Das Über-die-Schulter-guck-Prinzip der modernen Literatur?

War neulich so ein bisschen der Gesang in der Bloggosphäre, dass mehr und mehr Weblogs mit Passwörtern verschlüsselt werden und somit nur noch einem erlauchten Kreis zugänglich sind.

Eine Sache, die dem WordPress-Nutzer egal sein kann, weil er grundsätzlich zweigleisig fährt. Wir WordPresser können Texte je nach Belieben der Öffentlichkeit zeigen oder nicht. Ein Hoch auf die Benutzerverwaltung.

Auch im Irgendlink-Blog wächst der Anteil der nicht veröffentlichten Texte.

Grund ist, dass ich die alten Tagebücher von vor zehn 15 Jahren wieder gefunden habe und die Diskrepanz zwischen Schreiben einfach so zum Spaß und Schreiben mit der Gewissheit, jemand schaut dir dabei über die Schulter bemerkt habe. Kein Mensch durfte die alten Tagebücher lesen, das war während des Schreibens sonnenklar.
Bloggen funktioniert nach dem Über-die-Schulter-guck-Prinzip. Auch das ist während des Schreibens klar.
Das hat zur Folge, dass man anders schreibt, als man es tun würde, wenn man wüsste, niemand liest die Texte (zunächst).

Im Hinblick auf die neue Ehrlichkeit und weil es mir unmöglich scheint, Texte per Hand zu schreiben, habe ich das Weblog um eine Privat-Komponente bereichert.

Die neue Ehrlichkeit. Wie das klingt. Dabei bewahre ich nur ein uraltes Gut. Etwas, was immer da war, etwas, wozu immer die Chance bestanden hat. Vieles ist anders gelaufen in den letzten Jahren, vieles wurde nicht geschrieben, obwohl es gut gewesen wäre, aber da war ja das Gefühl, sie schauen dir über die Schulter. Und für eine zweite Version, oder eine parallele Welt war nicht genug Zeit und/oder Energie.

Mag sein, dass dieser Über-die-Schulter-guck Beitrag, den Ihr gerade lest, ein bisschen so geschrieben ist, als wäre er privat …  ein Kratzen am Mythos freie Schreibe?
Auf der Europenner-Seite rekonstruiere ich zwei alte Reisetagebücher: Die Straße nach Gibraltar (2000) und Mediterranes Geheimnis (1992/93). Das läutert mich, meine Art zu schreiben nicht verkommen zu lassen, eine größere Disziplin an den Tag zu legen auf der einen (öffentlichen, hier im Weblog lesbaren) Seite, sowie eine seiltänzerische Leichtigkeit in der anderen, nicht öffentlichen Tagebuchschreiberei zu pflegen. (Die unveröffentlichten Texte sind der Bausparvertrag, mit dessen Hilfe in Zukunft – was auch immer – ein großes dickes, echtes, gedrucktes Buch entsteht).
Frappierend finde ich, dass die beiden o. g. Reisen, sehr wichtige und einschneidende Erlebnisse in meinem Leben sind. Sie liegen im zeitlichen Abstand von sieben Jahren. Der SiebenJahresTurnus kehrt dieses Jahr wieder. Ein Fall für die Zahlenmystik.

Ich möchte dieses Jahr zu einer ähnlichen Reise aufzubrechen, Fahrradtour, alleine.

Wäre gut, den Kopf auf diesem Wege wieder ein bisschen zu klären.

Wenn in China ein Sack Reis hustet, kriegen Afrikaner Kreuzschmerzen

Kaffee, verschluckt, löst einen Hustenreiz aus, aber ungehemmtes Husten ist nicht gut, weil das aufs marode Kreuz geht. Eine Feststellung, die man unter Schmerzen macht. Jedoch rege genug im Hirn, um einen philosophischen Seitensprung zu riskieren.

Dass nämlich die Dinge viel zusammenhängender sind, als man denkt. Das Kreuz, würde man meinen, ist ja ganz weit unten im Körper und die Lunge, die ist ziemlich oben. Wenn man also hustet, sollte das das marode Kreuz nicht allzu sehr beanspruchen.

Denkste.
Vom eigenen Körper ist es rein gedanklich nicht sehr weit bis zur großen weiten Welt und so könnte die leichtfüßige philosophische Sonntagspredigt lauten: Wenn in China ein Sack Reis hustet, kriegen Afrikaner Kreuzschmerzen oder Amerikaner werden dick oder Europäer fallen in Depression und so weiter und so fort.

Gestern Buch schmökernd im Hochbett unter dem alten Dachfenster gelegen und über das Wohlfühlen nachgedacht, wie einfach es doch ist. Gegen 17 Uhr war ich versucht, Licht einzuschalten, denn die Buchstaben verschwammen. Ein Regenschauer ging nieder, was romantisch ist unter der Dachschräge. Ich verzichtete aufs Licht und rückte näher ans Fenster, damit es sich so anfühlt wie unterwegs im Zelt irgendwann vor Jahren, als man Schlechtwetterperioden damit verbrachte ein Buch zu lesen.

Der Himmel graut. Die Nacht naht. Draußen liegt das Ungewisse.

Der Kopf ist gepflastert mit den Steinen einer fremden Phantasiewelt, nicht unähnlich, der realen Welt, die man gerade auf seiner langen Reise durchquert.

Vielleicht ist Buchlesen dem Reisen verwandt? Gegenwärtig hängt man zwischen dem Unbekannten, was noch vor einem liegt und einer mehr oder weniger ordentlichen Schichtung aus Erinnerungen, die mit jedem Meter (resp. Buchseite) ungenauer, blasser, surrealer wird.

Land des vertikalen Lächelns

(aus einer schweinischen Comicserie bei MTV)

… ein OneNightStand mit dem Gewissen

(Life on Mars, Folge Neun oder Elf)

Die Realität ist eine haarsträubend antastbare Annahme.

Mal wieder ins Logbuch kritzeln. Über Kopf hängend, das Lied von der weiten Welt singend und jene Nacht verfluchend, in der man in einem Anflug jugendlichen Übermuts mit bloßen Lenden im Bett lümmelte – eine fatale Sache in einer Wohnung ohne Zentralheizung. Über dem friedlich Schlafenden kühlt die Luft unbemerkt, was den Lenden nicht bekommt, oh erbärmlicher Schmerz.

Egal. Was sonst passiert?
Nächtens unter Sternen von Haus zu Haus unterwegs und mich daran erfreut, dass der Himmel mitläuft, das heißt, die Sterne sich scheinbar keinen Millimeter bewegen, während man sie anstarrt in pechschwarzer Nacht. Die Häuser jedoch ziehen wie Kulissen.

Später verfocht eine Kaffeerunde, dass Früher alles besser war und man die Kinder noch getrost draußen im Dreck spielen lassen konnte, ohne sich darum zu sorgen, ein Kinderschänder könnte sie holen. Ich hielt entgegen, „das Einzige was sich geändert hat, ist die Berichterstattung. Es wird mehr berichtet, intensiver, näher und somit scheinen die Dinge, über die berichtet wird auch gefährlicher, größer und gemeiner. Aber im Grunde,“ mutmaßte ich, „hat sich nichts geändert.“

Wohl wissend, dass ich mich mit meinen Behauptungen auf ähnlich dünnem Eis bewegte, wie die Kaffeerunde, es somit nur ein einziges Fazit gibt: wir Menschen glauben zu wissen, wissen aber nicht und im Kopf nehmen Dinge Gestalt an in einer verzerrten Weise – warum nur erscheint einem so vieles real, was nach rein objektiver Sichtweise ungeprüft und indifferent ist?

Der Künstler M., ein angenehmer Mensch mit sehr guten Ideen, kam mir in den Sinn, von dem ich bis vor einer Woche noch sicher war, er lebt, jaja, das war meine Realität. Ich müsste nur anrufen oder eine Mail schreiben und wir könnten dies und das besprechen. Er ist am 13. März 2005 gestorben.

Zurück zu den Sternen, die so wunderbar harmonisch mitlaufen. Wenn man luftguckend durch die Nacht spaziert, kann einem mitunter in den Sinn kommen, Dies oder Das steht in den Sternen, aber das ist auch nur eine fiktive Annahme, die einem das Leben ein bisschen erleichtert.