind regelmäßige Sicherheitskopien Deines Projekts (echte Kopien, nicht nur regelmäßiges Speichern der Arbeitsdatei, denn das macht Kdenlive zuverlässig selbst). Falls das Programm abstürzt, oder wie in meinem Fall einen Schnitt-Salat produziert, kannst Du zu einer der Kopien zurück.

Es gibt nur zwei weitere Dinge, die in Kdenlive „gefährlich“ sind:

  • Das Werkzeug „Abstand entfernen“ produziert bei vielen Clips und mehreren Spuren und ggf. einer Untertitelspur einen nahezu irreparablen Schnitt-Salat, das heißt, es verschusselt alle Zeitstempel und zerstört den Film, löscht die Untertitel.
  • Die „Bearbeiten > rückgängig“ Funktion kann das Programm zu einem massiven Absturz bringen, so dass es sich gar nicht mehr starten lässt (davon las ich einige Berichte; in meinem Fall konnte ich das Programm nach dem Restart des Rechners wieder zum Laufen bringen).

Lösung für beide Macken: Die Sicherheitskopien, die Du am Besten immer vor größeren Eingriffen in die Schnittstruktur anlegen solltest. Die Kdenlive-Dateien sind im Vergleich zum eigentlichen Video mit nur einigen Megabyte Größe verschwindend klein.

Youtube

Ich weiß, ich weiß. Der Gigant. Daten abgreifen, die Arbeit kreativer Leute ausnutzen, um bezahlte Werbung unters Volk zu streuen. So widerlich, so gut, ich lasse mich trotzdem ein aus purer Neugier und bin ebenso angetan wie abgestoßen von der Plattform. Die Entscheidung ist gefallen, dass ich mich ein Jahr lang ausprobiere auf der Plattform. Spezialgebiet Radreisen und Outdoor. Ich lerne viel. Staune. Staunen ist wichtig. Es hat etwas Naives, finde ich, und das tut machmal ganz gut.

Art Birthday

Zum Geburtstag der Kunst gibts hier einen Wikipediaartikel. Happy Birthday, altes Künstchen.

Typischer Youtube-Thmunail. Vor der Kulisse eines Unwetters, das man aus einem kleinen Unterstand beobachtet, zerzauste Bäume, Starkregen, schaut weiß umrandet grob ausgeschnitten der Oberkörper eines behelmten Ralders, der verbissen in die Kamera schaut. Rechts über dem Radler ist eine sengende Sonne mit starken Strahlen künstlich animiert und überdeckt einen Teil der Unwetterszene. Die linke Hälfte des Videothumbnails ist in Youtube typischer Clickbait-Manier beschriftet mit weißen Lettern und schwarzem Rand: "Orkan vs. Hitze".
Radtour Elsass – August 2023 Youtube Thumbnail

Zu guter Letzt das Thumbnail meines Films. Bissel Clickbait, ich weiß, aber das gehört zu meinen Youtube-Exerzitien, wie auch die Premiere heute Abend (getreu dem Motto, Du hast das Werkzeug (Software, Feature, was auch immer), probiere es aus.

 

Draußen im freien Raum, der immer lieb zu dir ist

Radweg entlang eines Kanals. Frühling, noch jungknospende Pflanzen. Ein Rennradler auf dem schmalen geteerten Weg, der rechts vom Kanal verläuft.

It’s a holiday by accident. Der Nieselregen manifestierte sich in der Morgendämmerung. Vehementes Hämmern aufs Zelt wie mit tausend kleinen Uhrmacherhämmerchen, die den halbkupfernen Deckel einer verbeulten, uralten Taschenuhr dengeln und wieder in Form bringen. Einer jener Tage zum nicht-Aufstehen, zum nicht aus dem Zelt gehen, zum zum-Buch-greifen, es aufschlagen, an einer Stelle weiter lesen. Donnerstag. Oder Mittwoch? Die Turmuhr schlägt. In der Gegend, in der ich mich befinde schlagen die Kirchturmuhren zur vollen Stunde immer zwei Mal: eins zwei drei vier fünf sechs und ein paar Minuten später noch einmal eins zwei drei vier fünf sechs, zähle ich. Drehe mich noch einmal um. Die Isomatte knartzt. Unheimlich bequemes Ding, das mir die Liebste mitgegeben hat auf die Reise. Zwei Wochen Urlaub, wird mir im Halbschlaf klar. Junge, du hast es tatsächlich durchgehalten, zwei Wochen lang das Blog nicht anzurühren oder in einem sozialen Medium über das Vorantreiben auf Reisen zu schreiben. Du hattest Urlaub. Sags laut: DU HATTEST URLAUB!

Das mag sich für die Lesenden dieses Blogs merkwürdig anfühlen. Der Typ ist doch immer auf Urlaub! Ich seh das doch. Ich les doch die Blogeinträge, wie er mal hier, mal da radelt oder wandert oder sonstwie tourt um irgend ein Land. Das Irgendlink-Blog ist eine Ausgeburt gelebten freien Lebens. Ohne Zeiteinteilung und Drangsale durch einen Chef oder eine Chefin. 24 Stunden, 7 Tage die Woche Reisegenuss pur. Ich seh das doch!

Gegen acht bin ich wieder wach, raffe die wenigen Lebensmittel in einen Beutel, stopfe den Schlafsack, zwänge mich in die Radelhose, verstaue alles in den Packtaschen. Zuletzt das nasse Zelt, nur notdürftig ausgeschüttelt. Tacho auf null stellen, GPS starten, Track aufzeichnen. Das sind die einzigen Handlungen, die ich aus dem „herkömmlichen“ Reisekunstbetrieb mitgenommen habe in den Urlaub. Track aufzeichnen stresst nicht besonders. Du drückst morgens einen Knopf am Handy und abends, wenn das Zelt aufgebaut ist wieder. Außerdem freut sich die geliebte Frau SoSo zu Hause stets, wenn ich ihr meine Tour sende. Sie kann dann auf der dünnen Linie an Hand der Zeitstempel ungefähr nachvollziehen, wie sich die geradelte Strecke wohl anfühlt. Bist du langsam, gehts berghoch, pausierst du, hängst du womöglich in der Hängematte zwischen zwei Bäumen und ruhst dich aus. Einmal war ich erstaunt, als Frau Soso mir vor ein paar Tagen aufgeregt sagte, boa ej, da hattest du bis vier Uhr erst vierzig Kilometer im Sack und bist dann doch noch auf insgesamt über hundert gekommen.

Ich erinnere mich an den Tag. Ich war so müde, schlief gegen halb eins bei einer Kanalschleuse am Rhein-Rhône-Kanal in der Hängematte ein. Es war warm, nein heiß, so heiß, dass selbst der starke Wind, der unter der Hängematte durchwehte mich nicht auskühlte. Zwischen dem eisernen Griff einer Leiter, die hinunter führte in die Schleuse und einer Laterne hatte ich die Matte aufgehängt. Blick auf den Radweg, der an diesem Tag gut bevölkert war. Zig Reiseradelnde, ein Radrennteam, Freizeitradler, Spaziergänger. Ein langsamer Mahlstrom glücksuchender, sich entspannender, irgendwohin wollender oder irgend eine Absicht hegender Menschen, die da an mir vorbei flanierte. Der Radweg als Bühne. Der eigene Kopf das Hinterstübchen einer geheimen Regiekammer, in der das Theaterstück dirigiert wird. Ich hatte den Impuls, die Klapptastatur auszupacken und etwas ins Blog zu notieren. Baumelte stattdessen, schlief, trank ab und zu einen Schluck, dachte etwas, vergaß es wieder, dachte etwas anderes und vergaß auch dies. Schon da spürte ich deutlich die heilsame Wirkung des Nichtstuns auf Reisen. Loslassen. Sich zu nichts zwingen. Das Daheim, die Sorgen, die man zurückließ sind weit weg. Die Zukunft: muss nicht geplant werden. Allenfalls plagt einen die Sorge, dass man vor Ladenschluss keinen Supermarkt mehr erreicht, um sich etwas zu Essen zu kaufen. Doch selbst diese Sorge ist gering, wenn man verinnerlicht hat, dass es da draußen im freien Raum, der immer lieb zu dir ist, auch mal eine Nacht ohne Essen geht, ohne Anspruch auf normale Gewohnheiten. Noch so eine Erkenntnis. Das Korsett der Alltagsgewohnheiten, das einen beherrscht. Das unseren Lebenstakt bestimmt wie eine frisch gedengelte, halbkupferne, uralte Taschenuhr. Das Korsett, das mich beherrscht und in das ich im Laufe des halben Jahrhunderts Lebens in dieser meiner Gesellschaft so sehr hinein gewachsen bin, dass ich mir ein Leben ohne diesen ebenso schützenden wie zwängenden Lebensgewohnheitspanzer gar nicht vorstellen kann.

An dieser Stelle sollte ich den Mann erwähnen, der mir kurz vor meiner langen, frühnachmittaglichen Baumelpause auf dem Radweg am Rhein-Rhône-Kanal begegnete. Ein bisschen sah er aus wie ein zeitgeössischer Jesus. Total zerlumpt, ein A4 großes Filzbrett von Haaren rechts des Kopfs, Sandalen, unheimlich dreckige Fetzen am Leib und über der Schulter einen speckigen, dunkelgrünen Schlafsack. Von Weitem rief er mich auf französisch an, bonjour, bonjour, bonne journée. Ein Singsang mit zarter, flötender Stimme, so dass ich das Radel stoppte. Wenn man seine Ruhe haben will und sich surreales Gelaber ersparen möchte, sollte man in so einer Situation nicht anhalten. Wenn man helfen will und die Untertöne im bonjour, bonjour, bonnne journée wahrnimmt, dann schon.

Ich will nicht zu sehr in die Tiefe gehen. Wir redeten eine viertel Stunde, vielleicht auch zwanzig Minuten. Die Geschichte ist ohnehin wirr. Vor mir steht ein angeblicher Däne, der sich, warum auch immer, in hannoveranischem Deutsch übt, englische und französische Fetzen einflicht in seine Sprache, aber sich wie ein waschechter Deutscher anhört. Auf meine Herkunft, Pfalz, fällt ihm Helmut Kohl ein, Doktor Helmut Kohl, den er sehr bewundere – egal, kann er ja machen – den habe er mal gehört in einem Vortrag über den Westfälschen Frieden. Doktor Helmut Kohl sei nämlich ein echter Doktor und habe zu dem Thema  promoviert. Am Grad meiner Duldsamkeit schräger, nicht linearer Erzählungen gegenüber merkte ich, wie Tiefentspannt ich bin, wie sehr sich der waschechte Urlaub aus Versehen auf mein Gemüt auswirkte. Ich wollte nichts. Nicht nach Montbéliard kommen zu einem bestimmten Zeitpunkt, nicht auf einer Bank sitzen, nicht nicht-zuhören, nicht mich-nicht-einlassen. Während unseres „Gesprächs“ grüßte mein „Jesus“ alle Vorbeiradelnden mit bonjour, bonjour, bonne journée, hart an der Peinlichkeitsgrenze. Aber so ist das nunmal in dem „Beruf“ und das ist seine Masche, den Fluss des Reisenden zu brechen und im Kehrwasser eines Gesprächs eine Art Nähe aufzubauen, damit derjenige ihm ein paar Münzen gibt. Ich gab ihm alle Münzen, die ich im Beutel hatte und wenn ich kleine Scheine gehabt hätte, hätte ich ihm die gegeben. Nicht einmal aus Mitleid oder sonst einem Gefühl – Gefühl kommt immer erst im Nachhinein. Es war eine rationale Handlung. Ich meine: wir waren ja in diese Situation der Zwischenmenschlichkeit geraten und durchliefen diese paar Minuten auf dem Radweg ganz aufgeräumt wie einen Prozess. Der Regelschalter in meinem Inneren sagte mir nunmal, dem gibste was, so will es die gerade ablaufende Situation. Du hast einen vollen Bauch und ein paar Lebensmittel in der Packtasche, bist halbwegs gewaschen, fühlst dich wohl und dein Gegenüber, das sich zwar auch wohlfühlt, hat noch nicht Mal einen Sack dabei mit altem Brot oder was auch immer. Ich kramte eine Banane aus der Tasche und steckte sie dem Westfahlenjesus zu. Die Begegnung sollte mich noch tagelang beeindrucken und wer weiß, vielleicht war sie eines der Puzzlestücke, die dazu führten, dass ich das Alltagskorsett besser verstehe, in dem ich mich verortet sehe. Tage später sollte ich in einer mantrisch verregneten Bergauffahrt den Kapitalismus „besiegen“.

  • Ich darf an dieser Stelle auf die Unterstützungsmöglichkeit für meine Arbeit aufmerksam machen: bonjour, bonjour, bonne journée (SteadyHQ)
  • Wer lieber einmalig etwas in den Europennerbeutel geben mag, dem verrate ich meine Kontonummer per Mail (da fallen keinerlei Gebühren an).
  • Auch auf Paypal klappt es mit dem nur mal so zwischendurch etwas Spenden.

Titelbild aus dem Archiv. In einem Frühling vor langer Zeit in der Bourgogne.

Ans Kap oder UmsLand Hessen?

Jagdflugzeug als Skulptur auf einer grünen Wiese. Der linke Flügel und die spitze Nase bohren sich ins Grün.

Was ist es eigentlich, was mich so fasziniert am Nordkap als Reiseziel? Man riet mir ab. Die ganzen 3600 Kilometer durch Deutschland und Schweden auf dem Weg dahin im Jahr 2015 riet man mir ab. Fahre da nicht hin. Das ist langweilig. Ein Fels im Nebel mit einer von Menschen für Menschen gemachten Kugel darauf. Überlaufen. Touristen. Es gibt Schöneres, zum Beispiel Vardø.

Vardø bei Vadsø bei Kirkenes stelle ich mir auch nicht anders vor. Fels, Fels, Fels und drunten brandet die Barentssee. Bis zum Kap sind es von Vardø nur gut 250 Kilometer. Die russische Grenze ist nah. Bei schönem Wetter kann man die Kriegsschiffe in internationalen Wassern aus den Wellen ragen sehen, stelle ich mir vor. Unheimlich. Ich schweife ab.

Seit 2021 plane ich ein Remake meiner AnsKap-Radtour 2015. Aus pandemischen Gründen scheiterte das Vorhaben. Ich feiere sozusagen zwei Jahre nicht ans Kap radeln. Aber stimmt das? War die Pandemie tatsächlich der Grund, die Reise nicht anzutreten? Oder bin ich einfach nur alt geworden und drücke mich um meine Lebensträume herum, versuche ich unbewusst das Unbequeme, was das lange Reisen mit dem Fahrrad mit sich bringt zu vermeiden und schiebe äußere Einflüsse wie die Pandemie vor als Grund fürs Scheitern eines Vorhabens, das ich in Wahrheit gar nicht vorhabe?

Der echte Irgendlink auf dem Prüfstein. Komm, Junge, erzähl dir endlich die Wahrheit. Du willst es nicht. Du willst es. Du willst es, aber. Du willst es nicht, es sei denn … all die Zweifel. All das Weltgeschehen.

Wenn mein Leben ein Roman wäre und ich nur ein erfundener Protagonist, dann stünden dieser Jahre die äußeren und die inneren Konflikte blank und ganz klar. In einem alternden, vom Zerfall bedrohten Körper (ich erinnere an die unklare Raumforderung, siehe Beitrag zuvor), denkt und agiert einer, knallhart konfrontiert mit malmenden äußeren Mechanismen der Pandemie und des Kriegs.

Was denkst du wie das abgeht in der Kapregion, wenn die Sache in der Ukraine sich ausweitet! Die russische Grenze ist gerade mal 200 Kilometer entfernt. Lass die Finger davon, fahr meinetwegen nach Portugal.

Langanhaltendes Rumoren in der Gegend um Lakselv, ein tiefes Brummen wie Nachbrenner, Düsenantrieb, Tausendgestank und abscheuliche Gewalt liegt in der Luft. Ich bin fast alleine auf der E6. Der letzte schöne Sommertag. Weites sumpfiges Land oder Waldland oder ein See. Karger Bewuchs, ab und zu ein paar Rentiere, Holzlaster, spätsommerliche Wohnmobile. Zum Gruß und als Beifall für den Kapradler ein Hupen hie und da. Wenige zig Kilometer bis Lakselv, ein kleines Städtchen an der Barentssee. Natürlich gibt es einen Flughafen, Supermarkt, Tankstelle. Das Donnern in der Luft scheint mir nicht von zivilen Maschinen  zu rühren. Die würden starten, wegfliegen, leiser werden. Bald schon wird sich die Straße hinabstürzen zum Fjord. Links und rechts Schilder mit Warnungen. Militärisches Gebiet. Aha. Wie daheim zu Füßen von Ramstein also. Kampfjets, die nachhaltig nachbrennend und unsichtbar in der Luft liegen. Den akustischen Raum rings um den Fjord minuten-, ach was, viertelstundenlang beherrschen, nichts anderes zulassend als Lärm.

Muss ich mir das noch einmal antun?

Screenshot einer Postkarte zeigt eine Felswand mit zwei unheimlichen schwarzen Augen, die sich offenbar als Magmaströme in den Gesteinsschichten ausprägten.
iDogmakarte 128 2015

Wenns möglich ist, warum nicht! In meiner Erinnerung kratze ich allmögliche Orte zusammen, die ich während der Reise 2015 durchquerte. Einige, seltsamerweise nicht einmal die schönsten, sind immer da. Harte Gesteine die aus erodierten Erinnerungen ragen. Unheimlich geschundene Nutzwälder in Schweden etwa; jener verregnete Tag in Batskärsnäs im nördlichsten Bootshafen Schwedens; die starrenden Magmaaugen in einer Felswand an der E69; Steinmännchenstrand am Porsangerfjord und schließlich die drei Kilometer lange neun prozentige Sturzfahrt hinunter in den Nordkaptunnel …

Nichts ersetzt die Gegenwart. Früh morgens, einsames Gehöft. Mein Geburtstag 2023. Kann nicht mehr schlafen, also stehe ich auf, schüre den Holzofen ein, beginne bei 16 Grad, stelle das Nordkap in Frage. Wie so oft dieser Tage. Eigentlich musst du doch gar nicht mehr reisen, Herr Irgendlink. 2016 mit der letzten großen Tour nach Gibraltar hattest du all deine Ziele erreicht.

Mit dieser Reise geht eine Trilogie zu Ende. Ums Meer 2012, Ans Kap 2015 und Gibrantiago sind die Rohdaten für eine Europenner-Trilogie. Ich kann endlich beruhigt heimkehren und auch da bleiben und mich auf ein Leben als Schriftsteller freuen. In Gedanken fabuliere ich, dass mit diesen drei Reisen und den Kunstfotos daraus auch fast schon ein kleines Lebenswerk fertig geworden ist.

Ich bin sehr zufrieden. (Europenner-Blog 2016)

Das Ziel ist nicht das Ziel. Der Weg ist auch nicht das Ziel. Es gibt keine Ziele. Alles läuft auf Orientierungslosigkeit hinaus und mit ihr kommt das Vertrauen. Vertrauen darin, dass es immer irgendwie weiter geht. Auch im Stillstand geht es weiter. Nur eben so langsam, dass man es nicht bemerkt. Auf diese Weise wirst du ein Ziel erreichen, ohne ein Ziel zu haben, vertrau dir. Postuliere ich altklug.

Das Jahr ist offen. Das Nordkap im Visier wie jedes Jahr. Na klar. Was soll ich denn sonst ins Visier nehmen … achje, da gibt es Vieles. Das Viele ist mein Fallback, falls das mit der Raumforderung schief geht. Dann mache ich die kleinen feinen Dinge. Durchs Elsass zur Liebsten radeln. Ha, die Tour, nur 350 Kilometer, wiederholste doch auch immer wieder und es ist immer anders, immer neu, immer abwechslungsreich, obwohl du oft die gleiche Strecke radelst. Wenn man sich von der viel beschrienen Bucketliste der Zutuns in dieser Welt verabschiedet, findet man seinen Frieden. Dann weicht jeder Druck. Darf wieder und wieder, darf anders. Man kann alles immer wieder tun und es wird Freude bereiten. Es wird trotzdem etwas Neues. Im Alteingelatschten können wir immer Neues entdecken, sagt die Hoffnung, sagt die Ahnung. Wir dürfen uns nur nicht blenden lassen von den Verlockungen vermeintlichen Neuens.

Im mürbenden Nachdenken über den Sinn der bevorstehenden Reise gebiert sich die Erkenntnis, dass das Einzige was ich an Langstreckenabenteuern noch tun könnte und was wirklich neu wäre, eine Umradelung der Erde wäre. Möglich wärs. Tun werde ich es nicht. Warum? Weil ich an einer früheren Stelle des Lebens eine andere Abzweigung genommen habe. Mich ein zwei Jahre rauszunehmen, die Liebsten und Nächsten zurück zu lassen, wäre eine Gewalttat gegen die Liebsten und auch gegen mich.

Künstlerbude, fast sechs Uhr früh. Der Artikel nimmt einen komplizierten Lauf, so dass ich ihn wohl erst einmal in den Privatmodus setze. Ist es den Lesenden zuzumuten, hin- und her- und abzuschweifen? Dieses katzengleiche, sich mit einem Wollknäuel balgende Künstler- und Schreibendenhirn. Putzig.

Kap oder nicht? Alles ist offen. Im Mai könnte ich starten. Ich habe ein Winterzelt gekauft, das ich mir selbst zum Geburtstag schenke. Ich habe aber auch Radrouten Hessens herunter geladen, denn ein Hessen wäre natürlich auch ein feines Projekt. Beständigkeit, Beharrlichkeit. Abwarten. Vorankommen im Verharren. Zusehen wie sich die offenen Fäden der Zukunft zu Gegenwart verwinden, für den Moment klar und stark und unzerreißbar und schon Momente später spleisen die Fasern, löst sich alles auf, verschwindet in einer mal zu mal verschwimmenden Unschärfe der Erinnerung bis zur Unkenntlichkeit des Nichts.

Ich spraye ein Graffito auf die Paywall am Ende des Artikels.

 

 

 

Vom Anbeginn der Niere und Raumforderungen in der eigenen Psyche

Zwei Arzttermine blockten den gestrigen Tag. Ein Fixpunkt im Monat. Dritte FSME-Impfung und allgemeines Arztgesprächsgeplänkel, was beim Hausarzt mitunter einen anregenden bis beschwichtigenden, beruhigenden Charakter hat. Meist jedoch sind die Gespräche hektisch, zwischen Tür und Angel und der Doctor biegt sie immer in seine Richtung à la das und das habe ich auch seit langem, das ist nicht schlimm, Sie sind ja noch gut beisammen für Ihr Alter; da kann man nix machen; da, eine Überweisung und jetzt weg. Mein Vater hatte unseren Familienleibarzt Doc Holyday getauft, weil es in ihrer beider Gespräche stets ruckzuck um Ferien, Reisen usw. ging. Mit Medikamenten und der Erkenntnis, dass man da nix machen kann, verließ er die Praxis.

Ich bin da eher beharrlich, habe in der Hinterhand stets einen Fresszettel mit Notizen dabei, den ich aus dem Ärmel ziehe wie so ein Falschspieler das letzte As. Auf dem Zettel steht meine gesundheitliche Roadmap. Impfung check, dieses Medikament nehmen oder nicht, weil es steht doch im Widerspruch zu dem und dem? Eins noch, wenn es da weh tut, muss ich mir dann Sorgen um Herz, Leber, Lunge machen? Der Doc nutzt seine Chance, um einen Vortrag über den Anbeginn der Niere, Vererbung und seltene nephrologische Phänomene zu knüpfen. Die Raumforderung (ich erwähnte sie in einem anderen Blogbeitrag), kurz RF ist jedoch in mir drin und es beunruhigt mich, was es auf dem Nierenmarkt an absonderlichen Dingen gibt. Als der Doctor über Wandernieren erzählt, gelingt es ihm, mich abzulenken. Schon schmunzele ich beim Gedanken an Radlendennieren, Autofahrernieren, Pilgerinnennieren und ÖPNV-Nieren.

So schlau als wie zuvor und noch immer einen guten Monat vom MRT entfernt (gottlob hatte ich den Termin schon im November ausgemacht), verlasse ich die Praxis. Nachmittags noch eine Untersuchung beim Urologen. Das war ja auch so eine Sache. Mit dem Befund aus der Nephrologie Ende November fragte ich den Doc, hey, da steht RF drauf, drei Zentimeter groß, verkalkt, ist das schlimm, können Sie vielleicht den Termin in der Röntgenpraxis für mich ausmachen, dann geht es vielleicht schneller, woarufhin er sich windet, gehen sie erst einmal zum Urologen, wieso Urologe, frage ich, weil der dafür zuständig ist. Das Rollen verdörrter Büsche in den Tiefen meiner phantastischen Seele, aber was weiß denn ich, ist eben der Urologe zuständig, wenn der Doctor es sagt und immerhin gibt es den Urologentermin sogar früher als das MRT. Dennoch: mehr als Ultraschallen wird er wohl nicht machen, denke ich, aber vielleicht auch doch und überhaupt, vielleicht sieht er dann ja, dass RF zurück gegangen ist, herrje, so war es dann genauso. Zehn Minuten Urologie mit lieblosem Ultraschall (in der Nephrologie dauerte das Ganze eine dreiviertel Stunde und man bezifferte die RF auf den Millimeter genau. Der Urologe sagte jedenfalls, dass das Ding um die drei Zentimeter groß ist, schluss mit von selber Weggehen und nuja, MRT sei noch lange hin, aber nicht so schlimm. Gut, dass ich es schon im November angefragt hatte. Falls die RF schädlich sein sollte, würde er mir die örtliche Uniklinik anraten, denn bei anderen Kliniken verlöre man ruckzuck die ganze Niere.

Okay. So sieht das also in mir aus gerade. Die Raumforderung ist längst rein mental im Kopf angelangt und ich muss ständig darüber nachdenken, obwohl ich null Probleme habe. Keine Schmerzen, kein Blut, kein Unwohlbefinden, nichts.

Sorgen, dachte ich jüngst noch, sind die größte Verschwendung von Zeit. Wie oft im Leben denkt man, dies und das könnte passieren und es passiert meist entweder nicht oder es passiert und ist nur halb so schlimm.

Wenn man alle Lebenszeit, in der man sich mit Sorgen belegte, zurück erhielte, könnte man vermutlich einige Jahre Ferien machen.