Zum Bahnhof Hannover und per Zug nach Homburg/Saar
Ich schlingere nicht einmal wie sonst, wenn ich eine zwölf oder mehrprozentige Steigung hinauf kurbele. Stoisch, nein mantrisch gehts in die Abenddämmerung. Meinetwegen könnte die Steigung ewig so weiter gehen hinein in die Stille der Nacht, hinauf auf einen imaginären Simplon-Pass des langen Reisens. Irgendwo oben würde mich ein riesiger steinerner Adler erwarten, der seine Flügel ausbreitet und überm Dunst der großen Höhe wacht. Daneben tauch das Bild meines Freunds Marc auf, 2009 im August überquerten wir per Auto den Simplon auf dem Weg in sein „Hüsli“ im Tessin.
Zeiten schlagen über mir zusammen, treffen sich, winden sich, verweben sich. Es ist egal geworden, was jetzt ist, was vorhin war, was ich wann wo mal erlebte, alles findet gleichzeitig statt im eigenen Kopf. Das Früher ist das Später geworden und umgekehrt. Morgen war schon, ist lange her. Werde ich verrückt? Mitnichten.
Der Tag war der anstrengendste der Reise. Bei meinem Lager in einer Schutzhütte frühstückte ich Brot, Käse, gebackene Blutwurst, Haferflocken, Milch, Kaffee, alles vorhanden. ich müsste nur noch wenige Lebensmittel kaufen an diesem Samstag und ich könnte ein weiteres Wochenende überstehen auf dieser Reise, die mich irgendwohin führte, mich noch immer irgendwohin führt. Die Hütte ist groß genug, dass ich die Hängematte aufhängen konnte, in der ich abends ein wenig baumelte. Ist wie Sofa nur besser. Ich hatte fest vor, in der Hängematte zu übernachten, bis mich eine Stechmücke laut „sieend“ plagte, ich das Zelt noch aufbaute, nur das Innenzelt als Mückenschutz. Ich teilte mir den kiesigen Boden mit riesigen Käfern und einer Maus, aber besser, als in der Hängematte von der Stechmücke am Schlafen gehindert zu werden. Im Mülleimer der Hütte nehme ich eine Pfanddose ins Gepäck. Vier Glasflaschen lasse ich liegen. Hätte ich normalerweise auch noch eingepackt, aber meine Allestasche, in der ich eine einzige Muschel und allerlei Pfand aufbewahrte, hatte ich ja an der Elbe oder nördlich davon verloren. Hinein in den Tag, vorbei am Flughafen Hannover. Ab und zu ein Flugzeug. Grauer Himmel, Regenneigung. Rückenwind. Baumbewuchs um die Wege, über die mich das Navi lotste, ostwärts Richtung A7 und südöstlich ab Langenhagen Richtung Hannover. Die Tour ist noch immer in einem fragilen „es könnte sich so oder so entwickeln-Zustand“. Obschon ich sehr stark Richtung Bahnfahrt ab Hannover tendiere und das Navi auch zum Bahnhof programmiert habe. Das Navii zeigt: Ankunft etwa viertel vor zehn. Als ich aus dem Funkloch komme: eine Nachricht von Freund Ludwig, dass er etwa 13-14 Uhr Höhe Hannover auf der A7 südwärts fährt. Verlockend, wirklich verlockend. Ich liebäugele, kalkuliere, schaue Landkarte, rechne Kilometer und Zeit, will ja dieses Wochenende heim. Mit Ludwig bis ins Bayrische? Das wäre eine Möglichkeit. Kipppunkt der Reise, einmal mehr. Wenn ich mit Ludwig fahre, kann ich in Ochsenfurt raus, 45 Kilometer westwärts radeln bis Osterburken und dort in die S1 steigen nach Homburg. Aber ist die Strecke überhaupt schon wieder offen? Diese Version klingt jdenfalls sympathisch. Ich checke die S1. Sie fährt gar nicht. Die Bahnapp lotst mich mit Umstiegen von wo nach wo, bloß nicht die gute alte Direktverbindung, die drei Stunden oder mehr dauert vom Rande Baden-Wuerttembergs bis nach Homburg Saar. Ruckzuck verliert die Ludwig-Variante an Attraktivität. Verlockend wäre, mit ihm in die Finca jenseits Nürnbergs zu fahren zu Freund Leb. Das ist SEIN Tagesziel, aber das würde mich noch Tage weit weg von daheim bringen.
10:33 fährt mein Zug am Hauptbahnhof Hannover. Ein letzter Einkauf in einem Netto in Langenhagen, direkt am Wegrand. Banane und Pfandrückgabe. Ich erhalte 51 Cent zurück. Guter Tag. Auf dem Bahnsteig proppenvoll und es wird Minute um Minute noch voller. Zwei Männer in Warnwesten schicken alle Leute nach vorne, weiter weiter weiter bis zu Abschnitt A. Ich frage, wo ist das Radelabteil und einer antwortet, genau hier, also im weniger frequentierten Bereich. Habe Puls und Adrenalin. Die vielen Leute nach wochenlanger gefühlter Alleinsamkeit und nur ab-und-zuen Phasen der Dichtbevölkerung, die ich durchradelte wie Brei, tun mir nicht gut. Ich gottesurteile, wenn es nicht passt mit dem Einstieg, bleibe ich hier, rufe Ludwig an, fahre rüber zur Autobahn, warte auf ihn und verschiebe mein Zugfahrproblem nach Langenselbold oder Würzburg oder ich fahre doch mit zur Finca und denke tags darauf die Reise neu.
Der Einstieg klappt besser als erwartet. Die Metronom-Züge haben explizite Fahrradbateile, so dass sich keine sturen Leute irgendwo hinsetzen- oder stellen können. Habe sogar Sitzplatz. Bis Göttingen entspannt Zug fahren etwa ein zwei Stunden. Dort nächster Zug, nächstes übles Einsteigspiel. Auch da Glück. Zwei Radlerinnen auf dem Rückweg von einer einwöchigen Harz-Radreise wollen auch nach Frankfurt, sagen mir, dass es von Kassel keinen Zug nach Frankfurt gibt und man hinausradeln muss zur Wilhelmshöhe, dem Fernbahnhof. Nie durch Kassel ohne Wilhelmshöhe, denke ich. An der Wilhelmshöhe führt kein Weg vorbei. Fünf Kilometer sind zu überbrücken und der Anschluss fährt 14:14 Uhr. Gutso. Kann ich in ein Grünland pinkeln, denn das Zugklo ist ewig besetzt. Ich vermute Schwarzfahrende, die sich darin verstecken, oder einen Defekt. Wilhelmshöhe Brötchen gekauft in einem Backwerk, sonst wäre ich verhungert. Der Zug fährt nicht wie erwartet durch bis Frankfurt. Das bedeutet: ein weiterer peinvoller Umstieg in Fulda. Es ist immer aufregend und an diesem Samstag sind besonders viele Radelnde unterwegs. Junger Mann mit Kurierrucksack im Abteil. Wir plaudern. Er erzählt mir von Trekkingplätzen in der hessichen Röhn, die ein studentisches Hochschul-Projekt sind. Muss schick sein und nützlich. Eine zunächst mürrische Radlerin mit Chemo-bedingtem jungem Haarnachwuchs klinkt sich ein wegen des Trekkinghütten-Designs. Sie habe auch Design studiert und es interessiere sie als Wanderin. So plaudern wir bis Witzenhausen, wo der junge Mann aussteigt. Übrigens auch eine Art Europenner, der gerne wild zeltet, in Kassel und Hannover als Kurier arbeitet, im August will er nach Frankreich touren.
Adrenalin in Kassel und es klappt dennoch. Ich weiß gar nicht, was ich mich da immer anstelle, aber die Aufregung und die Sorge ist einfach in mir. Was kann schon passieren, außer dass ich nicht in den Zug komme und eine Stunde warten muss oder auch zwei. Es ist wohl dieses etwas partout wollen und es nicht sicher kriegen können, was das Leben so kitzelt. Frankfurt von Gleis 10 zu Gleis 20. Am Kopfbahnhof elendes Gewusel, kein Spaß natürlich. Gleis 20 zunächst schön leer, ich atme auf, könnte ein guter finaler Zug werden ins Saarland, ein Mann im Rollstuhl rollt vorbei, fragt um Geld. Ich gebe ihm ein zwei Euro-Stück, schaue ihm nach wie er weiter den Bahnsteig hinauf radelt, die Leute um Geld fragt. Eine Sackgasse natürlich, er muss auch wieder zurück. Muss an Journalist F. denken, denn der Mann hatte ein wundes Bein, genau wie mein toter Freund F., ach und sicher noch viel mehr Leid als nur das Bein. Gebe ihm auf dem Rückweg nochmal ein zwei Euro- Stück. Im Geldbeutel ist nun nur noch weißes Geld und ein symbolischer fünf Euro-Schein. Bahnsteig nun doch voll und als der Zug einrollt, stömen alle vom weit draußen Ende des Sackgassenbahnsteigs zurück, denn er ist nur halb lang. Mega Gerangel. Ich stehe zum Glück direkt beim Fahrradabteil hinter zwei anderen Radlern. Aussteigende und Einsteigende schlagen übereinander wie die Wellen von Nord- und Ostsee bei Skagen, denke ich und als ich endlich ins Abteil komme, ist da noch ein Radler, der raus will. Habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ja Reindrängler bin in dem Sinn, aber vor mir sind schon zig Leute da rein. Er siehts gelassen, unsere Taschen verheddern sich, es ist wie vermurkster Tanz, lösen sich schließlich und dann bin ich drin, er draußen. Tango mortale des Fahrradbabteilgerangels am Bahnhof Franfurt.
Die R3 kriegt einen weitere Wagen vorne angehängt, was der Zugführer schließlich kund tut, als schon alle im hinteren Wagen eingedost sind. Wem es zu voll ist, der kann umsteigen nach vorne. Ach ich Depp ohne Vertrauen! Aber konnte es ja nicht wissen. In Frankfurt ist der Sog nach Hause schon immens. Drei Stunden Fahrt und ich bin daheim. 17:28 geht es los. Der Zugführer hat Humor, lockert durch Ansagen wie etwa. Leider fahren wir seit Rüsselsheim hinter einem anderen Zug, der partout nicht vom Fleck kommt und verspäten uns deswegen, aber hey, sehen sie es gelassen, schneller als zu Fuß sind wir ja doch. Alle lachen. Im Abteil sitzt auch ein Sankt Wendeler Radler nach Kattegat-Umrundung. Von Rostock schiffte er nach Trelleborg, und radelte via Malmö, Göteborg usw. Er ist seit Flensburg heute früh in Zügen unterwegs. Was wohl nur dank ICE möglich war. Wir werden nicht so ganz warm. Wohl wirke ich wegen des konsequent getragenen Urbandoos auch etwas merkwürdig. Aber hey, das Gefühl, ein Minimum gegen mögliche Erkältungskrankheiten getan zu haben, tut mir dennoch gut. In den Zügen traf ich ein zwei Leute mit Maske. Der Rest schien unbesorgt. Es gab etliche Niesende, Schnupfende, Hustende. Und es war voll, so voll.
Bis Neunkirchen mit einer Gruppe Vorrentnerinnen meines Alters im Abteil, die sich einen schönen Irgendwohin-Tag gemacht hatten am Niederwalddenkmal und die tolle Geschichten erzählten von ihrer Tour. Offenbar gibt es da oben auch abenteuerliche Höhlen und man kann ein Kombiticket kaufen, für 22 Euro, das für die Schifffahrt ab Bingen gilt und die Seilbahnen hinauf und hinunter zum Denkmal. Darüber mal nachdenken, falls man einen Ausflug dahin macht.
Neunkirchen, Umstieg wegen Verspätung verpasst. In der Unterführung zum Aufzug wate ich meterweit durch Urinpfützen. Zwei samstäglich angetrunkene Jungs mit mir im Abteil, eigentlich ganz nett, aber eben angetrunken. Ein Mädchen mit gleich aussehendem Schoßhund auf dem Arm steigt zu und ich muss schmunzeln ob des komischen Bilkds und als die Jungs lachen – das Mädchen kriegt es zum Glück nicht mit, muss ich auch lachen, hasse mich dafür, sollst doch die Minderheiten schützen und zu ihnen stehen, nicht über sie lachen und das Mädchen gerät mir insgeheim zur Galionsfigur für Minderheiten, obschon das natürlich quatsch ist, aber es ist diese Du bist nicht perfekt-Situation wie auch im Zug zuvor, als ich mit dem aussteigenden Radler den Tango Mortale tanzte. Ich treibe im Brei der Masse und werde auch in dieser Masse bewegt und wenn ich individuelle Bestrebungen hin zu einer für mich als besser empfundenen Welt machen will, dass habe ich diese Masse als Hinderungsgrund und widersetze du dich erst einmal dem kollektiven Lachen, das ist gar nicht so einfach, wenn einer anfängt und im Grunde ist es mit dem Gähnen ja so ähnlich.
Homburg bis heim, neun Kilometer, oft geradelt. In Kirrberg radele ich die Kalköfer-Weg-Bypassage, also nicht den schmalen Fußpfad mit den hinein ragenden Hecken vorbei am Obstgrundstück, sondern den Teerweg Richtung Heilbachhof, die zwölf Prozent, die ewig dauern dürften. Kurzes Stück Sickinger Höhe. In der Ski und Wanderhütte ist Janda, Hippiemusik und Gesang und dann daheim. Und wie zum Glück weiß ich, als ich vor der Tür stehe, wo ich den Haustürschlüssel versteckt habe. Ich hatte es vor der Abreise auch aufs Video gesprochen, aber kram du erst einmal die volle Speicherkarte hervor und hangele dich zum ersten Video durch.
Was bleibt: bald 2000 Kilometer irgendwohin und wieder heim, dieses Blog, viele Bilder, vierhundert GB Filme und Ideen, Ruhe, hoffentlich bleibt sie, Zufriedenheit, froh, es getan zu haben, froh, es geschafft zu haben, wieder mehr Lebensmut und noch mehr Gelassenheit.
Was die Tippfehler der Beiträge betrifft, die ich in den letzten Wochen schrieb, nun am Tresen der heimischen Draußen-Küche unterm Vordach des Ateliers, halb stehend, halb sitzend am Barhocker lehnend, ja, sie sind meiner Schludrigkeit und Hast beim Schreiben geschuldet, aber auch zu einem guten Teil dem Umstand, dass die Bluetooth-Übertragnung machmal hakt, dass die Tastatur springt, aber hey, sie taugt und „schneller als zu Fuß“ geht es ohnehin.