Vom Seeland ins Juragebirge

Ein Gefühl von Winter will zu Hause im Flachland in der Pfalz so ganz und gar nicht aufkommen. Und auch in der Nordschweiz zwischen Alpen und Jura kommt man nicht auf die Idee, dass die „kalte“ Jahreszeit eingeläutet ist. Übernachtet bei Freunden im Aargau, fahren wir gestern durchs Seeland. Bestwetter bis Neuchatel, dann drückender Nebel. Zwischenstop in den Thermen von Yverdon. Vom Dach des Heilbads starre ich durch den Dampf eines Whirlpools aufs Kurhaus, wundere mich, dass die Schafe auf der Wiese davor alle in die gleiche Richtung grasen. Eine Phalanx natürlicher Rasenmäher, so schlafe ich auf einem Liegestuhl ein, bis mich drei tratschende Französinnen wecken. Raus ausm Bad und weiter über Orbe Richtung Besançon. Ab 800 Höhenmeter verlassen wir den yverdonischen Nebel, schrauben uns hoch ins schier ewige Eis des Jura. Mit La Brevine soll hier in der Gegend der Ort sein, andem die kälteste Temperatur jemals in der Schweiz gemessen wurde. Am elektrischen Thermometer steht auf über 1000 m Höhe -9 Grad. Wir haben die franz. Grenze passiert. Weite Hochebene wird langsam Dunkel. Beiderseits der Straße türmt der Abraum von Schneepflügen. Die Scheibenwaschanlage friert ein. Weihnachtsbäume in brilliantestem Atomstrom. Die Quelle des Doubs ist auf einem Schild ausgeschildert. Ein Fluss namens Lizon und einer Namens Saine mit A in der Mitte. Wasser, Eis und Nebelbänke, Kalte Kirchtürme, die sich nicht entscheiden können, ob sie lieber vor Abendrot sich zeigen oder im grau-blau-rosa Dunst.
Ein Wunderland zweifellos. Auf eisglatter Strecke erreichen wir unser gestriges Tagesziel La Lunette. Eine ehemalige Mühle, Brillenfabrik, woher auch der Name kommt. SoSo und ich beziehen ein Zimmer, in dem noch nicht allzu lange her jemand gestorben ist. Ich hätte nicht gedacht, dass ich damit ein Problem haben könnte. Dennoch ziere ich mich, gehe mit einem beklommenen Gefühl ins Bett. Stelle absichtlich nicht die frage, ob es dieses Bett …
Nun schon Mittag, bestens geruht. Sonne strahlt. Wir werden einen Spaziergang ins nahe Dorf machen, ein Baguette kaufen, es anbeißen und Wein oh lala la France.

Das freie Gleiten der Finger auf Glas

Mühlhausen. Wie mit dem Stechbeitel gestochen steht der Mond über den Vogesen. Einsamer Stern und Fliegerstriemen auf ihrem Weg nach Gouadeloupe. Man könnte nicht meinen, dass es Winter ist. Genausowenig wie, dass schon Weihnachten war. Einzig die ruhige Straße – mein Gott, wo hab ich die Strecke um Strassbourg je so friedlich erlebt – zeugt von Feiertag. Sogar das Reißverschlussverfahren funktioniert an einer Verzweigung vom Zubringer Haguenau auf die A4. „Das Fest der Liebe“, sag ich zu SoSo. „hoffnung für den Güterverkehr. Und den privaten.“ Wir überholen einen Schlachtviehtransporter. Langsam senkt sich die Nacht. Fürs iPhone buche ich ein Auslandspaket. Eine Woche Datenflat. Ich muss das testen. Schon in drei Monaten geht es wieder auf Lifereise. Nun eine Woche Trainingslager im französischen Jura. Irgendwo nördlich von Genf in einer alten Mühle bei den Quellen des Ain.
Nun, da ich diese Zeilen tippe, merke ich, wie ich das vermisst habe, das Gleiten der Finger auf dem iPhonebilschirm zwecks Erstellen von Schrift.
Nun an der Grenze.
Die Fipptehler, die durch das freie Gleiten auf Glas entstehen während der holprigen Fahrt, lasse ich erstmal drin.

Am Horizont eine Lücke Licht

Das Jahr fürs Feine neigt sich dem Ende. Die Zeit wird knapp. Nur die Erkenntnis, dass die Einteilung der Zeit durch die Menschen eigentlich eine willkürliche Angelegenheit ist und dass es schädlich ist, auf Zeitpunkte hinzuarbeiten, hält mich zurück in Panik zu kollabieren. Wenn ich tatsächlich am 31. Dezember mit den finalen Aufräumarbeiten auf dem einsamen Gehöft und in meinem Leben fertig sein wollte, müsste ich das Jahr um sechs Wochen verlängern.
Auf dem Weg zur Arbeit besinne ich mich heute morgen einer alten, selbst erfundenen Technik: zuerst die Dinge bis ins feinste Detail groß zu denken, um eine Art Straßenkarte zu haben, nach der ich arbeiten kann, und dann nach Abkürzungen zu suchen. Jede meiner Ausstellungen funktioniert nach dem Prinzip. Ich plane, als hätte ich alles Geld, alle Zeit und alle Ideen der Welt aber handele in vernünftigem, den beschränkten Ressourcen angepasstem Rahmen.
Trotzdem rinnt die Zeit und tickt die Uhr tickitick tickitick tickitick tack tack.
Kurz vor der Schlucht des Vergessens, die ich alltäglich durchquere auf meinem Weg zur Arbeit, erstelle ich eine Prioritätenliste, um die wichtigen Erledigkeiten von den unwichtigen Erledigkeiten zu unterscheiden, komme dabei zu dem Schluss, dass das, was am wichtigsten ist wegen widriger Umstände ganz nach unten auf der Liste gerutscht ist: ICH steht als letzter Posten darauf. Und davor kommen Loungemöbel, die Homepages für eine Galerie, einen Künstler, eine Busgesellschaft. Aber Geld ist doch auch wichtig, schreit etwas in mir. Hallt wie Echo in der Schlucht des Vergessens.
Manchmal wünsche ich mir, ein friedlicher Loungemöbelbauer zu sein, der nur diese eine Funktion ausübt und ansonsten das Leben genießt. Ein Mensch mit Feierabend ohne Flausen im Kopf. Als Künstler ist man 24 Stunden am Tag im Dienst. Vielleicht ist das noch nicht einmal übertrieben, denn oft nimmt man die alltäglichen Kreativdinge und den Hick-Hack der Selbständigkeit mit in die Träume. Sich hin und her wälzend, ohne sich morgens zu erinnern, was man im Traum abgearbeitet hat.
Mit einer Prioritätenliste, auf der zuoberst 37 schneeweiße Loungemöbel für einen Tabakkonzern stehen, steuere ich auf die Zielgerade zur Werkstatt. Die Straße führt nach Süden. Hochnebel hängt über der Stadt und am Horizont versucht sich die Sonne durchzukämpfen. Fast wie früher, als ich durchs Rhonetal Richtung Marseille radelte: ein heller Streifen hängt im Süden. Ein Weg Richtung Licht. Es macht Mut, sich daran zu erinnern und den Geschmack eines dampfenden Alpenflusses bei plus drei Grad zu vermuten, wie er in der Nähe von Valence beinahe schon in die Rhone mündet.

Ein Traumfetzen der letzten Nächte zeigt moimême in düsterer Szene auf einem Segelboot auf einem Ozean. Dämmerung und Sturm. Ich glaube, das Boot war im Begriff zu sinken, als ich erwachte und mir sagte, das ist eine erstrebenswerte Szene für die eigene Zukunft, auf die man hinarbeiten könnte. Selten stelle ich mir vor, wie mein Leben enden könnte. Die Idee im Pazifik zu versinken gefällt mir. Ich sollte einen Segelkurs belegen.

Ich spähe nach einer Abkürzung.