Memoiren

Kürzlich hatte ich eine Mail im Postfach mit dem schlichten Betreff „Memoiren“. Absender war mein Freund und Künstlerkollege Sven Schalenberg. Im Anhang zwei Dokumente und ein Jpeg-Bild, die sein Leben darstellen (danke Sven, für das Vertrauen). Skizzenhaft, nicht ausformuliert, hastig geschrieben mit etlichen Zeitsprüngen, themenbedingten Reisen durch das eigene Leben. Die Dokumente von zwanzig dreißig Seiten stellten das Leben einmal als Künstler, einmal als Privatmann dar. Das Bild – Schalenberg ist ein großartiger Maler – zeigte das Leben auf grafisch-malerische Weise mit Prognose, wie es womöglich weitergeht. Definitiv ein guter Entwurf für Memoiren, so dass ich dachte, warum bist du nicht berühmt genug, dass sich ein Filmteam deiner annimmt, oder ein Biograf. Wie es sich für große Künstler geziemt.

Auf seiner Webseite erfährt man in der Vita über den Künstler auch dass 1988 MS bei ihm diagnostiziert wurde. Sowohl in den Memoiren, als auch für diese frühe Reaktion, „inmitten des gelebten Lebens“ schon daran zu werkeln, spielt die Erkrankung eine große Rolle.

Wir denken eigentlich viel zu selten an das eigene Ableben. Marcel Duchamp hatte einst gesagt: „Es sind immer die Anderen, die sterben„. Der eigene bevorstehende Tod wird einem immer nur dann ins Bewusstsein gerückt, wenn man auf eine Beerdigung geht, oder selbst einen gesundheitlichen Schicksalsschlag erleidet. Dabei kann es fast jederzeit und überall passieren. Zack und weg und was dann, mit den angesponnenen Lebensfäden? Ich weiß nicht, ob es bei uns Künstlern und Schreibern „unvollendeter“ vorgeht, als etwa in einem Beamten- oder Fabrikarbeiter- oder Hausfrauenleben. Vielleicht ist Leben und das eigene Werk stets unvollendet? Auch wenn man nur motivationslos den ganzen Tag vor dem Fernseher liegt? Ich weiß nicht. Man dürfte nicht über die Innenwelten anderer spekulieren. Wer weiß, vielleicht schlummert im scheinbaren Nichtsnutz ein wunderbarer Philosoph, der insgeheim, Sitcoms konsumierend an der Weltformel arbeitet?

Bei kaum einer Berufsgruppe wird das sogenannte Lebenswerk so bildlich und deutlich dargestellt wie bei uns Künstlern (weil es nun mal bildlich zu Tage tritt). Kann ich das so sagen, ohne dass es überheblich wirkt gegen etwa die Vereinsvorsitzende eines Vereins zur Völkerverständigung, gegen den Modellbauer, der ein Leben lang an einer riesigen Modellbahn arbeitet?

Mein Nachbar, habe ich mir sagen lassen, schreibt auch gerade an seinen Memoiren. Von hunderten Seiten ist die Rede. Er ist 86 Jahre alt, körperlich und geistig ungewöhnlich fit. Es ist unwahrscheinlich, dass Freund Schalenberg, ja selbst ich, einmal so alt werden. Wir alle sind angezählt, aber im Gegensatz zum Boxkampf hört das Zählen nicht auf, weiß man nicht, wie weit bei jedem gezählt wird.

Auch ich denke seit 2009 (da war es mal echt knapp mit dem Weiterleben) über so eine Art Memoiren nach. Vielleicht ist das ein menschliches Bedürfnis, noch einmal zu erzählen, das und das war mir wichtig. Vielleicht ist es auch nur künstlerische Eitelkeit? Oder der Versuch, auf diese Weise dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.

Ob wohl dieses Blog taugt Memoiren zu sein, war zunächst die naive Frage. Seit 2001 entstehen hier mehr oder weniger persönliche, selbstdokumentierende Texte und Bilder. Sie balancieren hart am Rande der Wahrheit, obschon Monsieur Irgendlink stets fest und steif behauptet hat, dass er und ich, nicht in einen Topf zu tun seien. Dass er der Schauspieler ist auf der Blogbühne, der wie in einem Schattentheater das spielt, was ihm die Regie aufgibt.

Ein großer Unterschied zu Memoiren dürfte wohl sein, dass viele Texte in (m)einem Blog direkt aus der Gegenwart heraus entstehen. In den Livereisen sind sie meines Erachtens sogar so direkt, dass sie fast exakt den gegenwärtigen Status, die gegenwärtige Befindlichkeit des Erzählenden wieder geben. Wie schrieb ich einst: „eine Operation am offenen Herzen der Literatur. Kaum gedacht und erlebt und schon gebloggt“, ich nähere mich in meinen Blogtexten der Gegenwart auf ein nahezu unüberbietbares Maß, dass – wenn wir Menschen wären, die Gegenwart und ich – wir gegenseitig den Atem auf unseren Wangen spüren könnten.

Vielleicht muss im Zeitalter des Weblogs und der sogenannten Sozialen Medien auch einfach die Geschichte der Memoiren neu geschrieben werden? Die Erinnerung wird ersetzt durch ein direktes Mitdiktat des gelebten Lebens und du hast einzig das Problem zu lösen, bei diesem Mitschnitt so ehrlich wie möglich zu sein, denn auch das ist ein Unterschied zu den herkömmlichen Memoiren: Ein Blogger, der im blühenden Leben steht und weiß, dass man ihm bei seinem selbstdokumentierenden Tun über die Schulter schauen kann, schreibt anders, als ein Mensch, der im stillen Kämmerlein in der Nähe des eigenen Todes seine Erinnerungen auf Papier rettet.

Ich werde in diesem Blog nun eine Rubrik „Memoiren“ einrichten. Nur für den Fall, dass sich Vergangenes in den Mahlstrom meines Erzählens einschleicht. Memorierenswertes.

Tröpfchenberegnung der feinen Künste

1995. Ungestüm. Voller Ideen. Das Konzept Kunststraße geisterte seit etwa einem Jahr in Herrn Irgendlinks Kopf.

Im Nachhinein sehe ich es irgendwie landwirtschaftlich. Wie ein Same wuchs eine Idee, die unbedingt größer werden wollte. In meinem verrückten Künstlerkopf. Ein abstrakter Acker, der, wenn man ihn darstellen wollte ein ganz normales Menschenhirn ist. Fruchtbarer Boden aus Grauen Zellen und Synapsen, der ohne Unterlass das Geschehen um mich herum aufsog; wie Wasser und Dünger, die den Samen nährten und groß werden ließen.

Eigentlich ist es mit dem eigenen Hirn, dem Denken, dem Bewusstsein, dem Fühlen, dem sich selbst Entwickeln tatsächlich ein bisschen wie mit einem Gemüsegarten. Die angebauten Früchte sind Ideen, Information gewordene  Kulturpflanzen. Je nach Geschmack kann man diesen Garten in seinem Inneren gestalten. Manches gedeiht gut. Anderem fehlt vielleicht Licht, Wasser, Nährstoffe. Bis zu einem gewissen Grad kann man selbst bestimmen, was in diesem Garten wächst.

Aber es schleichen sich womöglich auch Beikräuter ein, die man nicht in diesem Garten sehen will. Die Unabdingbarkeiten des Lebens werden herübergeweht und fassen in der eigenen Kultur Fuß. Wie man damit umgeht, dass z. B. der Nachbar Gewächse über die Grenze wachsen lässt, hängt davon ab, wie stark der Gestaltungswille im eigenen Ideengarten ist.

Die Kunstidee war jung. Verreisen und alle zehn Kilometer ein Foto der bereisten Strecke machen und an der monotonen, scheinbar zufälligen Serie von Straßenbildern andere, sehenswertere Bilder wachsen lassen. Es braucht nicht viel, um ein solides Kunstkonzept zu säen. Die langwierige Pflege ist das Problem.

Schon ein Jahr zuvor, 1994, hatte ich die Kunststraßenidee erstmals ausprobiert. Ich wollte von meinem damaligen Wohnort Oppenheim, am Rhein südlich von Mainz nach Berlin an die Akademie der Künste radeln, alle zehn Kilometer ein Straßenfoto schießen, Gegenstände im Straßengraben sammeln, daraus Collagen machen, Zeichnungen, Geschriebenes. Dieses unterwegs gesammelte Material sollte in eine Mappe einfließen, die, auf der Straße zusammengestellt, meine Bewerbung an der Kunstakademie werden sollte.

Die Reise scheiterte nach ein paar Tagen hinter dem Vogelsberg in Mittelhessen am schlechten Wetter und auch an den künstlerischen Rahmenbedingungen. Ich konnte weder gut fotografieren, noch zeichnen, noch schreiben. Ich hatte nur das Saatgut für mein Konzept, wusste aber nicht, wie ich die Werkzeuge und die Düngemittel einzusetzen hatte. Natürlich klappte auch die Bewerbung an der Akademie nicht.

Zum Glück konnte ich ein paar Samen überwintern, so dass 1995 mit dem Kapschnitt eine erste Fotoausstellung realisiert werden konnte. Im Dezember wurde sie in der frisch gegründeten Galerie Walpodenstraße meines Freundes und Reisegefährten QQlka ausgestellt.

Bis ins nächste Jahrtausend (gell, das klingt schön theatralisch) bauten wir gemeinsam und oft auch ich alleine einige dieser Kunststraßen. Als raumgreifende Fotoinstallationen wurden sie in Mainz, Wiesbaden, Fürth und im legendären Club W71 in Weikersheim gezeigt. Krönend war sicher die Einladung ins Rahmenprogramm der Intercycle Cologne, die mir einen riesigen Doppelstand zur Präsentation meiner Kunststraßen zur Verfügung stellte. Zwar nicht die Art Cologne, wo es eigentlich hingehört hätte, aber immerhin.

Ab 2001 wurde es, nach einer Ausstellung im Kultursommer Rheinland-Pfalz zu anstrengend, die Rauminstallationen zu bauen – in einem Parkhaus in meiner Geburtsstadt Zweibrücken baute ich letztmals eine etwa vierzig Meter lange Kunststraßenkonstruktion. Solche Kunst zu verkaufen war einfach unmöglich fernab der Tröpfchenberegnungsanlage des Kunstmarkts.

Vielleicht habe ich meinen geistigen Garten ein bisschen verwildern lassen. Aber ich blieb der Idee Kunststraße treu. Saatgut hatte ich ja genug. Von Jahr zu Jahr fotografierte ich mich in 10 Kilometerabständen durch Europa. Rund um die Schweiz. Auf Treidelpfaden durch Frankreich bis nach Andorra. Längst hatte die Google’sche Streetview das Konzept eingeholt. Das GPS wurde kurz nach einer ersten Frankreichdurchquerung im Jahr 2000 für Normalbürger freigegeben. Die digitale Fotografie knackte irgendwann um 2003 oder 2005 die Qualitätsstufe der Analogfotografie. Smartphones kamen gegen 2010 ins Rennen. Weblogs als günstige Alternative zur Veröffentlichung und zur virtuellen Darstellung von Gedanken, Bildern und Texten. Fast von Anfang an war ich dabei. Erste Texte und Bilder postete ich im klassischen HTML Format seit 2001. Das Blog als Kunstform wuchs nun in meinem Garten. 2010 versuchte ich erstmals, eine Kunststraße zum Mitreisen für eine kleine Schar von Anhängern meines Blogs täglich live zu übermitteln. Auf den Spuren der Reise von Zweibrücken nach Andorra, die ich zehn Jahre zuvor noch analog und ohne Publikum gemacht hatte, übermittelte ich Bilder und Texte per Mail und mit einer ziemlich schlechten App in dieses Blog. Im Winter folgte der Jakobsweg, der Camino Frances. Das erste literaturlastige Kunststraßending. Auf einem iPhone 3GS entstand das mittlerweile überarbeitete und auch gedruckte Buch Schon wieder ein Jakobsweg.

Erst 2012 waren sowohl Software, als auch mein Garten und ich gut genug gewachsen, dass mit Ums Meer auf dem knapp 7000 km langen Nordseeradweg ein vollständig digitales Blog-Kunstwerk realisiert werden konnte. Scherzhaft sage ich, dass ich mich auf dieser viermonatigen Reise zu einer Kunstmaschine entwickelt habe.

Das Loch nach dieser Reise war tiefer, als die Löcher, die sonst nach Reisen entstehen. Ich war arbeits-, perspektiv- und mittellos. Versuchte ein Jahr lang im Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Aber zu alt, zu wenig spezialisiert und für das, was ich konnte, Reisen, dabei denken und dies zu vermitteln, gab es ja keinen Markt. Mein Kunstgarten gedieh zwar prächtig, aber kaum jemand interessierte sich für die Früchte.

Jeder normale Mensch hätte wohl die Klitsche verkauft oder einfach eingestampft. Was aber tun mit all den feinen Pflänzchen?

Glücklicher Weise hatte ich mich nicht zu sehr an Geld und Sicherheit gewöhnt, so dass ich wie durch ein Wunder 2013 ohne zu verhungern überlebte. Im Sommer baute ich sogar eine neue Kunststraße nach Österreich. Ziel war das Memory Of Mankind in den Salzwelten in Hallstatt. Dort hat der Keramiker Martin Kunze ein faszinierendes Langzeitarchiv angelegt, das tief in den alten Salzstollen des Bergwerks auf langlebigsten Keramiken entsteht. Die Reise wurde dort auf etlichen 20/20 cm großen Fließen archiviert. Mit gerade einmal 90 € in der Tasche schlug ich mich zehn Tage lang durch Süddeutschland und Österreich. Natürlich alle 10 Kilometer ein Foto und mannigfaltige Kunst und ein sehr persönlicher Reisebericht (nachzulesen hier in diesem Blog unter Projekte, oder eben in Minischrift im Memory Of Mankind).

Plötzlich spielte Geld kaum noch eine Rolle. Im heimischen Ateliergarten gedieh ein echter kleiner Selbstversorgergarten. Mit wenigen Kunstverkäufen und Webdienstleistungen hielt ich mich über Wasser.

2014 folgte eine weitere Pilgerreise. Zu Fuß mit meiner Liebe, der großartigen Sofasophia. Wir durchwanderten die Schweiz von Nord nach Süd, überquerten den Gotthard bis ins Tessin. Natürlich mit einem Sack voller Kunstsaatgut. Beide livebloggten wir (siehe Gotthard unter Projekte in der Linkleiste oben).

SoSo hat mit Zur Quelle hin ein eBook daraus gemacht. Auch mein Gotthardbericht wird demächst als eBook erscheinen.

Weiterhin ohne Geld durchs Leben. Ende 2014 war die Lage katastrophal. Aber wie es so ist im Leben: Immer wenn du denkst es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.

Schon lange liege ich Freund QQlka in den Ohren, wir radeln nochmal rauf zum Nordkap. Wie damals ’95. Zwanzig Jahre revival auf den eigenen Spuren. QQlka sagte nein. Sein Leben hat eine andere Richtung genommen.

Wie sollte ich die ca. dreimonatige Reise ohne Geld machen? Crowdfunding? Dazu bin ich nicht Rampensau genug. Wohin mit dem Saatgut so ganz ohne monetären Dünger? Das Lichtlein kam im Winter und leuchtete und leuchtete. Viele kleine Lichtlein, die noch erwähnt werden sollen. Es ist ja genug Zeit, die Geschichte an dieser Stelle auszubreiten. Viele alte Reisegefährten und -gefährtinnen, die virtuell dabei waren auf der Nordseerunde haben mir Unterstützung zugesagt. Wenn es nur ein warmes Wort ist, ein netter Kommentar, ich weiß, dass Ihr dabei seid und mir den Rücken stärkt.

Ein paar „Irgendwas mit Computer“ Aufträge haben ein Reisebudget von etwa 1500 € zusammengebracht. Das reicht für zum Nordkap, denke ich. Über den Rückweg mache ich mir Gedanken, wenn ich dort oben stehe in der Mitternachtssonne vor dieser menschenumschwirrten Kugel an der Brandung des Nordmeers.

Dieser Artikel wurde auf dem Smartphone getippt. Fingerübung für das was da kommen mag.

Seid Ihr dabei, wenn es ab 15. Juni wieder heißt: Täglich frisch auf irgendlink.de?