Eingeschränkter Blogbetrieb

Bis Ende September. Schon drei gute Geschichten ungeschrieben.
Am 3. und 4. Septemberwochenende habe ich mein Atelier geöffnet im Rahmen der Offenen Ateliers Rheinland-Pfalz Samstags und sonntags von 14 bis 19 Uhr. Samstagsabends Lagerfeuer. Ich zeige Zweibrücken-Andorra 2010. Und viele andere Bilder.
Ungünstiger Weise in den nächsten fünf Wochen noch zwei bis dreihundert Stunden Loungemöbel bauen.

Urbane Kunstspaziergänge

Seit ich mit Everytrail und dem Mobiltelefon experimentiere, gehören die Bern-Spaziergänge- und Fahrten zum festen Bestandteil des Künstleralltags. Eine Stadt mit ihren opulenten Bildvorlagen eignet sich besonders gut für das neue Medium, welches Text, Bild und geografische Daten in einer Flash-Diaschau vereint.

Gestern versuchten Sofasophia und ich erstmals, einem anderen Everytrailtrip zu folgen: Charlands Bern, Zentrum Paul Klee, Egelsee, Rosengarten aus dem Jahr 2007. Es ist mühsam, den Weg nachzuvollziehen und die Bildstandorte aufzuspüren. Wir scheiterten kläglich, weil es schier unmöglich ist, der Karte auf dem Telefon zu folgen – man müsste ständig aufs Display schauen, um den richtigen Weg einzuschlagen – nach einigen Irrungen gaben wir unweit des Wankdorfstadions auf und konzentrierten uns auf unseren eigenen Weg. Dabei entstanden folgenden Clips.

Urban Artwalk Bern Breitenrain (by Irgendlink)

Bern-Breitsch und mehr (by Sofasophia)

Wie ich so die Welt vor mir sehe als vielschichtige Matrix, die mehr als nur drei Dimensionen braucht, um erklärt werden zu können – auf Charlands Spuren, der seinen Trip 2007 aufgezeichnet hat, wandeln wir im Jahr 2010 ein gutes Stück, zeitlich versetzt. Wenn man die Welten übereinander schichten könnte, würde man durchschauen können wie durch ein Folienset. Sofasophias Welt deckungsgleich mit der irgendlinkschen und weiß Gott wieviele menschen gestern den gleichen Weg gingen wie wir, aber ihren Wahrnehmungsschwerpunkt auf andere Sichten legten. Schon die Exemplare Sofasophia und Irgendlink zeigen verschiedene Sichten. So gehen wir durch Zeit und Raum, kaum vorstellbar, dass alles aus einem Punkt entstanden ist und wieder in einem Punkt enden wird. Unsere Pfade sind so ähnlich und unsere Sichten oft so unterschiedlich.

In der Nähe des Bahnhofs fotografiere ich die Spiegelung eines Zebrastreifens in einer polierten Marmorsäule, ein unmögliches Unterfangen, es mit dem Mobiltelefon zu versuchen. Als ich das Bild lösche, läuft ein grauhaariger Wanderer vorbei, bleibt bei der Säule stehen, reißt einen Aufkleber ab, noch ehe ich sehe, um was es sich handelt, geht unbeirrat weiter und knetet das Papier in der Hand. Zwei menschen auf den Antipoden der Marmorsäule. Schon bin ich versucht, ihm nachzurufen, „wassen da drauf,“ fällt mein Blick auf ein Thermometer, welches in der Wand eines Pharmaladens eingelassen ist und, neben dem Sofasophia irgendwas beobachtet, ich weiß nur noch: 23,4 Grad Celsius, Luftdruck 1271 Hektopascal. Weiter weiter weiter, durch die noch immer 1.August-beflaggte Altstadt, „welche in diesen Tagen einen ganz besonderen fotografischen Reiz hat,“ sagt Sofasophia, denn die Flaggen hängen nicht immer aus den Fenstern. Asiatische Touristen vor dem Münster – „Ihr Münster!“, bin ich versucht, zu rufen in Anlehnung in den angewiderten Ausruf „Du Monster, was hast du getan.“ Lächele in mich hinein über die hohe Aarebrücke am Bärengraben, eine Wurst voller Touristen platzt aus der Pelle, selbst für uns Radler ein Spießrutenlauf hinauf zum Rosengarten. Nun mitten in Charlands Trip, die Augen immer wieder aufs Telefondisplay, wo ist er/sie gelaufen, wo hat er/sie fotografiert? Charland machte die Tour im Winter. Nicht nur das Datum spricht dafür, auch die Fotos zeigen es. Breitenrain. Plötzlich verirrt und auf eigenen Wegen unterwegs in Wankdorfs Abgründen, eiskalten Gewerbezonen, Graffity verzierten Bahnschuppen, Baustellen. Eine eigenwillige Romantik entfacht diese sonntagsstille Gegend. Zurück in die Stadt, am Bahnhofs-Migros ein unbeschreibliches Gewimmel. Im vorbeihetzen ein Schnappschuss auf das T-Shirt eines dicken Mittdreißigers: „(…) wir brauchen mehr Oasen (…)“ entziffere ich den Aufdruck unvollständig. Und darüber denke mal nach, eine Rolltreppe lang, auf der du dir rückwärts fahrend die Schuhe bindest und Sofasophia über dir schauend kommentiert: „noch zehn, neun, acht, sieben Stufen.“ Habe ich eben ihr sei Dank zwei Dimensionen gleichzeitig erlebt? „Ich sah die Rolltreppe,“ werde ich meinen Enkeln erzählen,“langsam beförderte sie mich nach unten und ich band mir die Schuhe zu.“ Das Treiben im ruhigen Strom der Menge ist trotz aller Unentrinnbarkeit ein Wettlauf gegen die Zeit. Ausgehungert zurück ins Quartier – wie sie in der Innenstadt so wohltuend die Straßen gesperrt haben, kein Auto darf rein, überall stehen Wächter mit gelben Warnwesten, die die Strecke für einen Skatemarathon abriegeln und wir uns mit den Rädern vorbei quetschen, ab und zu der Lufthauch eines schwitzenden Rennteilnehmers – „gib mir ein L“ – sag ich zur Sophia, sie zuckt die Schultern und mit dem Kinn weise ich hinüber zu dem grauhaarigen Rennteilnehmer, der auf seinen Siebenmeilenkufen an uns vorbei weht, die Hände auf dem Rücken, den Oberkörper parallel zum Teer, ein L auf Rädern. Ha. Zwei Ebenen, die sich im 90-Grad-Winkel schneiden verleihen der Szene einen Hauch Räumlichkeit.

Abends das letzte Grandiosum: ein rundes,  an die 100 m durchmessendes Schwimmbad am Rande der Stadt – wie üblich in Bern eintrittsfrei. Tja Liebling und das war mein Tag.

Den Parallel-Blog in der Parallelwelt findet ihr hier. Und das ist nur einer von vielen :-)

Zwischen den Wegen der Phantalität

Ich frage mich, ob wir Menschen nicht in allem was wir tun Bildhauer sind. Zumindest ich: mühsames meißeln am harten Fels der eigenen Phantasie. Die Rekonstruktion der alten Kunststraßenstrecken bis zurück ins Jahr 1995 erweist sich als mühsam, aber machbar. Im Artikel Brotkrümel (Zweibrücken-Andorra 2010) habe ich erste Links zu den Nikon-Bildern eingefügt und werde nach und nach sämtliche 22 Tour-Tage verlinken. Hätte ich im Frühjahr nicht den Technik-Patzer gehabt (Bug in der GPS-Software, die dafür sorgte, dass Trips ab dem 2000sten Punkt ohne Warnmeldung überschrieben werden), wäre zumindest die letzte Kunststraße Zweibrücken-Andorra leichter und exakter zu rekonstruieren. Alleine meinem Misstrauen gegenüber der Technik ist es zu verdanken, dass ich die Strecke an Hand des Reisetagebuchs exakt rekonstruieren kann.

Wohl dem, der Hosenträger UND Gürtel trägt.

Die letzten Tage vergehen wie im Flug. Nach einer kurzen Panik, ich könnte mal wieder im Krankenhaus landen, so wie letztes Jahr, fühle ich mich heute wieder fit, Tatendrang dein Name sei Irgend. Die Sterne sind wieder erreichbar und der Fels, aus dem ich meine Phantasiegebäude meißele fühlt sich nicht unbehaubar an.

Eine langsame und bedächtige Zeit, in der man durchaus verzweifeln kann – einst lag ich im Schatten eines von unsäglicher Hitze gebeutelten, alten, kranken Olivenbaums an einer staubigen Kreuzung in der Extremadura, durstig, müde, trampend. Die wenigen Autos, die dort vorbei kamen, stoppten nicht und zu Fuß wäre ich unter sengender Sonne keine 10 Kilometer weit gekommen. Aus unerfindlichem Grund kam auch der 14-Uhr-Bus nicht, der auf dem einsamsten Fahrplan der Welt eingezeichnet war. Rettung versprach nur die dunkle Bodega, das einzige Haus kilometerweit, kahl und schmutzig, zahnloser Wirt, Zapfanlage. Ich ging hinein, trank ein Bier. Der wenige Alkohol schlug auf nüchternen Magen voll durch, so dass ich beruhigt zurück kehrte in den Schatten des Olivenbaums und den Daumen raushielt. Wenn man am Straßenrand auf Zufälle hofft, ist das wie im richtigen Leben: die wohl geformte Idee, die man sich von der Zukunft macht, ändert sich mit jeder Minute, tickitick tickitick tickitick-tick-tick. Stellt man sich etwa vor, ein großes Auto mit Klimaanlage und wunderschöner Fahrerin stoppt und fährt genau dahin, wo man will, so schreitet die Demontage dieser Idealvorstellung mit jedem verschwitzten Lastwagenfahrer, der hupend und höhnend an einem vorbei fährt, voran. Die eigene Phantasie hat alle Hände voll zu tun, den Teig, aus dem das Brot der eigenen Zukunft gebacken wird, zu kneten und neu zu formen – sicher wäre es auch okay, mit einem schweißstinkenden LKW-Fahrer in einem Hühnerlaster mit Blattfederung weiter zu kommen. Alles in allem bleibt ja das Ziel das Wichtige und nicht wie man dahin kommt. Einmal mehr der Beweis, dass das Ziel das Ziel ist und nicht der Weg. Obschon ich zugebe, dass der Weg zum Ziel eine gewichtige Rolle für das Wohlbefinden spielt. In den Stunden des Wartens an der Kreuzung in der Extremadura knetete ich meinen Brotteig so weit, dass selbst die Vorstellung, von diesem einsamen Platz zu Fuß zu entrinnen, Gestalt annahm; wenn es dunkel wird, sagte ich mir, und du noch immer nicht bei der Schönen im klimatisierten Auto sitzst, nimmst du so viel Wasser mit wie du tragen kannst und durchwanderst die Nacht.

Das ist meine Lebenseinstellung. Ich vergesse nur manchmal, dass es diese letzte Möglichkeit gibt, vergesse die kühlen Brunnen da Draußen und die kräftigen Füße, die Möglichkeit der Langsamkeit als letztes Mittel auf dem Lebensweg.

Hum? Wie komme ich jetzt zurück zum Bildhauer-Bild? Mal wieder so ein Spontantext voller Bilder und Mysterien, aber ich stelle ihn dennoch öffentlich, damit Ihr da draußen seht, dass ich an dem Fels namens Weblog weiter arbeite.

Und wie ich die Kreuzung verlassen habe? Auf dem Mittelweg der Phantasie.