Eventualitäten #AnsKap

Es war keine gute Idee, das Zelt neben dem Småbåthaven, dem Yachthafen in der Bucht von Alta aufzubauen. Obschon das kiesige Gelände recht idyllisch und windgeschützt neben einer Felswand liegt. Sand und Kieshaufen umgeben mich und Teerabbruch. Eine Baustoff- und Bauschutthalde zugleich ist das.Eben noch hat ein Vierzigtonner seine Last abgeladen, dabei ist es schon fast zwanzig Uhr. Ein riesiger Bagger steht verwaist.

Trotz des eigentlichen Ruhetags bin ich schon zu müde, oder sagen wir eher zu lustlos, um nach einem anderen Lagerplatz zu suchen. Es ist ohnehin etwas schwieriger, in einer zwanzigtausend Seelen-Stadt etwas zu finden, als draußen im Niemandsland. 

Herr Irgendlink verbringt den letzten Reisetag in einer leerstehenden Ladenpassage Die Heringe wollen in dem lockeren Split nicht richtig halten. Wenn es nachts stürmisch wird, dann habe ich ein Problem. Auch der Bagger macht mir Sorge: was, wenn der morgenfrüh zum Einsatz kommt? Was, wenn ausgerechnet mein Kieshaufen gefragt ist und aufgeladen werden soll?

Egal. Müdigkeit siegt über die Sorgen. Im Gepäck habe ich die Gewissheit, es gibt immer eine Lösung, dann, wenn Eventualitäten sich aus dem Gedankengewirredes Befürchteten materialisieren.

Um halb Acht donnert der Bagger etwa hundert Meter entfernt und man hört das Scheppern von Schüttgut auf Blech. Okay. Eventualität eins, frühe laute Arbeit ist eingetreten, Eventualität zwei, Sturm, der an den Nerven zerrt und die Heringe rauszieht, blieb aus und Eventualität drei, Mein Kieshaufen soll geladen werden blieb auch aus.

Trotzdem raffe ich meine Sachen zusammen und radele los, ein paar Kilometer durch die weitläufige Stadt bis zu einem Kiefernwäldchen und irgendwo lugt die Sonne zwischen zwei Wolken, so dass ich auf einem Felsen die Isomatte ausbreite und den Kocher ankurbele, Kaffee koche, Frühstückseier, Pfannkuchen aufwärme, alles, was das Reiseleben so gemütlich macht.

Wäre da bloß nicht der Regen, der sich von Norden anschleicht, feiner Nieselregen, eigentlich nicht der Rede wert. Ein guter Radfahrregen, würde ich wohl sagen, ist das. Aber nun mitten im ausgebreiteten Frühstückslager baut er sich auf zu einer imaginären immer schlimmer werdenden Front und im Kopf ist er längst zum Platzregen geworden, obwohl doch alles gut verpackt ist, und nichts was nicht nass werden darf draußen ist, inklusive mir selbst in einer wurstähnlichen, regendichten Pelle, so könnte ich stundenlang gemütlich frühstücken und den äußeren Einflüssen trotzen, aber der Feind lauert in mir. Er denkt sich das Schlimme herbei, das niemals eintreten wird – vermutlich – er packt auch schon seit Tagen das Radel und die Packtaschen zusammen, als wäre das ein ganz besonderer Akt. Der Feind im Innern denkt sich gruselige Welten zurecht, während außen die Vöglein ein fröhliches Liedchen trällern, die Sonne immer wieder durch noch so dichte Wolken schaut, die Bäche murmeln. Verflixt.

Stoisch und mir dies alles vergegenwärtigend frühstücke ich zu Ende. Man könnte tatsächlich sagen, gemütlich. Der Platz liegt auf einer Anhöhe über der E6 und ich könnte mir gut vorstellen, dass dies mein nächster, mein letzter Lagerplatz für diese Reise wird, denn der Flugplatz ist nicht weit.

Später flaniere ich durch Alta, treffe den Radlerkollegen Tim wieder – hatte ich schon erwähnt, dass er doch nicht zurück radelt, sondern sich auf den gleichen Flug eingebucht hat wie ich?

Es gibt nicht viel zu tun in Alta. Das wird einem spätestens klar, wenn man in der Touristeninformation vorbeischaut und dort die beiden Tipps erhält: Museum mit den Felszeichnungen und die Kathedrale des Nordlichts. Dazwischen sind drei Shoppingmalls, wobei über Kurz oder Lang wohl nur die eine, das Amfi bleiben wird. Sagt mein Bauchgefühl. Die Universität – ich war noch nicht drin. Pizzerien, ein paar Cafés, ein Plattenladen, der auch Instrumente verkauft.

Im Plattenladen kaufe ich eine Doppel-CD von Bands aus der Finmark, die hier in Alta aufgenommen wurde. Junge Musiker zwischen 16 und 25 Jahren. Klingt gut, ich habe reingehört.

Timo, der Psychologe steht plötzlich neben mir und wir reden noch ein Weilchen, bis er seine Mittagspause beenden muss und zurück zur Uni läuft.

Später döse ich in einem gut achzig Quadratmeter großen fast leeren Laden in der weniger frequentierten Park-Shoppingmall. Eigentlich ist dort nur noch Intersport drin und ein Restaurant und eine Kinderspielecke. Alles andere steht leer.

Mein Raum war vielleicht künstlerisch zwischengenutzt. Ein Sofa steht da, zwei Sessel, eine Steckdose. Was will man mehr?

Nichts ist älter als der Blogbeitrag von gestern. Dennoch. #AnsKap

Eigentlich wäre es ideal, die letzten drei Nächte hier auf dem Camping Solvang zu verbringen. Er ist nur sieben Kilometer vom Flughafen Alta entfernt, wo ich übermorgen um 7:35 Uhr zurück fliege nach Frankfurt.Vielleicht ist er mit 170 norwegischen Kronen pro Nacht relativ teuer – viel Erfahrung mit den Zeltplatzpreisen in Norwegen habe ich nicht. Einzig vom Hörensagen weiß ich, dass der eine oder andere Platz nur 90 Kronen die Nacht kostet, umgerechnet etwa zehn Euro und dieses Hörensagen hörte sich stets ein bisschen nach sensationell billig an.

Egal. Der Platz schließt glaube ich heute die Saison ab. Ein finnischer Psychologe sagte mir das, der gerne bis Freitag geblieben wäre. Timo aus Oulu, fußballkundig, Rammsteinfan, Mann mit Hund, bärtig, Outdoorklamotten und ein Allradauto, das SOLCH einen sonoren Motor hat und SOLCHE Reifen, kurzum, einen Typen, den man nie und nimmer für einen Psychologen halten würde.

An der hießigen Uni wird er ab heute für eine Woche lehren oder referendieren, so ganz habe ich es nicht verstanden. Fakt ist, dass er im September und November wieder kommen will und natürlich wird er zelten, zusammen mit dem Hund neben dem riesigen blauen Auto mit der düsteren Stimme.

Wir verstehen uns prächtig und schwadronieren über Fußball, Rammstein die Band, Ramstein die Stadt und solche Dinge, die mich zwar nicht sonderlich interessieren, und die vermutlich auch Timo nicht so arg interessieren, aber wir Reisende nehmen das Gesprächsfutter wie es gerade kommt. Fußball ist nunmal Deutschland wie die Sauna Finnland ist und das Matterhorn Schweiz und das Baguette französisch.

Mit einer Rumänin, die aus Paris kommt, unterhalte ich mich über die romanischen Sprachen im Allgemeinen und die französische im besonderen und ruckzuck mäandriert das Gespräch zu Ludwig IX, zum Absolutismus, zur Hochsprache der damaligen Zeit, um schließlich zu Norwegen und Alta zurückzukehren.

Hast du die Felszeichnungen gesehen? – Noch nicht. – Den Canyon, immerhin der größte in Nordeuropa? – Boa, das Wetter ist so schlecht.

Kurz schwebt der Gedanke im Raum, gemeinsam mit dem Auto, das sie gemietet hat dahin zu fahren, aber sie hat ja noch zwei Italiener im Gepäck, Rucksacktrampende, die sie um zehn Uhr zum Flughafen bringen möchte und Monsieur Irgendlink, moi même ist noch nicht bereit, das regennasse Zelt abzubauen.

Überhaupt, wie sieht der Tagesplan aus so zwischen Tür und Angel, kurz vor dem Abflug?

Fakt ist, dass ich den Camping verlassen muss, weil er ja schließt und Fakt ist auch, dass Hotel oder andere feste Unterkünfte nicht in Frage kommen wegen zu teuer und überhaupt, ein wildes Tier kann man ja nur schwer zwischen Hotelmauern sperren.

So schalte ich heute in den Langsamradelmodus, werde vielleicht zur Universität rüber radeln und mir die Zeit im dortigen Wlan vertreiben oder ins Schwimmbad gehen, das direkt gegenüber der Nordlyskathedralen ist. Das ist eine schneckennudelförmige Kirche, ein ziemlich tolles Bauwerk, das so in den Himmel ragt, dass das Nordlicht, welches in den langen Winternächten grün am Himmel züngelt direkt an den Kirchturm anknüpfen kann.

Ich glaube nicht, dass es diese Kirche 1995, als QQlka und ich hier vorbeiradelten, schon gab. Wie mir dieses gesamte Alta so vorkommt, als sei es erst in den letzten zwanzig Jahren gewachsen. Gab es das Scandic Hotel schon? Die riesige Passage mit dem Rema1000 Baumarkt? Ich erinnere mich nicht.

Auch das letzte Bild des Kapschnitts, auf der E6 Richtung Norden aufgenommen in einer leicht ansteigenden Rechtskurve mit dem Hinweisschild ‚Nordkapp 212‘ Kilometer konnte ich gestern nicht finden. Die Entfernung zum Nordkap hat sich sowieso geändert. Überall wurden die Kilometerangaben überklebt, weil die Strecke durch den Bau des Nordkaptunnels um etliche Kilometer länger geworden ist.

Wie wären wir 1995 überhaupt auf die Nordkapinsel gekommen, wenn wir nicht in Alta umgekehrt wären?

Wie sieht die Nordkap-Streckenhistorie aus? Vermutlich musste man irgendwie nach Honningsvåg kommen und von dort auf der erst – ich glaube – 1956 eröffneten Nordkapstraße ans Kap radeln.

Wenn man sich Straßen, insbesondere in Gebirgsgegenden oder auch in den Fjorden einmal näher betrachtet, wird man deutlich die Spuren erkennen wie sie gewachsen sind, wie nach und nach Brücken und Tunnel und tiefere Einschnitte in den Fels die Strecken verkürzten und die Steigungen minderten. Oft findet man die Überreste der früheren Straßenversionen in Form von Parkbuchten wieder.

In Frankreich mag man sich manchmal wundern, warum sich abseits der Straße plötzlich eine Platanenallee befindet, unnatürliche Parallelen im Nichts.

Und irgendwie ist das Prinzip der Straßenbegradingungen, des Wachstums eines Verkehrsweges ansich auch an dieser meiner virtuellen Reise erkennbar. Was früher mühsam mit Hand in Kladden notiert wurde, kommt heute direkt per Bluetooth-Tastatur in ein vielfach umformbares Dokument, ist angereichert mit Bildern und sogar eine Minimalrecherche ist direkt vor Ort dank Internetverbindung jederzeit möglich. Das Tüpfelchen auf dem I dürfte die kommunikative Komponente sein, schließlich kann man via Twitter und Blogkommentar jederzeit mit dem live schreibenden ‚Künstler in Bewegung‘ in Kontakt treten.

Nachdem ich gestern das Sennalandet von Norden kommend durchquert hatte, wurde mir bewusst, wie gut unsere Entscheidung war, 1995, uns nicht noch weiter zu quälen bis zum Nordkap. Ich vermute, die bis um die vierhundert Meter hohe und gut dreißig Kilometer lange kahle Hochebene hätte uns jeglichen Spaß ausgetrieben.

Nun lässt der Regen nach, wie angekündigt. Das Zelt werde ich wohl nicht trocken einpacken können, aber es bleiben ja noch zwei Tage und Nächte, um mein Heimreisepäckchen fluggerecht zu konfigurieren. Da das Fahrrad vermutlich extra berechnet wird, habe ich genug Freigepäck. Um aus fünf Packtaschen ein Gepäckstück zu schustern habe ich hier im Campinggebäude einen großen Müllsack gemopst, mit dem ich die zum Bündel verschnürten hinteren Packtaschen umwickele. Eigentlich sollte alles, was ich habe in diese beiden Taschen passen.